Menschenrechtsverletzungen auch in Münchner Kliniken?
Anfrage damaliger Stadtrat Dr. Florian Vogel (Fraktion Bündnis 90/Die Grünen/Rosa Liste) vom 4.3.2014
Antwort Joachim Lorenz, Referent für Gesundheit und Umwelt:
Der Anfrage von Herrn Dr. Vogel liegt folgendes Anliegen zu Grunde:
„Von einer Patientin wurde mir berichtet, dass sie während ihres geschlossenen stationären Aufenthaltes im Isar-Amper-Klinikum in Schwabing mehrmals über teilweise mehrere Stunden fixiert wurde. Einmal wurde die Patientin dabei von mehreren Mitarbeitern zu Boden gedrückt und ihr Arm gewaltsam auf den Rücken gedreht. Selbst- oder fremdgefährdendes Verhalten lag jeweils nicht vor. Auch Medikamente zur Beruhigung wurde der Patientin während der Fixierungsmaßnahmen teilweise verwehrt. Eine begleitende Psychotherapie fehlte während des gesamten etwa zehntägigen Aufenthaltes. Die Behandlung beschränkte sich dabei lediglich auf den Wechsel von Medikamentengabe, Zwangsmaßnahmen und Drohungen
mit entsprechenden richterlichen Beschlüssen. Im vom Bezirk Oberbayern getragenen Isar-Amper-Klinikum scheinen derartige Vorfälle System zu haben:
So berichtete die Süddeutsche Zeitung am 13. und 17. Februar 2014, dass in der ebenfalls zum Isar-Amper-Klinikum gehörigen Frauenforensik Taufkirchen insgesamt 18 Patientinnen über einen Zeitraum von 20 Monaten 9813 Stunden fixiert worden seien – je Maßnahme für durchschnittlich 29 Stunden. In einem konkreten Fall wurde eine Frau 60 Tage (!) ununterbrochen ans Bett gefesselt.
Diese Art der Behandlung psychisch Kranker erinnert an ein mittelalterliches Sanktionssystem, nicht an eine den Grundsätzen von Humanität und Wissenschaftlichkeit verpflichtete Psychiatrie, die in einem aufgeklärten Europa Standard sein sollte.
Bislang fehlt eine systematische Statistik zum Umgang mit Zwangsmaßnahmen. Neben einem modernen „Psychisch-Kranken-Hilfegesetz“ statt eines reinen Maßregelvollzugsgesetzes und einer Ombudsstelle für psychisch Kranke fordern die Grünen im Bayerischen Landtag deshalb nun ein entsprechendes Landesregister. Es soll als Grundlage für die Meldungen von Fixierungen und Zwangsmedikationen dienen, um bei Problemen Beratung und Hilfe anbieten zu können.“
Herr Oberbürgermeister Ude hat mir Ihre Anfrage zur Beantwortung zugeleitet. Zunächst bedanke ich mich für die Fristverlängerung und kann jetztdie einzelnen Punkte Ihrer Anfrage, unter Berücksichtigung einer Stellungnahme des Sozialreferats, wie folgt beantworten:
Frage 1:
Wurden in dem eingangs geschilderten Fall Behandlungsgrundsätze und Persönlichkeitsrechte verletzt?
Antwort:
In der Stadtratsanfrage vom 04.03.2014 wird der Behandlungsverlauf einer psychisch erkrankten Patientin aus ihrer subjektiven Sicht geschildert. Dass dieser Bericht geeignet ist, Fragen nach der Verhältnismäßigkeit der genannten Maßnahmen aufzuwerfen, ist sehr verständlich. Dieser Schilderung ist jedoch nicht zu entnehmen, in welchen Situationen und warum diese Maßnahmen wohl so ergriffen wurden wie berichtet. Ob in diesem Fall Behandlungsgrundsätze oder Persönlichkeitsrechte verletzt wurden, kann deshalb fachlich wie rechtlich nicht beurteilt werden. Auch ist eine eingehendere Bewertung ohne Kenntnis der Patientenakte oder eine Stellungnahme der handelnden Personen nicht möglich. Und selbst bei Kenntnis aller Umstände sind unterschiedliche Einschätzungen möglich.
Frage 2:
Sind der Stadtverwaltung ähnliche Fälle in stationären Einrichtungen in München bekannt?
Antwort:
Der Bezirk Oberbayern hat den gesetzlichen Auftrag die stationäre psychiatrische Versorgung in Oberbayern sicherzustellen. Die Behandlung der Patientinnen und Patienten erfolgt weitgehend durch das Kommunalunternehmen der Kliniken des Bezirks Oberbayern (KU-kbo).
Die Entscheidung über Zwangsmaßnahmen wie z.B. eine Fixierung oder das Anbringen eines Bettgitters, wird im konkreten Fall durch eine Betreuungsrichterin/einen Betreuungsrichter getroffen.
Die Landeshauptstadt München bzw. die Städtische Klinikum München GmbH sind nicht Träger von psychiatrischen Stationen oder Kliniken und haben daher keine Informationen über die psychiatrische Versorgung in eigener Trägerschaft. Das Referat für Gesundheit und Umwelt (RGU) verfügt nicht über Daten zu Zwangsbehandlungen und Zwangsmaßnahmen in der stationären Behandlung psychisch erkrankter Menschen in München. Bitte beachten Sie zu dieser Frage auch die Antwort des Sozialreferates unter Frage 4.Frage 3:
Hat die Stadt München in diesem Fall Kontrollrechte gegenüber dem Isar-Amper-Klinikum?
Antwort:
Das Isar-Amper-Klinikum ist eine eigenständige Klinik des Kommunalunternehmens Kliniken des Bezirks Oberbayern (KU-kbo) und betreibt die psychiatrische Klinik auf dem Gelände des Klinikums Schwabing eigenständig. Es bestehen keine Kontrollrechte seitens der Landeshauptstadt München.
Frage 4:
Liegen der Stadtverwaltung Daten über Anzahl und Dauer von Zwangsmaßnahmen in psychiatrischen Kliniken in München vor?
Antwort:
Diese Frage wurde durch die Betreuungsstelle des Sozialreferates wie folgend beantwortet:
„Grundlage für die Anordnung von Zwangsmaßnahmen in psychiatrischen Kliniken können das Betreuungsgesetz bei bestehender Selbstgefährdung oder das bayerische Unterbringungsgesetz sein.
Jede Zwangsmaßnahme nach dem Betreuungsrecht, die gegen den Willen einer Person regelmäßig oder über einen längeren Zeitraum in einer psychiatrischen Klinik in München durchgeführt wird, muss vom Betreuungsgericht genehmigt werden.
Ausnahmen sind einmalige ‚Schutzmaßnahmen’, die aus einer akuten Gefährdung resultieren und nicht auf Dauer angelegt sind bzw. Maßnahmen gegen Untergebrachte, wenn dies zur Durchführung des Art. 12 Abs. 1 und 2, des Art. 13 oder von Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung nach dem Bayerischen Unterbringungsgesetz in der Einrichtung erforderlich sind.
Hat das Betreuungsgericht eine freiheitsentziehende Maßnahme (FeM) genehmigt, muss der rechtliche Vertreter, der die entsprechenden Aufgabenkreise vom Betreuungsgericht oder in einer gültigen Vollmacht zugewiesen bekommen hat, in die einzelne Maßnahme einwilligen und die weitere Erforderlichkeit laufend kontrollieren.
Das Betreuungsgericht München erhebt lediglich die Zahlen der Unterbringungsverfahren nach § 1906 Abs.1 BGB (Unterbringung in einer geschlos-senen Abteilung eines Krankenhauses oder Heimes) und § 1906 Abs. 4 BGB (freiheitsentziehende Maßnahmen = FeM, Beschränkung der Freiheit durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise) in seinem Amtsgerichtsbezirk.
Im Jahr 2013 waren es danach 2.906 Verfahren, in denen eine Unterbringung nach §1906 Abs. 1 BGB genehmigt, und 170 Verfahren, in denen sie abgelehnt wurde. In 869 Verfahren wurden FeM nach §1906 Abs. 4 BGB genehmigt und in 73 Verfahren abgelehnt.
Das Betreuungsgericht München unterscheidet nicht, ob es sich um eine Unterbringung in einer Abteilung einer Klinik oder eines Heimes handelt.
Die Beschlüsse des Betreuungsgerichts zu Unterbringungen und FeM nach dem Betreuungsgesetz werden der Betreuungsstelle zur Kenntnis übersandt und von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Betreuungsstelle insbesondere auf die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen
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zur Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit und Dauer einzelner Maßnahmen überprüft. Die Betreuungsstelle als zuständige Behörde hat ein Beschwerderecht.
Zu den genannten Zahlen kommen noch die Zahlen der Unterbringungen nach dem Bayerischen Unterbringungsgesetz und den daraus resultierenden Maßnahmen, die uns nicht vorliegen.
Für die seit 26.02.2013 geltenden gesetzlichen Bestimmungen zur ärztlichen Behandlung gegen den natürlichen Willen einer betreuten Person (Zwangsbehandlung) liegen uns keine Zahlen vor.
Eine Aufstellung über die Dauer und Anzahl der einzelnen durchgeführten genehmigten Maßnahmen liegt uns ebenfalls nicht vor.
Eine vollständige Erhebung der Zahlen von Zwangsmaßnahmen in psychiatrischen Kliniken könnte letztendlich nur von den Einrichtungen selbst erstellt werden.“
Frage 5:
Findet seitens der Stadtverwaltung ein Austausch mit den Trägern der psychiatrischen Kliniken statt?
Antwort:
Seitens der Koordination für Psychiatrie und Suchthilfe im Referat für Gesundheit und Umwelt (RGU), findet ein Austausch mit Vertreterinnen und Vertretern der psychiatrischen Kliniken in München u.a. in der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft München (PSAG)/AK Psychiatrie des Gesund-heitsbeirats der LH München statt. An dieser Arbeitsgemeinschaft nehmen sowohl Vertreterinnen/Vertreter/Delegierte der stationären Pflichtversorgung (KU-kbo) sowie der Einrichtungen für Wissenschaft und Forschung (Max-Planck-Institut, Klinikum rechts der Isar, Psychiatrische Klinik der LMU) teil. Aktuelle Themen aus der Versorgung werden teilweise in speziellen Arbeitsgruppen aufgegriffen. Ein direkter fachlicher Austausch der Stadtver waltung mit den Trägern bzw. Gesellschaftern der psychiatrischen Kliniken findet nicht statt.
Frage 6:
Wenn ja: Gibt es Bemühungen seitens der jeweiligen Krankenhausträger Alternativen für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen zu finden?
Antwort:
Siehe Antwort Frage 7.
Frage 7:
Liegen der Stadt München Erkenntnisse über geplante Gesetzesänderungen zur Abschaffung dieser inhumanen Behandlungspraxis vor?
Antwort:
Die Koordination für Psychiatrie und Suchthilfe im RGU setzt sich auf unterschiedlichen Ebenen für die Einführung eines Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes in Bayern ein, welches zu einer Verbesserung der Versorgung psychisch erkrankter Menschen beitragen soll.
Die Koordination arbeitet hier mit der Stadtverwaltung aus Nürnberg zusammen, die mit München das Thema aktiv im Bayerischen Städtetag vertritt. Aktuell wurde in der letzten Sitzung des Gesundheitsausschusses des Bayerischen Städtetages erneut die Einführung eines Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes in Bayern gefordert. Dieses Anliegen wird von der Koordination für Psychiatrie und Suchthilfe im Auftrag des Bayerischen Städtetages auch im „Expertenkreis Psychiatrie“ des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vertreten.
Darüber hinaus beteiligt sich die Koordination an verschiedenen Arbeitsgruppen und Initiativen zur Reduktion von Unterbringungen und Zwangsbehandlungen psychisch erkrankter Menschen.
Auf Stadtebene wurde bereits Mitte 2010 ein Unterarbeitskreis der PSAG München zum Thema „Unterbringung und gesetzliche Betreuung“ gegrün-det. Dieser Arbeitskreis hat zum Ziel, die an der Thematik Beteiligten zu vernetzen, das Bewusstsein für die Problematik zu vertiefen und fehlende bzw. unzureichende Angebote für die Zielgruppe zu verbessern.
In diesem Arbeitskreis engagieren sich auch Vertreterinnen und Vertreter der stationären Versorgung, um sich aktiv mit dem Thema „Unterbringung und Zwangsmaßnahmen“ auseinander zu setzen und auch Alternativen zum Umgang mit Patientinnen und Patienten in Ausnahmesituationen zu überlegen bzw. zu diskutieren. Ein Fachtag im Frühjahr 2012, veranstaltet von der PSAG, dem Isar-Amper-Klinikum München-Ost, dem RGU und
dem Sozialreferat stellte die Datenlage vor und arbeitete intensiv und multiprofessionell an Alternativen zu Zwangsmaßnahmen im weiteren Sinn. Die damals aktuellen Gerichtsurteile zu Zwangsbehandlungen bei psychischen Erkrankungen wurden in die Diskussion einbezogen. Eine Forderung des Fachtages ist neben dem Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes auch die trägerübergreifende Dokumentation von Unterbringungen und Zwangsbehandlungen.
In der stationären psychiatrischen Behandlung wird das Thema „Zwangsbehandlung und Zwangsmaßnahmen“ intensiv unter den dort Beschäftigten und Verantwortlichen diskutiert. Als ein Hinweis auf Änderungen im Umgang mit den Patientinnen und Patienten ist die Zunahme an Trainingsmaßnahmen z.B. zum Thema „Deeskalation in schwierigen Situationen“ zu werten.
Frage 8:
Unterstützt die Stadtspitze die Einführung eines Landesregisters zur Erfassung von Zwangsmaßnahmen und – medikation in stationären Einrichtungen?
Antwort:
Die Landeshauptstadt München unterstützt die Einführung eines Psychisch-Kranken-Hilfegesetzes, wie oben beschrieben. Derzeit liegt ein Gesetzesvorschlag aus Nürnberg vor, der u.a. die Einführung eines Melderegisters für freiheitsentziehende und andere Zwangsmaßnahmen fordert. Der Vorschlag für ein Modellprojekt, in dem eine solche Dokumentation aufgebaut und erprobt werden könnte, wurde auch durch das RGU im Expertenkreis Psychiatrie des Bayerischen Ministeriums für Gesundheit und Pflege erarbeitet und vertreten; bisher wird diese Initiative von der Landesregierung nicht aufgegriffen.Ergänzend beantwortet das Sozialreferat diese Frage wie folgend: „Die Betreuungsstelle setzt sich seit Langem für ein Psychisch-Kranken-Hilfegesetz (PKHG) ein. Wir unterstützen die Anstrengungen die Bedingungen, unter denen psychisch kranke Menschen behandelt werden, zu verbessern. Daher unterstützen wir auch die Forderung nach einem Landesregister als Grundlage für die Erhebung von Fixierungen und Zwangsmedikationen.
Im Rahmen des Maßnahmeplans zur UN-Behindertenrechtskonvention
der Stadt München wird die Betreuungsstelle ab 2015 in einem 3-jährigen Projekt in Zusammenarbeit mit dem Betreuungsgericht Vorschläge erarbeiten, wie Maßnahmen, die die Würde und Selbstbestimmung der Betroffenen einschränken, vermieden werden können.“
1Normen: § 1906 BGB und § 312 ff. FamFG