Stadt München distanziert sich von Erinnerungs-Unkultur
Antrag Stadträtin Brigitte Wolf (Die Linke) und Tobias Ruff (ÖDP) vom 11.8.2014
Antwort Oberbürgermeister Dieter Reiter:
In Ihrem Antrag thematisieren Sie die Gedenktafel an den „Deutschen Reichskriegertag 1929“ am Rathaus und baten um Erstellung einer Quellensammlung zum „Reichskriegertag“ und zu einzelnen Aspekten der Gedenktafel, um Darstellung der Bedeutung der Veteranenverbände sowie um Organisation einer Tagung zum Umgang mit der Gedenktafel. Der Intention des Antrags wurde bereits entsprochen bzw. es haben schon entsprechende Initiativen stattgefunden. Ihr Einverständnis vorausgesetzt, antworte ich Ihnen in dieser Form.
Zu Ihrem Antrag vom 11.8.2014 teile ich Ihnen Folgendes mit:
1. Quellensammlung (Ziffer 1 des Stadtratsantrags)
Die Zusammenstellung einer Quellensammlung zum „Reichskriegertag“ durch das Stadtarchiv erübrigt sich, da die von Ihnen gestellten Fragen durch entsprechende Vorarbeiten und Recherchen bereits beantwortet sind. Über die einschlägige Forschungsliteratur ist zudem bereits hinlänglich nachgewiesen, dass die Präsenz von Wehr- und Veteranenverbänden ein fester Bestandteil des öffentlichen Lebens der 1920-er und frühen 1930-er Jahre und Teil der politischen Kultur der Weimarer Republik war. Der „Deutsche Reichskriegerbund ‚Kyffhäuser’“
bildete neben dem
deutsch-nationalen „Stahlhelm,
Bund der Frontsoldaten“ und dem sozial-
demokratisch geprägten „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“
, „Bund deut-
scher Kriegsteilnehmer und Republikaner“ den dritten und gleichzeitig mitgliederstärksten Wehr- und Veteranenverband der Weimarer Republik. Im Jahr 1929 waren im „Deutschen Reichskriegerbund ‚Kyffhäuser’“ mehr als 29.000 Kriegervereine mit weit über 2,5 Mio. Mitgliedern zusammengeschlossen. Von den Mitgliederzahlen vergleichsweise nachrangig war der der KPD nahestehende paramilitärische „Rote Frontkämpferbund“. Die nationalsozialistische „SA“ entwickelte sich erst Ende der 1920-er Jahre zu einer Massenorganisation.
Durch seine überparteiliche Stellung einerseits, durch seine klare „vaterländische Ausrichtung“ andererseits, war der „Deutsche Reichskriegerbund ‚Kyffhäuser’“ auch über die Parteigrenzen hinweg im bürgerlichenLager anschlussfähig. Dies zeigt sich – für München – bereits während der Sondierungsgespräche zur Vorbereitung des „Reichskriegertages 1929“ zwischen Vertretern des „Kyffhäuserbundes“ und der Münchner Stadtspitze im Oktober 1928. Für Oberbürgermeister Karl Scharnagl war der „Kyffhäuserbund
“ „politisch durchaus neutral“; einer städtischen Un-
terstützung des „Reichskriegertages“ stand aus Scharnagls Sicht nichts entgegen. In einer Vormerkung Scharnagls vom 12. Oktober 1928 über ein Gespräch mit Repräsentanten des „Kyffhäuserbundes“ findet sich der Hinweis: „Ich habe mit Rücksicht auf die betonte und einwandfreie, feststehende Neutralität der Organisation bestmögliche Förderung zugesagt.“ Beim in München abgehaltenen „Reichskriegertag 1929“ wurde die überparteiliche Wertschätzung des „Kyffhäuserbundes“
im bürgerlich-konser-
vativen Lager durch die Anwesenheit hochrangiger Vertreter der Bayerischen Staatsregierung (Ministerpräsident Heinrich Held und Innenminister Karl Stützel, beide BVP) sowie des Wittelsbacher Kronprinzen Rupprecht unterstrichen. Für die Landeshauptstadt war der „Reichskriegertag“
ein
Großereignis, das von der Stadtspitze begrüßt und befür wortet wurde.
Die Entscheidung zur Anbringung einer Gedenktafel an den „Reichskriegertag“
erfolgte am 3. Juli 1930 im Hauptausschuss des Stadtrats in geheimer Sitzung. Eingebracht hatte den Antrag der dem „Kyffhäuserbund“ angeschlossene „Bayerische Kriegerbund“, der 1928/29 auch den „Reichskriegertag“ verantwortlich organisiert hatte. Von zwölf stimmberechtigten Ausschussmitgliedern votierten nach kurzer Diskussion sieben für die Tafel. Weder gegen den „Reichskriegertag“ als solchen noch gegen den Tafeltext wurden Einwände vorgebracht. Die Ablehnung der Tafel bei einzelnen Stadträten folgte allein pragmatischen Überlegungen und wurde mit der Sorge begründet, dass nun auch andere Organisationen Ansprüche auf die Anbringung von Tafeln anmelden würden. Der ehemalige Bürgermeister und SPD-Fraktionsvorsitzende Eduard Schmid argumentierte: „Es kommt dann eine Organisation nach der anderen und will eine Gedenktafel aufstellen und damit sinkt der Wert aller bisher aufgestellten Erinnerungstafeln. Was zuviel ist, wird ungesund.“ Da der zuständige 2. Bürgermeister Küfner dem „Bayerischen Kriegerbund“
voreilig im Büroweg bereits eine
Zusage gegeben hatte, und um einen Gesichtsverlust der Stadtver waltung zu vermeiden, entschied sich der Hauptausschuss trotz der Einwände mit knapper Mehrheit für die Tafel. Sie wurde vermutlich Ende 1930 oder Anfang 1931 angebracht.
Der Umstand, dass die Tafel lediglich formal, aber nicht inhaltlich in Frage gestellt wurde, ist erklärungsbedürftig: Wie die Uniformierung der Gesell-schaft und die breite Akzeptanz militaristischer Werte und soldatischer Tugenden gehörte auch die Würdigung „vaterländischer Gesinnung“ zum selbstverständlichen Kanon, der die politische Kultur der 1920-er Jahre prägte. Pazifismus und Friedenssehnsucht waren durch den „Schandfrieden von Versailles“ diskreditiert.
Fackelzüge von Uniformierten, revanchistische Appelle und chauvinistische Reden an symbolträchtigen Orten (etwa am Münchner Kriegerdenkmal im Hofgarten oder auf dem Königsplatz) gehörten zum gängigen Repertoire einer bürgerlich-konservativen Elite und wurde von breiten Kreisen der Bevölkerung befür wortet und nicht in Frage gestellt. Daher ist auch die Anbringung einer Gedenktafel zum „Reichskriegertag“
im Münchner Rat-
haus – nach damaligen Verhältnissen – keine Normverletzung, sondern ein konsensualer Akt, der sich zweifellos einer breiten Zustimmung in der Stadtgesellschaft sicher sein konnte.
Die Frage, ob die Tafel den Zweiten Weltkrieg überstanden hat oder nach Kriegsende neu angebracht wurde, kann aufgrund der schlechten Quellenlage nicht beantwortet werden.
2. Bedeutung der Veteranenverbände (Ziffer 2 des Stadtratsantrags)
Das NS-Dokumentationszentrum teilt zu der Frage nach der Rolle der Veteranenverbände beim Aufstieg des Nationalsozialismus und der Bedeutung, die die Nationalsozialisten der Arbeit in bzw. mit den Veteranenverbänden beimaßen, Folgendes mit:
Die deutsche Kriegsniederlage, die Novemberrevolution und deren Folgen veränderten das politische Klima in Deutschland. Die Veteranen der alten kaiserlichen Armee, die sich vor allem aus der unteren Mittelschicht, dem Kleinbürger- und Bauerntum, auch Arbeitern, rekrutierten, waren zum Großteil national- bzw. rechtskonservativ eingestellt; ihr Staatsideal war obrigkeitlich und von der Sehnsucht nach Ordnung und Stärke geprägt. So stellten sich auch Mitglieder von Kriegervereinen 1919 den Einwohnerwehren zur Verfügung, die in Bayern den Regierungswechsel hin zur Rechtsregierung Gustav von Kahrs und die Ausgestaltung Bayerns zur „Ordnungszelle“ unterstützten. Nach dem Verbot der Einwohnerwehren schöpften die neu entstandenen „vaterländischen“ bzw. Wehrverbände wie der „Stahlhelm“ nicht zuletzt aus dem Reservoir der Kriegervereine, deren Mitgliedschaft jedoch keineswegs politisch homogen war. Insofern trug ein Teil der Mitglieder von Veteranenorganisationen zur Ausprägung eines spezifisch nationalistisch-völkischen Milieus bei, das den Aufstieg des Nationalsozialismus begünstigte (s. u.).Die NSDAP maß den alten Veteranen- bzw. Kriegervereinigungen als Traditionsverbänden der kaiserlichen Armee keine besondere Bedeutung bei; sie galten der jungen, „revolutionären“ NS-Bewegung als reaktionär und unpolitisch. Anders verhielt es sich mit den neuen rechten Wehrverbänden, mit denen die SA teils konkurrierte, teils das Bündnis suchte.
Zu Ihrer Frage nach der Rolle des Kyffhäuserbundes vor, während und nach der NS-Zeit teilt das NS-Dokumentationszentrum mit: Der „Kyffhäuserbund der Deutschen Landeskriegerverbände“ wurde im Jahr 1900 als Dachverband deutscher Kriegervereine auf föderalistischer Grundlage gegründet. Er widmete sich der Gefallenenehrung, militärischer Traditionspflege einschließlich des Schützenwesens und der Unterstützung von Invaliden, Witwen und Waisen. Unter der Schirmherrschaft Kaiser Wilhelms II. vertrat er deutsch-nationales, imperialistisches und antisozialistisches Gedankengut. Sozialdemokraten waren bis zum Ersten Weltkrieg von der Mitgliedschaft ausgeschlossen.
Nach Krieg und Revolution sammelte sich der Kyffhäuserbund unter den alten Vorzeichen neu. 1919 wurde Generalfeldmarschall von Hindenburg dessen Ehrenpräsident. Seine Berufung verkörperte die rückwärtsgewandte, nationalistische und militaristische Ausrichtung des Bunds. 1921/ 1922 wurde der Kyffhäuserbund zentralistisch umorganisiert und erhielt den Namen „Deutscher Reichskriegerbund Kyffhäuser“. Mit fast 3 Millionen Einzelmitgliedern und über 29.000 angeschlossenen Vereinen war er die größte Veteranenvereinigung in der Weimarer Republik.
Laut Satzung definierte sich der Kyffhäuserbund als parteipolitisch neutral. Um seine innere Einheit und seine Stellung als „unpolitischer Verband“ nicht zu gefährden, vermied dessen Führung tagespolitische Positionierungen. So sah sie aus Rücksicht auf ihr konservativ-katholisches Klientel von einer Zusammenarbeit mit DNVP und NSDAP – etwa 1929 bei deren Kampagne gegen den Young-Plan – ab, die radikale Teile der Bundesmitglieder gefordert hatten. Einzig bei der Reichspräsidentenwahl 1932 bezog der Bundesvorsitzende eindeutig Stellung und rief zur Wahl des Ehrenvorsitzenden Hindenburg auf.
Sowohl die Führung des Kyffhäuserbunds als auch die Mehrheit der in ihm zusammengeschlossenen Kriegervereine sympathisierte allerdings mit dem politischen Spektrum rechts der Mitte. Dazu gehörten die Ablehnung der Novemberrevolution und der Versailler Verträge, antirepublikanische Ressentiments und extremer Nationalismus, Militarismus und Antibol-schewismus. Durch Feiern, Wort und Schrift trug der Kyffhäuserbund zur Militarisierung der Gesellschaft bei, propagierte die „Dolchstoßlegende“ und wies die „Kriegsschuldlüge“ zurück.
Auf den seit 1925 vom Kyffhäuserbund veranstalteten Reichskriegertagen wurde die ideale „Frontgemeinschaft“ gefeiert und die Wiedererlangung deutscher Größe und Wehrhoheit propagiert, so auch 1929 in München im Beisein hoher Staatsrepräsentanten und des Kronprinzen Rupprecht. Durch die Betonung des militärischen Elements, die Bestärkung antidemokratischer Haltungen und die Werbung für revisionistische und revanchistische Ideen leistete der Kyffhäuserbund der Verbreitung von Gedankengut Vorschub, das auch die Nationalsozialisten vertraten, und beteiligte sich so mittelbar am Aufstieg der NSDAP und an der Untergrabung der Republik.
Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 folgte die Selbstgleichschaltung des Kyffhäuserbunds. Das Führerprinzip wurde eingeführt, die Vereinsvorstände wurden nazifiziert und die Selbstständigkeit der Landesverbände aufgehoben. In einem zweiten Schritt wurde der Bund der Obersten SA-Führung unterstellt, seine Jugendorganisationen in die HJ überführt. Als neuer Präsident fungierte ab 1934 Oberst a.D. Wilhelm Reinhard (1869 - 1955), ein ehemaliger Freikorps-Führer, der wegen seiner antirepublikanischen Haltung 1919 aus der Reichswehr entlassen worden und 1927 der NSDAP beigetreten war, die er 1936 - 1945 im Reichstag vertrat. Nach 1935 folgte die Anbindung an die SS, Reinhard stieg in der Folge bis zum SS-Obergruppenführer auf.
1938 wurde der Kyffhäuserbund im Zuge der Gleichschaltung aller noch bestehenden unabhängigen Kriegervereine und -verbände unter dem Namen NS-Reichskriegerbund als NS-Dachverband reorganisiert und Hitler als Oberkommandierendem der Wehrmacht unterstellt. Ein Jahr später nahm Hitler erstmals an einem Reichskriegertag teil. Heldengedenken und soldatische Traditionspflege standen nun ganz im Zeichen der NS-Bewegung, Bund und Vereine wurden in den Dienst des Regimes gestellt. Allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass die Instrumentalisierung der oft eher konservativ-reaktionär geprägten Kriegervereine im nationalsozialistischen Sinne nicht vollständig gelang. Aber auch wenn der NS-Reichskriegerbund keine NS-Kampforganisation war und das Regime ihm explizit keine politische Rolle beimaß, so trug er durch seine extrem nationalistische und militaristische Ausrichtung doch zur Stabilisierung des Systems bei.Im März 1943 wurde der NS-Reichskriegerbund Kyffhäuser im Zuge der totalen Kriegsführung auf überörtlicher Ebene aufgelöst, die Vereine bestanden jedoch zum Teil weiter und bildeten Anfang 1945 ein Reservoir für die Rekrutierung des „Volkssturms“. Mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 2 vom 10. Oktober 1945 verboten die Alliierten den NS-Reichskriegerbund, im November 1945 folgte das generelle Verbot von Kriegervereinen.
Im Zuge der westdeutschen Wiederbewaffnungsdiskussion betrieben
Wehrmachtsveteranen die Wiedergründung des Kyffhäuserbunds. 1952 erstand er als „Bund ehemaliger Wehrmachtsangehöriger und Kriegsteilnehmer, ihrer Angehörigen und Hinterbliebenen“ neu. Der ehemalige „Reichskriegerführer“ General a.D. Reinhard wurde erster Nachkriegspräsident. 1953 wurde in München der „Bayerische Kameradschaftsbund im Kyffhäuserbund“ gegründet (1957 „Bayerischer Soldaten- und Kriegerbund“). Als Rechtsnachfolger des ehemaligen NS-Reichskriegerbunds erhielt der Kyffhäuserbund sein Vermögen zurück.
In seiner Satzung von 1952 bekannte sich der Kyffhäuserbund zum Grundgesetz und verpflichtete sich zur Überparteilichkeit, wobei ein nationalkonservativer Grundkonsens vorherrschte. Neben seinen traditionellen Aufgaben galt sein Streben der Hebung des Ansehens des Soldatentums in der bundesdeutschen Gesellschaft und der Propagierung der westdeutschen Wehrbereitschaft und der deutschen Wiedervereinigung, verbunden mit einem strikten Antikommunismus. Wie andere soldatische Traditionsvereine trug der Kyffhäuserbund damit zur Verbreitung des Mythos der „sauberen Wehrmacht“ bei. Seine alte Bedeutung als Gesamtvertretung aller Kriegervereine und -verbände erreichte er nach 1945 nicht mehr.
Heute hat der Kyffhäuserbund, seit langem von ehemaligen Bundeswehroffizieren angeführt und eng mit der CDU verflochten, ca. 100.000 Mitglieder in 1.500 „Kameradschaften“, die sich vor allem dem Sportschießen widmen. Ein bayerischer Landesverband existiert derzeit nicht.
3. Tagung (Ziffer 3 des Stadtratsantrags)
Das Münchner Stadtmuseum ist gerne bereit, den Saal des Museums im 1. Quartal 2015 für eine Veranstaltung in Bezug auf die „Gedenktafel an den Deutschen Reichskriegertag 1929“ zur Verfügung zu stellen. Das Haus sieht sich allerdings nicht in der Lage, diesen Termin organisatorisch und finanziell durchzuführen. Unabhängig davon ist sich das Stadtmuseumder Tatsache bewusst, dass die Tafel im Durchgang des Rathauses zu problematisieren ist.
Von den vorstehenden Ausführungen bitte ich Kenntnis zu nehmen und gehe davon aus, dass die Angelegenheit damit abgeschlossen ist.