Medizinische Versorgung von Wohnungslosen in München?
Anfrage Stadtrats-Mitglieder Dr. Wolfgang Heubisch, Dr. Michael Mattar, Gabriele Neff, Thomas Ranft und Wolfgang Zeilnhofer (Fraktion FDP – HUT) vom 30.1.2017
Antwort Sozialreferentin Dorothee Schiwy:
Bitte entschuldigen Sie die verspätete Beantwortung Ihrer Anfrage.
In Ihrer Anfrage vom 30.1.2017 führen Sie Folgendes aus:
„Wohnungslose Menschen leiden ganz besonders unter Kälte und Minusgraden. Oft sind Erkrankungen, Erfrierungen und Verletzungen mit speziellem Behandlungsbedarf die Folge. In Hamburg wurde eine Klinik für wohnungslose Menschen mit spezifischem Behandlungsbedarf eingerichtet. Dies ist bislang die einzige Klinik dieser Art in Deutschland. Wir fragen nun, nach der ambulanten und stationären Versorgung von wohnungslosen Menschen in München.“
Zu Ihrer Anfrage vom 30.1.2017 nimmt das Sozialreferat im Auftrag des Herrn Oberbürgermeisters im Einzelnen wie folgt Stellung:
Frage 1:
Wie ist die medizinische Versorgung von wohnungslosen Menschen in München geregelt? Welche ambulanten und stationären Behandlungsmöglichkeiten in Krankenhäusern und Arztpraxen sind vorhanden?
Antwort:
Grundsätzlich steht wohnungslosen krankenversicherten Menschen das reguläre medizinische Versorgungssystem zur Verfügung (zu den nicht krankenversicherten Personen siehe Frage 2). Das Ziel des Sozialreferates wie auch des Referates für Gesundheit und Umwelt und der freien Träger der Wohnungslosenhilfe ist immer die möglichst weitgehende Integration wohnungsloser Menschen in die regulären Angebote und nicht der Aufbau von Parallelstrukturen. Die Erfahrungen zeigen jedoch, dass wohnungslose Menschen Hemmungen haben, reguläre Arzt- oder Zahnarztpraxen aufzusuchen. Weiterhin hat für wohnungslose Frauen und Männer die eigene Gesundheit und das Aufsuchen einer Arztpraxis keine Priorität, weil die psychosozialen Probleme und existentiellen Notlagen im Vordergrund stehen. Die Folge sind oft schwerwiegende Erkrankungen, bei denen die Gefahr einer Chronifizierung besteht. Um dies zu verhindern, wurde in München bereits vor 30 Jahren die bundesweit erste Arztpraxis für obdach- und wohnungslose Menschen eröffnet. Die Praxisräume befinden sich im „Haus an der Pilgersheimer Straße“. Im selben Haus befindet sich das Unterkunftsheim für wohnungslose Männer sowie der Soziale Beratungsdienst.
Derzeit sind in der Arztpraxis eine Ärztin und ein Arzt mit insgesamt 50 Wochenstunden, zwei Arzthelferinnen, ein Pflegehelfer und eine Krankenschwester (alle in Teilzeit) beschäftigt. Die Arztpraxis in der Trägerschaft des Katholischen Männerfürsorgevereins (KMFV) wird vom Sozialreferat bezuschusst.
In der Arztpraxis im Haus an der Pilgersheimer Straße hat außerdem der Psychiater für wohnungslose Menschen seine regelmäßigen Sprechstunden. Die Verbindung von Allgemeinmedizin und Psychiatrie in einer Praxis hat sich als sehr sinnvoll für die Versorgung der Patientinnen und Patienten erwiesen. Der Psychiater für wohnungslose Menschen ist bei der kbo-Sozialpsychiatrisches Zentrum gGmbH angestellt.
Detailliertere Informationen finden sich im Beschluss „Nachfolge allgemeinmedizinische Praxis für wohnungslose Männer und Frauen im Haus an der Pilgersheimer Straße und Psychiaterstelle zur psychiatrischen Versorgung wohnungsloser Menschen in München“, Vorlagen-Nr. 14 -20/ V 03088 vom 18.6.2015.
Neben den niederschwelligen Sprechstunden in der Praxis sind die Allgemeinmediziner 3 x wöchentlich in den Abendstunden mit dem Straßenmobil unterwegs. In Begleitung von Krankenpflegern der Barmherzigen Brüder besuchen sie die Plätze, an denen sich obdachlose Frauen und Männer aufhalten. Neben der medizinischen Versorgung vor Ort ist auch der Beziehungsaufbau und das Motivieren der Patientinnen und Patienten die Arztpraxis aufzusuchen und Übernachtungsangebote anzunehmen ein wesentlicher Teil der Arbeit des Straßenmobils.
Nachfolgend eine Auflistung aller niederschwelligen ambulanten Angebote für (obdach-/wohnungslose) Menschen mit und ohne Krankenversicherung in München:
-Allgemeinmedizinische Praxis im Haus an der Pilgersheimer Straße und Straßenambulanz:
in 2015: 914 Patientinnen und Patienten mit 6.645 Behandlungen; 91 % Männer und 9 % Frauen; 58 % nicht-deutsche und 42 % deutsche
Patientinnen und Patienten; Durchschnittsalter der Patienten: 48 Jahre
-Arztpraxis im Haneberghaus/Benediktinerabtei St. Bonifaz in der Karlstraße 34: Finanzierung aus Spendenmitteln und Eigenmitteln des Klosters; in 2015 über 5.000 Behandlungen an 1.750 Patienten; 79 % Männer; 21 % Frauen; 38 % der Patientinnen und Patienten mit deutscher und 62 % mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit; 54 % mit Krankenversicherung oder SGB XII-Krankenschein und 46 % nicht-versicherte Patienten; Durchschnittsalter der Patienten: zwischen 40 und 60 Jahren
-Malteser Migranten Medizin in der Streitfeldstraße 1 für Menschen ohne Krankenversicherung mit zahnärztlicher Sprechstunde; kinderärztlicher Sprechstunde und einer Sprechstunde für Frauen
-Ärzte der Welt, Projekt open med in der Dachauer Straße 161 für Menschen ohne Zugang zum Gesundheitssystem
in Zusammenarbeit mit der Anlaufstelle cafe 104 mit allgemeinmedizinischer Sprechstunde, kinderärztlicher Sprechstunde und Sprechstunde für Frauen
Seit 2016/2017 auch mobile Beratung am Hauptbahnhof
Falls eine stationäre Behandlung notwendig wird, vermitteln die genannten Arztpraxen in die stationäre Versorgung.
Frage 2:
Wer übernimmt die ambulante und stationäre Behandlung von Menschen ohne Krankenversicherung?
Antwort:
Wie bereits unter Punkt 1 dargestellt, handelt es sich bei wohnungslosen Menschen nicht zwangsläufig um Menschen ohne Krankenversicherung. Der größte der Teil der wohnungslosen Menschen in München ist im SGB II oder SGB XII-Bezug oder ist erwerbstätig. Dieser Personenkreis ist dann auch regulär krankenversichert bzw. wird nach § 48 SGB XII i.V.m. § 264 SGB V versorgt. In München leben jedoch auch obdachlose Menschen auf der Straße oder obdachlose EU-Staatsangehörige, die unter Umständen nicht krankenversichert sind.
Weiterhin sind nicht alle Menschen ohne Krankenversicherung auch zugleich wohnungslos.
Die unter Punkt 1 genannten Anlaufstellen für Menschen ohne Krankenversicherung open.med (Ärzte der Welt e.V.) und Malteser Migranten MedizinMedizin (Malteser Hilfsdienst e.V.) kümmern sich in München um die ambulante Versorgung von Menschen ohne Krankenversicherung. Sie bieten hierfür allgemeine medizinische Sprechstunden sowie ausgewählte fachärztliche Sprechstunden (z.B. gynäkologisch, kinderärztlich) an und vermitteln bei Bedarf in die weiterführende Versorgung. Im Jahr 2016 führten sie insgesamt 2.179 medizinische Behandlungen von 1.037 Patientinnen und Patienten ohne Krankenversicherung durch.
Zusätzlich behandeln die bereits genannten Praxen in Sankt Bonifaz und im Haus an der Pilgersheimer Straße auch Menschen ohne Krankenversicherung, wobei dort der Fokus vor allem auf der Wohnungslosigkeit der Patientinnen und Patienten liegt und viele unter diesen auch eine Krankenversicherung haben.
Bei Bedarf vermitteln alle genannten Einrichtungen in die stationäre Versorgung. Dies gestaltet sich bei fehlender Krankenversicherung jedoch oft als schwierig.
Das Referat für Gesundheit und Umwelt organisiert und leitet die Gesprächsrunde „Gesundheitsversorgung von Menschen ohne Krankenversicherung mit und ohne Aufenthaltsstatus“, ein zwei Mal jährlich stattfindendes Vernetzungsgremium, in welchem sich die genannten Einrichtungen mit weiteren Beratungsstellen und mit der Gesundheits- und Sozialverwaltung der Landeshauptstadt München austauschen.
Frage 3:
Sind Maßnahmen erforderlich, um die medizinische Betreuung zu optimieren? Wenn ja, welche Maßnahmen sind erforderlich?
Antwort:
Wie in Punkt 1 und 2 dargestellt ist die ambulante medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen mit und ohne Krankenversicherung in
München durch die verschiedenen Anlaufstellen ausreichend gewährleistet.
Aufgrund der Neuregelungen für EU-Staatsangehörige, die keine Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II oder SGB XII erhalten, ist seit 01.01.2017 die Erstattung der ambulanten und stationären Behandlungskosten jedoch nur noch möglich, wenn sie im Zeitraum bis zur geplanten Ausreise in das Heimatland anfallen (max. 4 Wochen). Darüber hinausgehende Leistungen sind gesetzlich ausgeschlossen. Dies gilt für Staatsangehörige der EU-Staaten, die nicht dem Europäischen Fürsorgeabkommen(EFA) beigetreten sind (u. a. Bulgarien, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn). Für die EU-Bürgerinnen und -Bürger aus den EFA-Staaten gilt unverändert, dass Leistungen der Krankenhilfe grundsätzlich möglich sind, aber die Hilfebedürftigkeit geprüft werden muss.
Die Auswirkungen der Neuregelung des SGB XII (Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer) zeigen sich bereits jetzt bei den unter Punkt 1 aufgeführten Anlaufstellen, die diese Patientinnen und Patienten nicht mehr an Fachärzte oder in stationäre Behandlung weitervermitteln können.
Die Auswirkungen der Gesetzesänderung im SGB XII für die Bereiche Unterbringung, medizinische Versorgung und ggf. weitere Bereiche wird das Sozialreferat in einem gesonderten Beschluss voraussichtlich im 4. Quartal 2017 darstellen.
Für die Gruppe der Menschen ohne Krankenversicherung (nicht ausschließlich, aber im Wesentlichen die oben genannte Personengruppe) bestehen die folgenden Problemlagen:
-Menschen ohne Krankenversicherung nehmen notwendige medizinische Behandlungen häufig nicht wahr oder schieben sie lange auf, weil sie nicht wissen, wie sie die entstehenden Kosten bezahlen können.
-Psychische und andere (chronische) Erkrankungen bleiben unbehandelt. Chronifizierung und Verschlimmerung der Erkrankungen führen zu teuren Notfällen ohne Kostenübernahme.
-Schwangere Frauen nehmen Vorsorgeuntersuchungen verspätet in Anspruch und wissen kurz vor der Entbindung nicht, wie diese finanziert werden kann. Immer wieder kommen sie erst in den Wehen liegend als Notfall in eine Entbindungsklinik. Dies führt zum Konflikt mit der behandelnden Klinik, die geringe Chancen hat, die erbrachte Leistung tatsächlich von der Patientin oder ihrem Partner vergütet zu bekommen. Im Jahr 2016 begleiteten die Anlaufstellen für Menschen ohne Krankenversicherung open.med (Ärzte der Welt e.V.) und Malteser Migranten Medizin Medizin (Malteser Hilfsdienst e.V.) insgesamt 107 Schwangere ohne Krankenversicherung. Die Fachkräfte vermuten, dass ein großer Teil von ihnen wohnungslos war oder in prekären Wohnverhältnissen lebte. Mindestens ein Fünftel der Frauen hat in München oder im Münchner Umland entbunden, ein kleinerer Teil vermutlich im Herkunftsland. Über den Verbleib vieler dieser Frauen ist den Anlaufstellen nichts bekannt,weil nur wenige von ihnen nach der Entbindung die gynäkologische oder kinderärztliche Sprechstunde nutzen. Als besonders problematisch wird angesehen, dass dadurch auch gesundheitliche Probleme der neu geborenen Kinder rund um die Geburt nicht in gebotenem Maße wahrgenommen werden können. In der Vergangenheit hat dies in Einzelfällen sogar zu gesundheitlichen Kindeswohlgefährdungen geführt. Dies nimmt das Referat für Gesundheit und Umwelt zum Anlass, ein Konzept zur Verbesserung der Versorgung schwangerer Frauen bei der Entbindung sowie der Versorgung ihrer neu geborenen Kinder nach der Geburt (inkl. Versorgung von Frühgeburten) zu entwickeln.
-Eltern lassen ihren Kindern wegen der Kosten nicht die notwendigen Vorsorgeuntersuchungen/Impfungen zukommen.
-Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte oder Kliniken erhalten keine Vergütung, weil kein Versicherungsschutz hergestellt werden konnte bzw. keine andere Form der sozialen Absicherung greift, die behandelten Patientinnen und Patienten jedoch auch nicht in der Lage sind, die Kosten selbst zu tragen. Dies führt regelmäßig zu erheblichen Konflikten mit Leistungserbringenden. Die derzeitige Situation stellt Ärztinnen / Ärzte, Hebammen und andere medizinische Leistungserbringende vor schwerwiegende Probleme, da sie die Behandlung nicht verweigern möchten, aber gleichzeitig wissen, dass sie die Leistungen voraussichtlich unentgeltlich erbringen werden.
Dadurch entsteht zunehmend Druck auf die Kapazitäten von ehrenamtlichen Initiativen und Hilfsorganisationen, die versuchen, die Versorgungslücke zu decken, jedoch nur begrenzte (finanzielle) Möglichkeiten haben.
Das Sozialreferat und das Referat für Gesundheit und Umwelt unterstützen die Anlaufstellen für Menschen ohne Krankenversicherung für die Aktivitäten im Bereich der ambulanten medizinischen Versorgung fachlich und finanziell. Es fehlen jedoch geeignete Verfahren zur Kostenklärung sowie die tatsächliche Kostenübernahme für die stationäre Versorgung, sofern keine gesetzliche Grundlage für die Kostenübernahme vorhanden ist. Die Etablierung entsprechender Konzepte ist jedoch ohne die zusätzliche Bereitstellung kommunaler Mittel nicht möglich. Das Referat für Gesundheit und Umwelt prüft derzeit, ob und wie die Versorgung schwangerer Frauen bei der Entbindung sowie die Versorgung ihrer neu geborenen Kinder nach der Geburt (inkl. Versorgung von Frühgeburten) verbessert werden kann.