Kommt die Zeugnisanerkennungsstelle des Freistaats noch ihren Kernaufgaben nach?
Anfrage Stadtrats-Mitglieder Lydia Dietrich, Jutta Koller, Sabine Krieger, Oswald Utz und Dr. Florian Roth (Fraktion Die Grünen/Rosa Liste) vom 2.6.2017
Antwort Sozialreferentin Dorothee Schiwy:
In Ihrer Anfrage vom 2.6.2017 führen Sie Folgendes aus:
„Nach uns vorliegenden Informationen stellt die Zeugnisanerkennungsstelle nicht mehr wie früher offizielle Anerkennungen (zum Beispiel bezüglich des Mittleren Schulabschlusses) ausländischer Zeugnisse zum Zwecke einer Bewerbung um einen Ausbildungsplatz aus. Falls dies zutrifft, würden Jugendliche mit Migrationshintergrund gravierend benachteiligt werden, da Betriebe häufig einen bestimmten formalen Schulabschluss fordern.“
Zu Ihrer Anfrage vom 2.6.2017 nimmt das Sozialreferat im Auftrag des Herrn Oberbürgermeisters im Einzelnen wie folgt Stellung:
Frage 1:
Stimmt es, dass die Zeugnisanerkennungsstelle keine Anerkennung ausländischer Zeugnisse zum Zweck einer Bewerbung um einen Ausbildungs- platz mehr ausstellt?
Antwort:
Ja. Zur Erläuterung: Die Zeugnisanerkennungsstelle stellt auf Antrag lediglich einen Brief („Inaussichtstellung“) aus, der maximal positiv bestätigt, dass „auf der Grundlage der vorgelegten Zeugnisse [...] anhand der nachgewiesenen Fächerbreite und der erreichten Einzelleistungen in den entscheidenden allgemeinbildenden Fächern die Zuerkennung eines [zum Beispiel] mittleren Schulabschlusses in Aussicht zu stellen [ist].“ Auf Basis dieser Inaussichtstellung kann eine aufnehmende Schule, nicht aber ein ausbildender Betrieb, um eine offizielle Anerkennung ersuchen. Die Inaussichtstellung besitzt keine Rechtskraft und ersetzt kein staatlich anerkanntes Zeugnis.
Es handelt sich hierbei um eine veränderte Praxis, die nach Wissen der Landeshauptstadt München erst seit dem Jahr 2015 besteht und, so die telefonische Auskunft der Zeugnisanerkennungsstelle, auf ministerielle Anweisung geändert wurde. Es wird darauf verwiesen, dass ein Bescheid erst ergehen kann, wenn eine Bestätigung der aufnehmenden bayerischenBildungseinrichtung (z.B. einer Berufs- (Fach-) Schule) über die Notwendigkeit der Anerkennung des Schulabschlusses eingereicht wird.
Frage 2:
Welche Folgen hat das aus Sicht der Landeshauptstadt München auf die Ausbildungsplatzchancen von neu zugewanderten Jugendlichen?
Antwort:
Aus der Erfahrung des Sozialreferates sowie auch der städtischen Schulen geht die Praxis der Zeugnisanerkennungsstelle mit erheblichen Nachteilen für zugewanderte Jugendliche einher. Versuche, die schulischen Leistungen und Abschlüsse dieser Jugendlichen bei der Zeugnisanerkennungsstelle anerkennen zu lassen, scheitern in der Regel. Demzufolge sind viele Jugendliche und junge Erwachsene zwar im Besitz von Schulzeugnissen in Äquivalenz zum Mittleren Schulabschluss oder Abitur, müssen aber in Ermangelung offizieller Anerkennung dieser Zeugnisse Nachweise ihrer Ausbildungsfähigkeit über den Umweg von Berufsintegrationsklassen (BIK) oder externen Mittelschulabschlüssen erbringen. Diese Umwege sind mit einem erheblichen zeitlichen und finanziellen Aufwand verbunden, sowohl für die Jugendlichen selbst als auch für die Landeshauptstadt München.
Diese Benachteiligung geht einher mit Unsicherheit seitens der Arbeitgeberinnen, Arbeitgeber und Unternehmen, die oft im Unklaren darüber sind, ob zugewanderte Bewerberinnen und Bewerber überhaupt die Möglichkeit der Anerkennung ihrer schulischen Leistungen haben.
Von großem Gewicht ist ebenfalls, dass der Ausgang einzelner Bewerbungsverfahren von der besten Eignung miteinander in Konkurrenz stehender Bewerbungen abhängig ist. Schulzeugnisse sind dabei ein wesentlicher Faktor bei der Bewertung der Eignung. Können zugewanderte Jugendliche diese nicht vorlegen, kann der Betrieb die Eignung nur anhand anderer Kriterien einschätzen und sich im Zweifel gegen die Bewerbung entscheiden.
Frage 3:
Sieht die Landeshauptstadt München Möglichkeiten auf den Freistaat einzuwirken, seine Praxis in diesem Feld zu verändern?
Antwort:
Bereits im Jahr 2016 hat das bayerische Landesnetzwerk MigraNet (Teil des bundesweiten Förderprogramms „Integration durch Qualifizierung“ - IQ), dem auch die Servicestelle zur Erschließung ausländischer Qualifikationen der Landeshauptstadt München angehört, an die Zeugnisanerken-nungsstelle appelliert, ihre veränderte Praxis zu revidieren. In dem Schreiben heißt es unter anderem:
„Ein Schulzeugnis ist für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, ausbildende Betriebe und Fachschulen ein unverzichtbarer Bestandteil jeder Bewerbung, so dass man weder davon ausgehen kann, dass zugewanderte Bewerbende ohne einen transparenten Nachweis der Schulbildung in die engere Auswahl kommen, noch dass dieser in einer späteren Phase der Bewerbung nachgereicht werden kann. Personalabteilungen von Unternehmen können ausländische Abschlüsse ohne eine Anerkennung nicht oder nur schwer einschätzen, so dass diese oft nicht als adäquate Nachweise einer Schulbildung in Bewerbungsverfahren akzeptiert werden. Es ist außerdem in Frage zu stellen, dass Fachschulen über das notwendige Hintergrundwissen und den Erfahrungsschatz verfügen, um ausländische Schulzeugnisse selbstständig bewerten zu können.
Die von der Zeugnisanerkennungsstelle ausgestellten Schreiben (Inaussichtstellungen) bieten zwar eine Einschätzung der Höhe des Schulabschlusses, allerdings können diese kaum für Bewerbungsverfahren genutzt werden. Sowohl im dualen Bereich, als auch für Ausbildungsplätze an Fachschulen werden vollständige Bewerbungen mit formalen Anforderungen entsprechenden Unterlagen und Bildungsnachweisen bei dem Auswahlverfahren bevorzugt.“
Eine entsprechende Revision der Praxis der Zeugnisanerkennungsstelle ist bislang ausgeblieben. Zum eben zitierten Schreiben nahm die Zeugnisanerkennungsstelle wie folgt Stellung:
„Nicht vorgesehen ist eine standardisierte, zweckfreie Ausfertigung eines Anerkennungsbescheides, sobald ein ausländischer Bildungsnachweis erworben wurde, es besteht keinerlei Rechtsanspruch auf eine Zeugnisanerkennung im Freistaat Bayern.
Die für jeden Interessenten weltweit einsehbare Datenbank anabin (online Infoportal zu ausländischen Bildungsabschlüssen) stellt Informationen zur Bewertung ausländischer Bildungsnachweise online bereit und unterstützt Behörden, aber auch Arbeitgeber und Privatpersonen, eine ausländische Qualifikation in das deutsche Bildungssystem einzustufen.
Die Industrie wird sich, bitte gestatten Sie diesen Hinweis, hier überlegen müssen, wie sie ihre Mitarbeiter, die von Ihnen erwähnten Personalbeauftragten ausbildender und einstellender Betriebe, schult, um auf die weltweite Zuwanderung von Personen mit heterogenen Bildungsnachweisen geeignet reagieren zu können. Staatlicherseits ist es nicht möglich, Entsprechendes ressourcenneutral anzubieten.“
Aus zahlreichen Fällen, in denen Antragstellenden die Anerkennung ihrer Zeugnisse verweigert wurde, geht weiterhin hervor, dass die Zeugnisanerkennungsstelle zumindest zwischenzeitlich die Position vertrat, dass „[s] oweit eine der Aufnahmevoraussetzungen der Nachweis eines bestimmten Schulabschlusses ist, […] eine förmliche Anerkennung des Zeugnisses durch die Zeugnisanerkennungsstelle nicht zwingend erforderlich [ist]“ (E-Mail der Zeugnisanerkennungsstelle vom 15.6.2016). Entgegen der Erfahrungen der LH München aus den Jahren zuvor wird hier zusätzlich die Position vertreten, dass diese Vorgehensweise „seit jeher“ (ebd.) gelte.
In Hinsicht auf diese aktuellen Positionen der Zeugnisanerkennungsstelle lässt sich aus Perspektive des Sozialreferats der Landeshauptstadt München feststellen, dass
a) der Verweis auf die Datenbank anabin nicht zufriedenstellend ist, da diese nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und Aktualität erhebt und auch nicht erfüllt. Sie kann daher auch in keinem Fall die Einzelprüfung ersetzen. Insbesondere ist auch hervorzuheben, dass die Datenbank anabin keine Aussagen über Schulabschlüsse unterhalb des Hochschulzugangs macht und insofern in vielen Fällen keinerlei Rückschlüsse auf Ausbildungsreife zulässt;
b) die Übertragung der Anerkennungsverantwortung auf „[d]ie Industrie“ keine praktikable Option ist, da private Unternehmen sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber nicht die Aufgabe der Systematisierung, Überprüfung und Kontrolle staatlicher Dokumente (wie zum Beispiel Schulzeugnisse) übernehmen können oder wollen;
c) ebendiese privaten Akteurinnen und Akteure im Gegensatz zu einer staatlichen Zeugnisanerkennungsstelle nicht im Bereich der Zeugnisanerkennung qualifiziert sind und auch keinen entsprechenden öffentlichen Auftrag haben.
Frage 4:
Gibt es Möglichkeiten durch Kammern oder die Landeshauptstadt Mün- chen, Betriebe bei der Frage der im Ausland erworbenen formalen und nicht formalen Qualifikationen zu unterstützen, um die Ausbildungsplatz- chancen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu erhöhen?
Antwort:
Bereits zu diesem Zeitpunkt existieren Strukturen innerhalb der Landeshauptstadt München, die der Unterstützung einerseits Jugendlicher mit Migrationshintergrund auf Suche nach Ausbildungsplätzen und andererseits ausbildender Betriebe auf Suche nach geeigneten Bewerbenden dienen.
Das Integrationsberatungszentrum (IBZ) Sprache und Beruf berät und unterstützt bei der Feststellung von Qualifikationen, Sprachstandseinschätzungen, Kompetenzfeststellungen und Ähnliches, informiert über Berufs- und Bildungsstrukturen in Deutschland, Bayern und München und unterstützt seine Kundinnen und Kunden unter anderem auch beim Zugang zu Ausbildung und Arbeitsmarkt. Allerdings ist das IBZ auf Möglichkeiten angewiesen, schulische Qualifikationen und Zeugnisse auf rechtskräftigem und vergleichbarem Niveau anerkennen zu lassen.
Ähnliches gilt für die Servicestelle zur Erschließung ausländischer Qualifikationen, die Beratung und Unterstützung bei der Anerkennung ausländischer Qualifikationen bietet. Die Praxis der Servicestelle setzt allerdings ihren Fokus auf die Anerkennung beruflicher Qualifikationen und kann daher nicht die Aufgaben einer staatlichen Zeugnisanerkennungsstelle ersetzen.
Auch im Bereich der Kammern findet bereits Unterstützung in Hinsicht auf ausländische Qualifikationen statt. So bietet die Handwerkskammer für München und Oberbayern (HWK) Ausbildungsberatung auch für Jugendliche mit Migrationshintergrund an. Ebenfalls unterstützt sie bei der Anerkennung ausländischer beruflicher Qualifikationen, ist aber wie die Betriebe und die Landeshauptstadt München in Hinsicht auf die Anerkennung schulischer Qualifikationen auf die Zeugnisanerkennungsstelle des Freistaats angewiesen.
Das Sozialreferat schlägt vor, einen erneuten Vorstoß bei der Zeugnisanerkennungsstelle beziehungsweise beim zuständigen Ministerium gemeinsam mit den Kammern, der Arbeitsagentur und dem Jobcenter zu initiieren.