Die Zeitzeugin Anna Wladimirowna kehrte auf Einladung des NS-Dokumentationszentrums München an den Ort zurück, an dem sie als junges Mädchen Zwangsarbeit leisten musste: Am 23. Oktober besuchte sie das ehemalige Zwangsarbeiterlager des Reichsbahnausbesserungswerks (RAW) in Neuaubing. Die heute in Riga lebende 86-Jährige ist eine der wenigen noch lebenden früheren Insassen des Lagers. Sie wird vermutlich die einzige bleiben, der eine Reise an den historischen Ort ihrer Ausbeutung noch möglich ist, um hier von dem großen Verbrechen der NS-Zwangsarbeit zu erzählen.
Das in Neuaubing erhaltene Barackenlager ist als letztes Geschichtszeugnis dieser Art in Süddeutschland von großer historischer Bedeutung. Auf dem Gelände entsteht ein Erinnerungsort als Dependance des NS-Dokumentationszentrums München, für den ein Konzept entwickelt worden ist. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sollen im Mittelpunkt der künftigen Ausstellung stehen. Dafür sucht das NS-Dokumentationszentrum gezielt nach Zeitzeugen. Zu den in Neuaubing eingesetzten Zwangsarbeitern war lange Zeit nichts bekannt. Inzwischen konnten jedoch mehrere noch lebende Personen gefunden werden. Anna Wladimirowna (geboren 1931) war mit ihrer Mutter und zwei Schwestern von September 1944 bis April 1945 im Zwangsarbeiterlager des Reichsbahnausbesserungswerks Neuaubing (RAW) untergebracht. Als Zehnjährige erlebte sie 1941 den Kriegsausbruch und das Wüten der deutschen Besatzer in ihrem Heimatort Dubrowka in Russland. 1943 wurde sie mit ihrer Familie in Güterwaggons nach Deutschland verschleppt. Aus der Zeit im Lager berichtet sie von Hunger und harter Arbeit. Da es wenig zu Essen gab, ging sie bei den benachbarten Wohnhäusern betteln: „Gib mir ein Kartoffel oder ein klein Stück Brot“, diesen deutschen Satz kann sie noch heute. Wladimirowna war an der Werkbank eingesetzt. Sie erinnert sich an das Einspannen und Zerschneiden von Draht, an das Feilen großer Metallteile, an die von der Arbeit müden Hände.
Das NS-Dokumentationszentrum hat neben Anna Wladimirowna weitere Zeitzeugen (zwei Russinnen und zwei Italiener) ausfindig gemacht, die als Zwangsarbeiter oder Kinder von Zwangsarbeitern im RAW-Lager untergebracht waren. Darüber hinaus wurde Kontakt zu etwa 50 Familien geknüpft, die Informationen und Fotografien zu bereits verstorbenen Betroffenen zur Verfügung stellen können. So konnten viele Biographien ermittelt und Audio- und Filminterviews geführt werden. Die gewonnenen Erkenntnisse und Dokumente dienen der Vorbereitung der künftigen Dokumentation und fließen in die Informations- und Bildungsangebote des Erinnerungsorts Zwangsarbeiterlager Neuaubing ein. Die Suche nach Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und die Aufklärung ihrer Schicksale sollen fort- geführt und auf weitere Herkunftsländer, insbesondere Polen und Holland, ausgeweitet werden.
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