Ausbildungs- und Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten: OB Reiter wendet sich an Ministerpräsident Seehofer Archiv
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Rathaus Umschau 38 / 2017, veröffentlicht am 23.02.2017
Oberbürgermeister Dieter Reiter appelliert in einem Schreiben an Ministerpräsident Horst Seehofer, die Regelung zur Ausbildungs- und Arbeitsaufnahme für Geflüchtete nach dem Bundesintegrationsgesetz auch in Bayern umzusetzen und den derzeit restriktiven Kurs der Bayerischen Staatsregierung zu überdenken und zu korrigieren. Die unklare und unsichere rechtliche Situation in Bayern, so der Oberbürgermeister, habe nicht nur bei den jungen arbeits- und ausbildungswilligen Geflüchteten zu großer Unruhe geführt, sondern auch Unmut und Verunsicherung bei den Unternehmen und Ausbildungsbetrieben hervorgerufen.
Hier der vollständige Wortlaut des Schreibens:
„Wirtschaftsverbände haben bundesweit die im Bundesintegrationsgesetz umgesetzte ,3 plus 2‘-Regelung, die geflüchteten Auszubildenden und Arbeitgebern mehr Rechtssicherheit bietet, sehr begrüßt. Sie besagt, dass Geflüchtete, die eine dreijährige Berufsausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf aufnehmen und absolvieren, für weitere zwei Jahre in diesem Beruf arbeiten dürfen. Besonders die bayerische Wirtschaft unter- nimmt für die Ausbildung von Geflüchteten große Anstrengungen. In der Ein-Jahres-Bilanz, so die bayerische Industrie- und Handelskammer (IHK), seien über 33.000 Integrationsprozesse in Arbeit, Ausbildung und Praktika erfolgt. Allein im IHK-Bereich befänden sich aktuell 2.800 Geflüchtete in einer qualifizierten Berufsausbildung in Bayern. Im Münchner Ausbildungsmarkt sind im Jahr 2016 mehr als 4.800 Stellen unbesetzt geblieben. Die Gruppe der Geflüchteten in München besteht zu mehr als 60 Prozent aus Personen im Alter von unter 25 Jahren. In der Mehrheit zeigt sich diese Personengruppe arbeitsfähig, lernmotiviert und ehrgeizig. Inzwischen sind bereits 6 Prozent aller Ausbildungsplätze in München von jungen Geflüchteten besetzt. In den nächsten Jahren könnte die Zahl durch die Absolventinnen und Absolventen der Berufsintegrationsklassen und schulanalogen Maßnahmen in München nochmal deutlich ansteigen. Mehr als 1.000 junge Geflüchtete besuchen derzeit die zweijährigen Berufsintegrationsklassen, wo sie intensiv auf den Berufseinstieg und die Ausbildungsaufnahme vorbereitet werden.
Die Stadt München hat auf die gestiegene Anzahl an Schutzsuchenden schnell und umfassend reagiert: In enger Zusammenarbeit zwischen der Stadtverwaltung, dem Jobcenter, der Agentur für Arbeit und den Wirtschaftsverbänden wurden nachhaltige Strukturen geschaffen, welche die Schutzsuchenden entlang der Bildungskette bei der beruflichen Integration unterstützen. Vor allem junge Geflüchtete werden intensiv im Übergang Schule und Beruf und während der Ausbildung begleitet, um Ausbildungsabbrüchen entgegen zu wirken. Aber auch Unternehmen und Betriebe werden bei ihrer herausfordernden Aufgabe, Schutzsuchende zum erfolgreichen Ausbildungsabschluss zu führen, wenn immer nötig begleitet und unterstützt.
Während in anderen Bundesländern die ,3 plus 2‘-Regelung und damit auch eine Anspruchsduldung für geduldete Flüchtlinge in Ausbildung umgesetzt wird (im Einzelfall auch für Personen aus den sog. sicheren Herkunftsländern, wenn sie vor dem 31.8.2015 ihren Asylantrag gestellt ha- ben), wurden in Bayern durch die innenministeriellen Schreiben (IMS) vom 1.9.2016 und 19.12.2016 die Ausländerbehörden angewiesen, das Ermes- sen bei Erteilung von Beschäftigungserlaubnis und Ausbildungsduldung für die Aufnahme einer Ausbildung sehr restriktiv auszuüben. Dabei hat die Aufenthaltsbeendung Vorrang vor Ausbildungsaufnahme. Bei Geflüchteten mit abgelehntem Asylantrag soll keine Ausbildungsduldung mehr erteilt werden, sobald ,konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung‘ eingeleitet werden. Personen mit negativen Asylentscheidungen, die ausreisepflichtig sind, können, selbst wenn sie sich in Ausbildung befinden, nur im besonderen Einzelfall und im Ermessen der Behörden eine Beschäf- tigungserlaubnis und damit eine Ausbildungsduldung erhalten. Entgegen der eigentlichen Intention des Bundesintegrationsgesetzes wird damit aus meiner Sicht das Verfahren bei Asylbewerberinnen, Asylbewerbern und Geduldeten massiv verschärft, so dass so gut wie kein Geduldeter mehr eine Anspruchsduldung gemäß § 60 a Abs. 2 4 ff. AufenthG erhalten wird. Diese unklare und unsichere rechtliche Situation hat nicht nur bei den jungen arbeits- und ausbildungsfähigen Geflüchteten zu großer Unruhe geführt, sondern auch Unmut und Verunsicherung bei den Unternehmen und Ausbildungsbetrieben hervorgerufen.
Die Stadt München teilt zusammen mit der Agentur für Arbeit und dem Jobcenter die Auffassung, dass die aufkommende Unsicherheit, beson- ders in der ,3 plus 2‘-Regelung, sich direkt am lokalen Arbeitsmarkt aus- wirken wird. Wichtige Arbeitgeber machen bereits deutlich, unter diesen Voraussetzungen ihren Beitrag zur Integration von Schutzsuchenden in den Ausbildungsmarkt auf Standorte außerhalb Bayerns zu verlagern. Zusätzlich wirkt sich auch die Neuordnung der EASY-Zuweisungen langfristig auf den Arbeitsmarkt aus. So werden in Zukunft von den TOP 5 Ländern nur noch Personen aus Somalia nach Oberbayern zugewiesen. Langfristig steht dann ein hoher Anteil von Personen mit frühzeitigem Zugang zu allen staatlichen Förderleistungen dem Münchner Arbeitsmarkt künftig nicht mehr zur Verfügung. Vielmehr werden Flüchtlingsgruppen der Stadt München zugewiesen, denen eine niedrige Bleibewahrscheinlichkeit zugeschrieben wird und deren Zugang zu staatlichen Fördermaßnahmen sowie zu Ausbildung und Arbeit deutlich erschwert ist. Trotz Ausreisepflicht wird eine größere Anzahl abgelehnter Asylsuchender erfahrungsgemäß jedoch längerfristig in München bleiben. Dies ist zum einen dadurch bedingt, dass eine Aufenthaltsbeendigung aus unterschiedlichen Gründen nicht umgesetzt werden kann und zum anderen, da Klageverfahren gegen die Entscheidung eingelegt wurden. Mit ihren freiwilligen Integrationsleistungen für geflüchtete Menschen ergänzt die Landeshauptstadt die Förderinstrumente der Agentur für Arbeit oder des Jobcenters. Die langjährige Erfahrung mit den Integrationsleistungen für Geflüchtete hat gezeigt, dass Zugang zu Bildung und Beschäftigung ein wesentliches Schlüsselelement für sozialen Frieden in der Stadtgesellschaft darstellt. Aus arbeitsmarktpolitischen Erwägungen wie auch im Hinblick auf eine spätere erfolgreiche Reintegration ins Herkunftsland oder andere Aufnah- meländer erscheint es mehr als sinnvoll, die Beschäftigungsfähigkeit der Menschen zu erhalten bzw. deren Potenziale für den hiesigen Arbeitsmarkt nutzbar zu machen anstatt sie zu Untätigkeit und ungewollter wirtschaftlicher Abhängigkeit zu zwingen.
Der Arbeits- und Ausbildungsmarkt in der Metropolregion München ist aufnahmefähig und weist einen hohen Bedarf an Fachkräften auf. Arbeitgeber und Unternehmen wiederum sind trotz zahlreicher Hürden bereit, Geflüchtete in Arbeit und Beschäftigung zu nehmen. Sowohl die Neuorientierung der EASY-Verteilung wie auch die Regelungen des IMS orientieren sich weder an den lokalen städtischen Strukturen und an den Fördermöglichkeiten durch die Wirtschaft noch berücksichtigen sie die besonders günstige Arbeitsmarktlage in der Metropolregion München. Insofern sind beide Rege- lungen langfristig wirtschaftlich und arbeitsmarktpolitisch nicht zielführend. Im Interesse des Münchner Wirtschaftsstandortes, der Wirtschaftsverbände, der Kirchen, Sozialverbände und Gewerkschaften erhofft sich die Stadt München von der bayerischen Staatsregierung einen deutlichen Kurswechsel in der Umsetzung des bundesgesetzlich geregelten Arbeitsmarktzugangs und der im Bundesintegrationsgesetz verankerten ,3 plus 2‘-Regelung und damit Rechtssicherheit während der Ausbildung für die Arbeitgeber und die Geflüchteten:
[italic]Dies erfordert
- eine Änderung der Weisung durch das IMS an die Ausländerbehörden in dem Sinne, dass bei Vorliegen eines Ausbildungsvertrages für ab- gelehnte Asylsuchende eine Beschäftigungserlaubnis und damit eine Ausbildungsduldung für die gesamte Dauer der Ausbildung erteilt wird;
- eine Rücknahme der im IMS vorgenommenen Interpretation, dass bereits die Klärung der Identität des Ausländers als „konkrete Maßnahme zur Aufenthaltsbeendigung“ verstanden wird;
- eine Erleichterung für die Aufnahme von Beschäftigung auch für abge- lehnte Asylbewerber, soweit eine Rückkehr ins Heimatland zeitlich nicht sofort absehbar ist. Einzelfallentscheidungen sollen auch für Personen aus den sog. sicheren Herkunftsstaaten möglich sein;
- die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis bzw. einer Ausbildungsduldung für die Absolventinnen und Absolventen der Berufsintegrationsklassen und schulanalogen Projekte, wenn die Aussicht auf Aufnahme einer Ausbildung besteht;[/italic]
-die Erteilung der Beschäftigungserlaubnis während des laufenden Asylverfahrens nicht an die sogenannte Bleibewahrscheinlichkeit zu knüpfen und damit den Ausgang von individuellen Asylverfahren bzw. Klageverfahren vorweg zu nehmen.
[italic]Die Stadt, die Agentur für Arbeit München und das Jobcenter sowie auch das große Bündnis an Ehrenamtlichen, Sozialverbänden und Kirchen haben in den letzten Jahren gemeinsam ein hohes Maß an finanziellen Ressourcen, fachliche Kompetenz und persönliches Engagement für die berufliche Integration von in Bayern Schutzsuchenden aufgewandt – mit sehr guten Ergebnissen. Integration ist ein teils schwieriger und langer Prozess. Die dafür notwendigen finanziellen Aufwendungen und personellen Anstren- gungen unterschiedlicher Akteure lohnen sich und führen zu einer langfristigen Win-Win-Situation: denn auch aus der Gruppe der Geflüchteten können die für den Münchner Arbeitsmarkt dringend benötigten Auszubildenden und Fachkräfte gewonnen werden.
Die Stadt appelliert daher an die bayerische Staatsregierung, den im IMS festgelegten restriktiven Kurs zu überdenken und zu korrigieren. Die Metropolregion München verfügt strukturell und arbeitsmarktpolitisch über die notwendigen Voraussetzungen, die in der Region lebenden Schutzsuchenden in den nächsten Jahren gut in den Arbeitsmarkt zu integrieren.“