Oberbürgermeister Dieter Reiter hat in einem Schreiben den Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil, gebeten, Verbesserungen der Regelungen im Sozialgesetzbuch II und Sozialgesetzbuch XII vorzunehmen:
„Im April 2018 haben Sie angekündigt, dass Sie die Lebensperspektiven der Bezieherinnen und Bezieher von Leistungen nach dem SGB II verbessern möchten und prüfen lassen wollen, was bezüglich der Regelsätze geändert werden sollte. Ich gehe davon aus, dass Ihre Überlegungen auch für die Personen gelten sollen, die Sozialhilfe oder Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung erhalten.
Ich bitte erneut, im Rahmen der notwendigen Gesetzgebungsprozesse, die Pauschalierung der Regelbedarfe und die Abschaffung der meisten einmaligen Leistungen zu überdenken. Die grundsätzlich zu niedrigen Regelbedarfe sollten auf ein der Realität angemessenes Niveau angehoben und die Leistungen in armutsfester Höhe ausgestaltet werden.
Während im Bereich des SGB XII die Möglichkeit geschaffen wurde, Regelbedarfe regional abweichend festzulegen, gibt es für den Leistungsbereich SGB II keine entsprechende Regelung. In einem Gutachten wurde ermittelt, dass die im Regelbedarf berücksichtigten Güter in München im Preisniveau teilweise um zirka 7 Prozent höher liegen als im bundesweiten Durchschnitt. Diese höheren Kosten müssen auch die SGB II-Leistungsberechtigten tragen, ohne dafür – wie die SGB XII-Berechtigten in München – einen höheren Regelbedarf vom Jobcenter zu erhalten.
Darüber hinaus halte ich es für sinnvoll, den Regelbedarf für ältere Personen um altersspezifische Bedarfe zu erweitern. Im Alter treten in höherem Maße als bei jüngeren Menschen chronische Krankheiten und Gebrechen auf, wodurch der Bedarf an spezieller Ernährung, Gesundheitspflege und Hilfsmitteln – wie zum Beispiel Brillen – steigt. Diese Kosten werden von den Krankenkassen nicht mehr oder nur zu einem geringen Teil erstattet.
Bis zur Einführung der Sozialgesetzbücher II und XII war es nach den Regelungen des Bundessozialhilfegesetzes möglich, neben den laufenden auch einmalige Leistungen zu bewilligen. Dies war insbesondere für die Beschaffung von Bekleidung, von Gebrauchsgütern von längerer Gebrauchsdauer und von höherem Anschaffungswert sowie für besondere Anlässe vorgesehen. Nach den Vorgaben des SGB II und SGB XII werden einmalige Leistungen nur noch für Erstausstattungen für die Wohnung einschließlich Haushaltsgeräten, für Erstausstattungen für Bekleidung und für die weni- ger relevanten Kosten für orthopädische Schuhe und Aufwendungen für therapeutische Geräte bewilligt. Während somit die Kosten für Erstausstattungen genehmigt werden können, ist die Übernahme von Leistungen für einen Nachersatz, wie etwa für einen defekten Kühlschrank oder irreparabel beschädigte Winterschuhe, nicht mehr möglich.
Die laufenden Regelbedarfe sind, abgesehen davon, dass es eine sehr hohe Disziplin voraussetzt, regelmäßig Beträge für unterschiedliche Bedarfe zur Seite zu legen, insgesamt viel zu niedrig bemessen, um die vom Gesetzgeber erwarteten Ansparungen vorzunehmen. Fehlende Anspa-
rungsbeträge führen regelmäßig dazu, dass für den Kauf zum Beispiel eines neuen Kühlschranks, einer neuen Matratze oder auch ‚nur‘ neuer Winterschuhe ein Darlehen in Anspruch genommen werden muss, das in monatlichen Teilbeträgen in Form einer Einbehaltung aus dem Regelbedarf zurückgezahlt werden muss. Diese Einbehaltungen erschweren neben der normalen Haushaltsführung unmittelbar auch die grundsätzlich sofort wieder notwendigen Ansparungen.
Ich halte deshalb die Wiedereinführung von einmaligen Leistungen für die Nachbeschaffung von Möbeln, Haushaltsgeräten und Bekleidung sowie für besondere Anlässe für dringend geboten. Dies gilt sowohl für den Leistungsbereich des SGB II als auch für den Bereich des SGB XII.
Daneben ist meines Erachtens eine Angleichung der Vermögensfreigrenzen des SGB XII an die weiterhin deutlich günstigeren Vermögensfreigrenzen des SGB II erforderlich. Die Anhebung der Freibeträge im SGB XII zum 1. Januar 2017 ist nicht ausreichend. Der Vermögensfreibetrag für eine alleinstehende Empfängerin bzw. einen alleinstehenden Empfänger von Leistungen nach dem 4. Kapitel SGB XII beträgt derzeit 5.000 Euro. Der Vermögensfreibetrag einer bzw. eines alleinstehenden SGB II-Leistungsberechtigten liegt kurz vor Erreichen der Altersgrenze ohne Berücksichtigung von Altersvorsorgevermögen bei 10.350 Euro (64 x 150 Euro + 750 Euro für notwendige Anschaffungen) und ist damit mehr als doppelt so hoch wie im SGB XII.
Die ungleichen gesetzlichen Vorgaben führen zum einen dazu, dass eine Bezieherin bzw. ein Bezieher von Arbeitslosengeld II bei Erreichen der Altersgrenze nicht nahtlos in den Bezug von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung wechseln kann (und sich dabei unter anderem zusätzlich eigenverantwortlich um die Weiterführung der Krankenversicherung kümmern muss), sondern ihr beziehungsweise sein Guthaben zunächst bis zum Erreichen der niedrigeren Vermögensfreigrenze aufbrauchen muss.
Zum anderen sind Personen, die erst mit Bezug eines den Lebensunterhalt nicht deckenden Altersruhegeldes transferleistungsberechtigt werden, gezwungen, einen großen Teil ihres während des Erwerbslebens angespar- tes Guthaben auszugeben, bevor sie Grundsicherungsleistungen erhalten können. Letztlich sollten auch ältere Leistungsberechtigte über einen finanziellen Puffer verfügen dürfen, aus dem sie die Kosten für einen Seniorenausflug oder auch nur für Geburtstagsgeschenke für Kinder und Enkel bestreiten können.
Auch die Anrechnungsfreibeträge für einen Zuverdienst sollten in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung an die höheren Beträge des SGB II angeglichen werden. Unabhängig von weiteren Freibeträgen, die zum Beispiel für Fahrtkosten oder Versicherungen berücksichtigt werden müssen, beträgt der Absetzungsbetrag bei einem Bruttoeinkommen von 450 Euro im SGB XII 135 Euro, im SGB II dagegen 170 Euro. Bei einem höheren Einkommen geht die Schere noch weiter auseinander. Viele Menschen, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung erhalten, können und wollen sich etwas dazuverdienen. Eine Anpassung würde solche Anstrengungen unterstützen.
Ergänzend rege ich an, eine weitere Freibetragsregelung zu treffen und die ‚Mütterrente“‚ d.h. die Anteile für Kindererziehungszeiten in einer Rente, nicht auf die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung anzurechnen. Gerade die Mütter, die am wenigsten haben, sollten nicht auf die Anerkennung ihrer Erziehungsleistung verzichten müssen und durch den Freibetrag ebenfalls von einer ‚Mütterrente‘ profitieren können. Eine weitere notwendige Änderung ist meines Erachtens die Wiedereinführung der Bewilligung von Rentenversicherungsbeiträgen im SGB II. Bis zum Dezember 2010 wurden monatliche Rentenversicherungsbeiträge in Höhe von 40 Euro vom Jobcenter an die DRV überwiesen, was nach einem einjährigen Bezug von Arbeitslosengeld II zu einer um zwei Euro höheren Rente führte. Der Betrag mag gering erscheinen, entspricht jedoch bei längerem ALG II-Leistungsbezug zum Beispiel schon dem Aufstockungsbetrag, den die Landeshauptstadt München im SGB XII-Bereich wegen der höheren hiesigen Lebenshaltungskosten bezahlt.
Ein weiteres der Anliegen der Landeshauptstadt München haben Sie mit dem Teilhabechancengesetz – 10. SGB II-ÄndG bereits erfüllt. Das neue Regelinstrument „Teilhabe am Arbeitsplatz“ bedeutet eine große Chance für Menschen, die am Rande der Arbeitsgesellschaft stehen und ermöglicht wegen des fünfjährigen Förderungszeitraums eine langfristige und nachhaltige Förderung von langzeitarbeitslosen Menschen.
Leider ist jedoch unverändert die Übernahme von Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung nicht vorgesehen. Ich verkenne die Gefahr eines Drehtüreffekts und den Vorrang des mit der geförderten Beschäftigung verbundenen Zugewinns an fachlichen und persönlichen Fähigkeiten und Qualifikationen nicht, bedauere jedoch trotzdem, dass nicht schon die Her- anführung zum allgemeinen Arbeitsmarkt, die immerhin auch in der freien Wirtschaft stattfinden kann, arbeitslosenversicherungspflichtig sein soll. Abschließend bitte ich nochmals dringend, bei künftigen Änderungen von SGB II und SGB XII die Ausführungen der Landeshauptstadt München in Ihre Überlegungen einzubeziehen.“