Vision Zero – Abbiegeassistenzsysteme als Vergabekriterium bei städtischen Vergaben
Antrag Stadtrats-Mitglieder Sabine Bär und Manuel Pretzl (CSU-Fraktion) vom 12.7.2018
Antwort Oberbürgermeister Dieter Reiter:
In Ihrem Antrag vom 12.07.2018 bitten Sie um rechtliche Prüfung, ob bei städtischen Vergaben sog. Abbiegeassistenzsysteme bei Lkw als Kriterium für eine öffentliche Vergabe, zum Beispiel von größeren Bauvorhaben, zulässig sind. Dabei sollen auch die praktischen Auswirkungen auf die Auftragnehmer dargestellt werden. Der Antrag bezieht sich auf eine Prüfung von gesetzlichen Regelungen auf europäischer und nationaler Ebene sowie auf Informationen über Zuständigkeiten, Ausführungsbedingungen und Umsetzungsmöglichkeiten bei der Vergabe.
Ihr Einverständnis vorausgesetzt, teile ich Ihnen auf diesem Wege zu Ihrem Antrag Folgendes mit:
Anfang des Jahres haben mehrere Abgeordnete des Bundestages eine Anfrage an die Bundesregierung zu Abbiegeassistenzsystemen bei schweren Lastkraftwagen gerichtet. Eine der Fragen lautete: „Wie bewertet die Bundesregierung die technische Ausgereiftheit von aktuellen Abbiegeassistenzsystemen für schwere Lkw hinsichtlich der Effektivität bei der Verhinderung von Unfällen beim Rechtsabbiegen?“
Die Bundesregierung hat mit Schreiben vom 13.03.2018 (BT-Drucksache 19/1218) die Frage wie folgt beantwortet: „Es existieren verschiedene Nachrüstlösungen, die die Anforderungen nach Kenntnis des BMVI [Anm.: Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur] nicht erfüllen. Solche Nachrüstlösungen verwenden in der Regel Sensorik, die nicht hinreichend zwischen bewegten und statischen Objekten unterscheiden kann und daher anfällig für Fehlwarnungen ist.
Das BMVI setzt sich auf UNECE-Ebene [Anm.: UNECE = Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen] dafür ein, Kriterien für die Prüfung von Abbiegeassistenzsystemen festzulegen. Die Vorschriften sollen technologieneutral gestaltet werden. Wichtig ist das Sicherstellen der Wirksamkeit der Systeme durch Ausrüstungsvorschriften.“
In seiner Sitzung am 08.06.2018 (BR-Drucksache 110/18) hat der Bundesrat beschlossen, die Bundesregierung aufzufordern, sich auf europäischerEbene intensiver als bisher dafür einzusetzen, dass in den Typgenehmigungsvorschriften schnellstmöglich sicherheitswirksame technische Einrichtungen (Abbiegeassistenzsysteme) nach dem Stand der Technik bei Nutzfahrzeugen ab 7,5 t zulässigem Gesamtgewicht (zGG) verpflichtend vorgeschrieben werden, die Radfahrende oder zu Fuß Gehende im direkten Umfeld eines Nutzfahrzeugs erkennen und den Fahrzeugführenden akustisch, optisch, taktil oder in sonstiger Weise warnen und bei Bedarf eine Notfallbremsung einleiten. Auch eine verpflichtende Nachrüstung solle auf europäischer Ebene forciert werden.
Eine Pflicht zum Einbau von Abbiegeassistenzsystemen für die Autoindustrie auf nationaler Ebene sieht der Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer derzeit nicht, da eine Pflicht nur auf Ebene der Europäischen Union eingeführt werden könne (Quelle: Zeit online, 10.07.2018, http://www.zeit.de/mobilitaet/2018-07/abbiegeassistent-lkw-unfaelle-gruenen-forderung).
In Anbetracht dieses Sachstands und der laufenden Entwicklung hält die Stadt sensorbasierte Abbiegeassistenten als Vergabekriterium für derzeit nicht zweckdienlich.
Generell hält es die Stadt für vergaberechtlich zulässig, bei der öffentlichen Auftragsvergabe die Auftragnehmer zu einer Verwendung von sog. Abbiegeassistenzsystemen, zum Beispiel in Form von Kamera-Monitor- bzw. radarbasierten Systemen zu verpflichten. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) lässt sog. Ausführungsbedingungen unter der Voraussetzung zu, dass diese mit dem Auftragsgegenstand in Verbindung stehen. Das ist auch dann der Fall, wenn sie sich auf die Rahmenbedingungen der Leistungserbringung beziehen und sich nicht auf die materiellen Eigenschaften des Auftragsgegenstandes auswirken.
Unzulässig wäre eine Ausführungsbedingung, die sich beispielsweise auf die allgemeine Unternehmenspolitik des Auftragnehmers bezieht, etwa die Pflicht zur Ausstattung der gesamten Fahrzeugflotte mit einem sog. Abbiegeassistenzsystem, unabhängig von ihrem Einsatz für den vergebenen Auftrag. Da nach Kenntnis der Stadt die am Markt verfügbaren Nachrüstlösungen nicht auf Lkw bestimmter Hersteller beschränkt sind, ist kein Ausschluss einzelner Betriebe vom Wettbewerb um öffentliche Aufträge zu befürchten.
Als sinnvolle Maßnahme für eine Verbesserung bereits in der aktuellen Situation kommt aus Sicht des Baureferates die verbindliche Verwendungeines Kamera-Monitorsystems zur Überwachung des rechten Abbiegebereiches von Lkw ab 7,5 t in Betracht. Das System besteht aus einer frontseitigen Farbkamera an der rechten Ecke des Fahrerhauses, deren Aufnahmewinkel den Gefahrbereich seitlich im Abbiegebereich des Lkw vollständig abdeckt und einem Flachbildmonitor am Fahrerplatz. Bei Betätigung des Blinkers rechts wird das Kamerabild auf den Monitor aufgeschaltet. Eine automatische Alarmierung des Fahrers bei Aufenthalt von Personen im Abbiegebereich erfolgt nicht.
Der Fahrer erhält unter weitgehender Ausschaltung des toten Winkels ein umfassendes Sichtfeld auf den Abbiegebereich.
Aktuell sind mehr als 90Prozent der schweren Lkw (ab 7,5 t) des Baureferates mit dem Kamera-Monitor-System ausgestattet; das System hat sich bewährt. Kamera-Monitorsysteme eignen sich auch für Nachrüstungen. Pro Lkw sind ca. 2.500 Euro zu veranschlagen.
Die Kosten können von den Auftragnehmern bei der Angebotskalkulation berücksichtigt, das heißt wirtschaftlich auf die Auftraggeber umgelegt werden.
Auch bei der Vergabe von Liefer- und Dienstleistungen ist die Verpflichtung der Auftragnehmer zu einer Verwendung von sog. Abbiegeassistenzsystemen zulässig. Die Vergabestelle 1 weist darauf hin, dass es bei der Vergabe von bestimmten Einzelleistungen zu größeren Problemen kommen könnte. Denn weder die Vergabestelle noch die Auftragnehmer können mit vertretbarem Aufwand gewährleisten, dass eine Anlieferung über die gesamte Lieferkette mit einem entsprechend ausgestatteten Fahrzeug geschieht. Zudem ist die Ausstattung am Fahrzeug nur durch Fachpersonal zu erkennen. Weniger problematisch ist die Forderung nach sog. Abbiegeassistenzsystemen bei längerfristigen oder wiederkehrenden Dienstleistungen im Auftrag der Stadt. Bei solchen Aufträgen beschaffen die Auftragnehmer häufig die Fahrzeuge explizit für die Abwicklung dieses Auftrags oder statten sie entsprechend aus.
Wie dargestellt bietet das Vergaberecht unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, die fehlenden gesetzlichen Ausrüstungsvorschriften bei schweren Lkw (ab 7,5 t) im Hinblick auf die Verpflichtung zu einer Verwendung von sog. Abbiegeassistenzsystemen teilweise auszugleichen. Die Stadt wird daher bei der Vergabe von Bauleistungen, wo sinnvoll möglich, künftig sog. Abbiegeassistenzsysteme bei der Ausführung der Leistungen verlangen. Um kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) bei der Angebotsabgabe nicht zu verlieren, muss im Liefer- und Dienstleistungsbe-reich mittelfristig gedacht werden. Bei der Vergabe von Liefer- und Dienstleistungen werden daher sog. Abbiegeassistenzsysteme bei der Ausführung der Leistungen künftig schrittweise und orientiert an der Geeignetheit des Auftrags von den Auftragnehmern gefordert.
Flächendeckend und damit um ein Vielfaches effektiver wäre allerdings eine gesetzliche Ausrüstungsvorschrift für Lkw ab 7,5 t zulässigem Gesamtgewicht.
Von den vorstehenden Ausführungen bitte ich Kenntnis zu nehmen und gehe davon aus, dass die Angelegenheit damit abgeschlossen ist.