Der diesjährige Geschwister-Scholl-Preis wird an den Historiker Götz Aly für sein Buch „Europa gegen die Juden 1880-1945“ vergeben. Mit dem in diesem Jahr zum 39. Mal vergebenen Geschwister-Scholl-Preis wird jährlich ein Buch ausgezeichnet, das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen und intellektuellen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben. Der mit 10.000 Euro dotierte Preis wird gemeinsam von der Stadt und dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels - Landesverband Bayern vergeben. Der Empfehlung der Jury ist der Kulturausschuss in seiner Sitzung am 20. September gefolgt.
Die Jury begründete ihre Entscheidung wie folgt:
„Die Erforschung der Verbrechen des Nationalsozialismus hat der Historiker Götz Aly mit bedeutenden Büchern vorangetrieben, darunter „Vordenker der Vernichtung“ (1991, mit Susanne Heim), „Hitlers Volksstaat“ (2005) und „Warum die Deutschen, warum die Juden?“ (2011). In seinem jüngsten Buch „Europa gegen die Juden 1880-1945“ zieht er eine Art von Summe – indem er eine markante These zu den Möglichkeitsbedingungen des Holocaust umfassend belegt und begründet, mit ganz Europa im Blick. Der Antisemitismus war demnach nicht die Sache einer Minderheit von irrationalem Hass getriebener Fanatiker. Für die Verdrängung der Juden aus dem bürgerlichen Leben gab es rationale Gründe – rational im Sinne von: erklärbar, aus den materiellen Interessen derjenigen, die von der Beseitigung der Konkurrenz profitierten. Mit verblüffendem Effekt zitiert Aly aus der prophetischen Geschichtsschreibung des bayerischen Finanzbeamten Siegfried Lichtenstaedter, der 1942 in Theresienstadt ermordet wurde. Es war möglich, den Holocaust vorauszusagen. Dann hätte er auch verhindert werden können. Und dann sollte es wenigstens möglich sein, ihn zu erklären.
Der Neid auf die als besonders tüchtig wahrgenommenen Juden ist auch nach Aly nicht die einzige Ursache dafür, dass Vorurteile im Völkermord kulminierten. Aber von dieser Ursache ist zu selten die Rede: So hässlich der Neid aussieht, er ist mit Werten verknüpft, die heute noch hochgehalten werden. Einwanderungsbeschränkungen und Berufsverbote waren sozialpolitische Maßnahmen, die in Gesellschaften des massenhaften sozialen Aufstiegs im Namen der Chancengleichheit ergriffen wurden. Heute wird in der Flüchtlingspolitik ein Widerstreit zwischen humanitären Imperativen und sozialstaatlichen Besitzständen beschworen. Alys Kapitel über die Konferenz von Évian 1938 liest sich in diesem Sinne als Lehrstück. Welche Lehre daraus zu ziehen ist, müssen Leserinnen und Leser selbst entscheiden. In einem Zeitungsartikel über Évian hat Aly in diesem Sinne den Historiker Aly vom Bürger Aly unterschieden.
Der Historiker hat die Forschung als Außenseiter geprägt, ohne Lehrstuhl und Apparat. Der Bürger sucht als Publizist den Streit, weil er auf dessen klärende Wirkung setzt. Manchmal streitet der Historiker Aly sogar mit dem Bürger Aly. Auch damit setzt Götz Aly ein Beispiel für geistige Unab- hängigkeit und intellektuellen Mut.“ Der Jury unter dem Vorsitz von Kulturreferent Dr. Hans-Georg Küppers und Michael Then, Vorsitzender des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern, gehörten 2018 an: Patrick Bahners (FAZ / Büro München), Niels Beintker (BR), Jobst-Ulrich Brand (Focus), Ulrich Dombrowsky (Buchhändler, Regensburg), Andreas Isenschmid (Journalist, Literaturkritiker), Michael Krüger (Schriftsteller und Publizist), Thomas Rathnow (DVA), Dr. Michael Schmitt (3sat / Kulturzeit), Professorin Dr. Paula-Irene Villa (LMU / Soziologie) und Sonja Zekri (Süddeutsche Zeitung) sowie von Seiten des Stadtrats Klaus Peter Rupp (SPD-Fraktion), Marian Offman (CSU-Fraktion) und Dr. Florian Roth (Fraktion Die Grünen – rosa Liste). Beratende Mitglieder waren neben Dr. Hildegard Kronawitter (Weiße Rose Stiftung e. V.) die Stadträtinnen Ulrike Grimm (CSU-Fraktion) und Dr. Constanze Söllner-Schaar (SPD-Fraktion).
Die Verleihung des Preises findet im Rahmen des Literaturfests München (14. November bis 2. Dezember) am Montag, 19. November, vor geladenen Gästen statt.
Eine öffentliche Lesung ist für Dienstag, 20. November, 20 Uhr, in der Buchhandlung Lehmkuhl, Leopoldstraße 45, geplant.
Nähere Informationen beim Kulturreferat der Landeshauptstadt München, Katrin Dirschwigl, Telefon 233-2 11 96, katrin.dirschwigl@muenchen.de, und beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern, Barbara Voit, Telefon 29 19 42 41, voit@buchhandel-bayern.de sowie im Internet unter www.geschwister-scholl-preis.de. Informationen zum Literaturfest unter www.literaturfest-muenchen.de.