Der Historiker Götz Aly wird für sein Buch „Europa gegen die Juden. 1880–1945“ mit dem diesjährigen Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Die Verleihung findet am Montag, 19. November, durch Oberbürgermeister Dieter Reiter im Rahmen des Literaturfestes München in der Ludwig-Maximilians-Universität, Geschwister-Scholl-Platz 1, vor geladenen Gästen statt. Mit dem gemeinsam vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern und der Landeshauptstadt München vergebenen und mit 10.000 Euro dotierten Preis wird jährlich ein Buch ausgezeichnet, das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen und intellektuellen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben. Eine öffentliche Lesung mit dem Preisträger findet am Dienstag, 20. November, 20 Uhr, in der Buchhandlung Lehmkuhl, Leopoldstraße 45, statt. Der Eintritt beträgt 7 Euro. Karten sind über die Buchhandlung Lehmkuhl, Telefon 3 80 15 00 oder über München Ticket erhältlich.
Die Jury begründete ihre Entscheidung wie folgt:
„Die Erforschung der Verbrechen des Nationalsozialismus hat der Historiker Götz Aly mit bedeutenden Büchern vorangetrieben, darunter ‚Vordenker der Vernichtung‘ (1991, mit Susanne Heim), ‚Hitlers Volksstaat‘ (2005) und ‚Warum die Deutschen, warum die Juden?‘ (2011). In seinem jüngsten Buch ‚Europa gegen die Juden 1880-1945‘ zieht er eine Art von Summe – indem er eine markante These zu den Möglichkeitsbedingungen des Holocaust umfassend belegt und begründet, mit ganz Europa im Blick. Der Antisemitismus war demnach nicht die Sache einer Minderheit von irrationalem Hass getriebener Fanatiker. Für die Verdrängung der Juden aus dem bürgerlichen Leben gab es rationale Gründe – rational im Sinne von: erklärbar, aus den materiellen Interessen derjenigen, die von der Beseitigung der Konkurrenz profitierten. Mit verblüffendem Effekt zitiert Aly aus der prophetischen Geschichtsschreibung des bayerischen Finanzbeamten Siegfried Lichtenstaedter, der 1942 in Theresienstadt ermordet wurde. Es war möglich, den Holocaust vorauszusagen. Dann hätte er auch verhindert werden können. Und dann sollte es wenigstens möglich sein, ihn zu erklären.
Der Neid auf die als besonders tüchtig wahrgenommenen Juden ist auch nach Aly nicht die einzige Ursache dafür, dass Vorurteile im Völkermord kulminierten. Aber von dieser Ursache ist zu selten die Rede: So hässlich der Neid aussieht, er ist mit Werten verknüpft, die heute noch hochgehalten werden. Einwanderungsbeschränkungen und Berufsverbote waren sozial-
politische Maßnahmen, die in Gesellschaften des massenhaften sozialen Aufstiegs im Namen der Chancengleichheit ergriffen wurden. Heute wird in der Flüchtlingspolitik ein Widerstreit zwischen humanitären Imperativen und sozialstaatlichen Besitzständen beschworen. Alys Kapitel über die Konferenz von Évian 1938 liest sich in diesem Sinne als Lehrstück. Welche Lehre daraus zu ziehen ist, müssen Leserinnen und Leser selbst entscheiden. In einem Zeitungsartikel über Évian hat Aly in diesem Sinne den Historiker Aly vom Bürger Aly unterschieden.
Der Historiker hat die Forschung als Außenseiter geprägt, ohne Lehrstuhl und Apparat. Der Bürger sucht als Publizist den Streit, weil er auf dessen klärende Wirkung setzt. Manchmal streitet der Historiker Aly sogar mit dem Bürger Aly. Auch damit setzt Götz Aly ein Beispiel für geistige Unabhängigkeit und intellektuellen Mut.“
Weitere Informationen unter: www.geschwister-scholl-preis.de.