Justiziable Qualitätsstandards entwickeln – Hearing zu Problemen in der Pflege
Antrag Stadtrats-Mitglieder Johann Altmann, Dr. Josef Assal, Eva Caim, Richard Progl und Mario Schmidbauer (Fraktion Bayernpartei) vom 12.9.2017
Antwort Sozialreferentin Dorothee Schiwy:
Nach § 60 Abs. 9 GeschO dürfen sich Anträge ehrenamtlicher Stadtratsmitglieder nur auf Gegenstände beziehen, für deren Erledigung der Stadtrat zuständig ist. Sie beantragen zeitnah ein Hearing zu den aktuellen Problemen in der gesundheitlichen und pflegerischen Daseinsfürsorge durchzuführen. Als Ziel wird angegeben, praxistaugliche Lösungen zu finden, Projekte zu initiieren und zu finanzieren. Die Ergebnisse sind auf Landes- und Bundesebene zu kommunizieren. Zu Ihrem Antrag vom 12.9.2017 teilen wir Ihnen mit, dass Ihrem Anliegen bereits durch Maßnahmen des Gesetzgebers zur Entwicklung von Expertenstandards und der Verwaltung mit der Förderung der Umsetzung in der Praxis entsprochen wurde. Es handelt sich daher um keine stadtratspflichtige Angelegenheit.
Zu Ihrem Antrag vom 12.9.2017 teile ich Ihnen aber Folgendes mit:
In Ihrem Antrag nehmen Sie Bezug auf die Qualitätsberichte der Münchner Heimaufsicht sowie der Beschwerdestelle für Probleme in der Altenpflege und fordern zum Umgang mit Psychopharmaka sowie zum Thema Dekubitus verlässliche, justiziable Qualitätsstandards zu entwickeln.
In der Landeshauptstadt München gibt es zu dieser Thematik bereits einige Aktivitäten. So hat sich im November 2013 die „Initiative München, Psychopharmaka in Alten- und Pflegeheimen“ gebildet und am 6.11.2014 einen viel beachteten und erfolgreichen Fachtag zum Thema „Einsatz von Psychopharmaka mit sedierender Wirkung“ durchgeführt. Das Betreuungsgericht München verlangt seit 2017 von den Berufsbetreuerinnen und Berufsbetreuern die Vorlage des ärztlichen Medikamentierungsplans und überprüft diesen auf Medikamente mit potenziell freiheitsentziehender Wirkung, die letztlich zu legitimieren sind. Dem folgten und folgen Fachveranstaltungen bei Heimträgern, z.B. bei der MÜNCHENSTIFT GmbH in Kooperation mit der städtischen Betreuungsstelle.
Der Münchner Stadtrat hat darüber hinaus 50.000 Euro zur Verfügung gestellt, um eine entsprechende Studie zu finanzieren (Sitzungsvorlage Nr. 14-20/V 03179). Diese Studie wird durch das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege beauftragt und zur Hälfte durch das Sozialreferat finanziert. Die sich ergebenden Handlungsempfehlungen werden anschließend veröffentlicht. Sie fließen in die gemeinsamen Bestrebungen, freiheitsentziehende Maßnahmen nicht nur durch körpernahe Fixierungen sondern auch durch die Gabe von Psychopharmaka oder den Off – Label Use von Antihistaminika (Verordnung eines Fertigarzneimittels außerhalb des zugelassen Gebrauchs) zu verringern, ein.
Das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) an der Hochschule Osnabrück entwickelt, konsentiert und implementiert seit Jahren für alle Einsatzfelder der Pflege evidenzbasierte Expertenstandards, d.h. auf dem Stand pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse. Expertenstandards, wie der erste zur „Decubitusprophylaxe“ (Vorbeugen vor Wundliegen, örtlich begrenzter Schädigung der Haut und/oder des darunterliegenden Gewebes) aus dem Jahr 2004, dienen seit Jahren vor Gericht sowie bei gutachterlicher Tätigkeit als fachliche Grundlage.
Durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz von 2008 wurden Expertenstandards als vorgeschriebene Instrumente der Qualitätssicherung und -entwicklung der Qualität in der Pflege gesetzlich verankert (§113a SGB XI, Pflegeversicherungsgesetz, Expertenstandards zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität in der Pflege). Der erste Expertenstandard auf dieser gesetzlichen Grundlage wird zurzeit vom DNQP erarbeitet und befasst sich mit dem Thema „Erhalt und Förderung der Mobilität“. Das bedeutet, dass sich sowohl Pflegewissenschaft als auch Landes- und Bundespolitik des Themas angenommen haben und an den Qualitätsstandards für Kliniken und Langzeitpflege arbeiten.
Das Kreisverwaltungsreferat teilt hierzu mit:
„In der deutschen Rechtsprechung stellen die gegenwärtig vorhandenen acht Expertenstandards in der Pflege (zur Dekubitusprophylaxe, zum Entlassungsmanagement, zum Schmerzmanagement bei akuten und chronischen Schmerzen, zur Sturzprophylaxe, zur Förderung der Harnkontinenz, zur Versorgung chronischer Wunden und zum Ernährungsmanagement) den anerkannten und aktuellen Stand der Pflegeforschung dar. Sie gelten als Maßstab pflegerischer Sorgfalt und werden bei Nichtbeachtung von der Rechtsprechung als Sorgfaltspflichtverstoß und damit als Fahrlässigkeit bewertet.
Die FQA/Heimaufsicht legt bei den Prüfungen der angemessenen Qualität der pflegerischen Versorgung diese Standards zugrunde. Werden Verstöße gegen die geltenden Expertenstandards festgestellt, stellt dies auch einen Verstoß gegen die gesetzlichen Qualitätsanforderungen des Pflege- und Wohnqualitätsgesetzes (PfleWoqG) dar und wird in den Bescheiden (Prüfberichten) als Mangel festgestellt.
Die Entwicklung weiterer Expertenstandards wie beispielsweise zum Umgang mit Psychopharmaka oder zur Förderung einer angemessenen individuellen Lebensgestaltung wären aus Sicht der FQA ebenso wünschenswert, wie die Veröffentlichung des Standards zur Erhaltung und Förderung der Mobilität, da dieser erst mit der Veröffentlichung im Bundesanzeiger für alle Pflegedienste und Pflegeeinrichtungen in Deutschland verbindlich wird.
Im Bereich Umgang mit Psychopharmaka darf auf die geplante dreijährige Studie des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege und des Sozialreferates München hingewiesen werden. Ziel der Studie ist, dass die mit der Durchführung der Studie beauftragte Katholische Stiftungshochschule eine wissenschaftlich fundierte Ist- Analyse sowie mögliche Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Psychopharmaka erarbeitet, was dann gegebenenfalls als Grundlage für die Entwicklung eines entsprechenden Expertenstandards dienen könnte.“
Die Umsetzung entsprechender Qualifizierungsmaßnahmen obliegt im Rahmen der Personalentwicklung den Einrichtungen, in denen gepflegt wird. Auf die Arbeitsbedingungen in den Einrichtungen im Gesundheitswesen haben die Träger entscheidenden Einfluss. Durch Maßnahmen in den Organisationsentwicklungen können diese verbessert werden. In München gibt es mehrere Fort- und Weiterbildungsinstitute, die sich auf den Bereich Pflege spezialisiert haben und bedarfsgerechte Fortbildungen und Organisationsberatung anbieten. Das Sozialreferat fördert dahingehend die Langzeitpflege, führt entsprechende Projekte wie zum Qualifikationsmix in der vollstationären Pflege durch („Qualitätsoffensive stationäre Altenpflege der Landeshauptstadt München“, Sitzungsvorlage Nr. 08-14/V 10352) oder unterstützt Studien („Konzeptentwurf zur Durchführung einer Studie zur Verschreibung und Verabreichung von Psychopharmaka in der vollstationären Pflege“, Sitzungsvorlage Nr. 14-20/V 03179).
Der Runde Tisch Pflege befasst sich im Referat für Gesundheit und Umwelt mit dem Fachkraftmangel in der Krankenpflege sowie bei Hebammen und Entbindungspflegern. Daran nehmen neben Vertretungen der Kliniken auch Vertretungen von Berufsfachschulen, Hochschulen, der Freien Wohlfahrtspflege sowie des Sozialreferats teil. Diskutiert wird unter anderem, welche Rahmenbedingungen jeder Arbeitgeber selbst verbessern kann, um Personal zu gewinnen und zu binden.Bezüglich der fairen Bezahlung bleibt abzuwarten, ob die nächste Bundesregierung hier weitere Akzente setzt. In der Langzeitpflege hat die letzte Reform der Pflegeversicherung eine Anerkennung von Tariflöhnen in den Pflegesatzverhandlungen gebracht. Wichtig ist nun, dass einerseits die Arbeitgeber dies umsetzen und andererseits in den Pflegesatzverhandlungen dies zu bewährter und anerkannter Praxis führt.
Wenngleich der Einsatz für würdevolle Rahmenbedingungen für pflegebedürftige Menschen und beruflich Pflegende noch lange nicht beendet ist, so wird doch deutlich, dass zunehmend nicht nur in München, sondern auch durch den Bundesgesetzgeber entsprechende Maßnahmen ergriffen werden und greifen.
Die Durchführung eines Hearings „Justiziable Qualitätsstandards entwickeln – Hearing zu Problemen in der Pflege“ erscheint vor dem Hintergrund, dass evidenzbasierte Expertenstandards bestehen, weiter entwickelt werden und eine entsprechende Handlungsgrundlage darstellen und entsprechende Aktivitäten in der Stadtverwaltung bereits unternommen werden, als nicht zielführend.
Ich hoffe, auf Ihr Anliegen hinreichend eingegangen zu sein. Ich gehe davon aus, dass die Angelegenheit damit abgeschlossen ist.