Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit bei älteren Menschen: Hilfsangebote ausweiten!
Antrag Stadtrats-Mitglieder Simone Burger, Anne Hübner, Verena Dietl, Christian Müller, Cumali Naz und Dr. Constanze Söllner-Schaar (SPD-Fraktion) vom 6.2.2019
Antwort Stephanie Jacobs, Referentin für Umwelt und Gesundheit:
Sie beantragen, dem Stadtrat ein Maßnahmenpaket zum Umgang mit Alkohol- und Medikamentenmissbrauch bei älteren Menschen vorzulegen, mit einem Schwerpunkt auf die Schaffung speziell auf diese Altersgruppe ausgerichteter Angebote, die eine Behandlung der Suchterkrankung bieten oder einen lebenswerten Umgang mit den Folgen der Abhängigkeit ermöglichen. Dabei sollen weitere Akteure in der Versorgung älterer Menschen mit einbezogen werden. Orientierung kann das Projekt „Suchtgefährdete Alte Menschen“ (SAM) in Nürnberg bieten.
Ihr Einverständnis vorausgesetzt, erlaube ich mir Ihren Antrag als Brief zu beantworten.
Zu Ihrem Antrag vom 6.2.19 teilen wir Ihnen in Abstimmung mit dem Sozialreferat, dem Seniorenbeirat und der Gleichstellungsstelle für Frauen Folgendes mit:
Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit treten in allen Phasen des Erwachsenenalters und somit auch im höheren Lebensalter auf. Zwar liegen kaum belastbare Datenquellen zu Suchterkrankungen im Alter vor, weil in den Erhebungen zu Suchtmittelkonsum die höheren Altersgruppen meist nicht erfasst werden. Oft wird nur eine Unterscheidung von „65 Jahre und älter“ vorgenommen, die den unterschiedlichen Lebenssituationen älterer, alter und hochbetagter Menschen nicht gerecht wird. Zudem werden in der Regel alte Menschen, die in Institutionen wie z.B. vollstationären Pflegeeinrichtungen leben, in Bevölkerungsuntersuchungen nicht einbezogen.
Dennoch ist davon auszugehen, dass ein nicht unerheblicher Teil der älteren Bevölkerung Alkohol und Medikamente in einer zumindest riskanten Weise gebraucht und entsprechender Hilfebedarf besteht. So wurden im Jahr 2013 in der „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ des Robert Koch-Instituts auch Daten zum riskanten Alkoholkonsum höherer Altersgruppen erhoben. Danach ist dieser zwar bei älteren Menschen seltener als in anderen Altersgruppen. Jedoch gaben 34,4 Prozent der Män-ner und 18 Prozent der Frauen zwischen 65 und 79 Jahren gesundheitlich riskante Trinkmengen an.
Einen weiteren Hinweis liefert eine Befragung der vollstationären Pflegeeinrichtungen in München im Rahmen des sechsten Marktberichts Pflege des Sozialreferats aus dem Jahr 2016. Dort gaben die Leitungen von 37 der 57 Einrichtungen an, einen Bedarf an Unterstützung für Bewohnerinnen und Bewohner zu sehen, die sie als suchtgefährdet oder suchtkrank einschätzen.
Darüber hinaus ist zu erwarten, dass die Zahl der suchtgefährdeten und suchtkranken älteren Menschen aufgrund der demographischen Entwicklung steigen wird. Dabei wird es einerseits Menschen geben, die erst in einem hohen Lebensalter suchtkrank werden, wenn etwa ein durchschnittlicher Alkoholkonsum oder eine Medikamenteneinnahme durch ein krisenhaftes Lebensereignis in ein abhängiges Konsumverhalten übergeht. Andererseits wird es – bedingt durch die verbesserte (sucht-)medizinische Versorgung – künftig auch mehr Menschen geben, die bereits in jungen Jahren abhängig und dann mit der Erkrankung alt wurden, wobei sie über Jahrzehnte hinweg starke gesundheitliche, psychische und soziale Beeinträchtigungen erworben haben. In beiden Fällen ist zu beachten, dass es Unterschiede zwischen Männern und Frauen bezüglich der Suchtmittel sowie der eigenen und gesellschaftlichen Reaktion auf einen Missbrauch bzw. eine Abhängigkeit gibt, die die Entstehung und Wahrnehmung des Problems sowie das Hilfesuchverhalten unterschiedlich ausprägen. Die Planung von Angeboten muss diesen Unterschied beachten und genderspezifische Herangehensweisen einbeziehen.
Es ist somit von einem vielschichtigen Hilfebedarf auszugehen, der von stationärer Entwöhnungsbehandlung über begleitete Konsumreduktion bis zu Unterstützung beim Leben mit der Erkrankung reicht und durch das vielfältige Münchner Suchthilfesystem grundsätzlich abgedeckt werden kann.
Die Hilfseinrichtungen für suchtkranke Menschen wie beispielhaft die Suchtberatungsstellen stehen dabei generell allen Altersgruppen offen. Gleichwohl werden die Angebote von älteren Menschen vergleichsweise wenig genutzt. So waren im Jahr 2018 von den zirka 9.000 Menschen, die die Angebote der Suchtberatungsstellen in München genutzt haben, weniger als 700 Personen älter als 60 Jahre. Gemessen an der Zusammensetzung der Münchner Bevölkerung ist dies ein zu geringer Anteil. Scham und Schwellenängste halten Betroffene von der Nutzung der Angebote ab. Darüber hinaus fehlt häufig das Bewusstsein für einen problematischenUmgang mit Alkohol und Medikamenten und es bestehen zu wenige
Kenntnisse über die Einrichtungen und Angebote der Suchthilfe.
Dies gilt sowohl für die älteren Menschen selbst und ihre Angehörigen sowie für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte und Einrichtungen der Altenhilfe und Pflege. Neben einem erleichterten Zugang zum Hilfesystem für die Betroffenen ist deshalb auch die Früherkennung und Frühintervention in Arztpraxen und durch Fachkräfte der Altenhilfe und der Pflege zu fördern. Zusätzlich ist die Verschreibung von Medikamenten mit Abhängigkeitspotential insbesondere durch Fachärztinnen und -ärzte für Allgemeinmedizin zu reduzieren, indem etwa bei psychischen Störungen verstärkt Psychotherapie und psychosoziale Unterstützung eingeleitet wird.
In München wurden in den letzten Jahren mehrere Angebote spezifisch für ältere suchtkranke Menschen etabliert, von denen einige die Behandlung und Überwindung der Suchterkrankung zum Ziel haben, andere Unterstützung bei einer noch bestehenden Suchterkrankung bieten:
-Die CIP Fachambulanz bietet Beratung bei Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit, ambulante Entwöhnungsbehandlung, Nachsorge nach stationärer Entwöhnung und Selbsthilfegruppen während und nach der Behandlung. Speziell für ältere Menschen werden altershomogene Therapiegruppen angeboten.
Das Zentrum für Altersmedizin des kbo-Isar-Amper-Klinikums München-Ost bietet stationäre Behandlung für ältere Suchtkranke. Das Behandlungskonzept für ältere Abhängigkeitserkrankte berücksichtigt die seelische und körperliche Leistungsfähigkeit älterer Menschen sowie die altersbedingt vielschichtigen Symptome aufgrund von Begleit- und Folgeerkrankungen.
-Die Caritas Fachambulanz für erwachsene Suchtkranke bietet mit dem Programm 60+ eine Informations- und Motivationsgruppe, Therapiegruppen sowie Selbsthilfegruppen für ältere Menschen an. Im „Ambulant Betreuten Wohnen 60+“ erhalten suchterkrankte ältere Menschen Unterstützung in vielen Bereichen des täglichen Lebens durch Hausbesuche und Begleitungen außer Haus.
-„VielFalten“, ein Angebot des Frauentherapiezentrums, umfasst eine Beratungsstelle und Betreutes Einzelwohnen für sucht- und seelisch erkrankte Frauen ab 60 Jahren. Diese erhalten Unterstützung durch telefonische und persönliche Beratung sowie Haus- und Klinikbesuche,die ihnen ein weitestgehend selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Die Erfahrungen zeigen, dass der frauenspezifische Ansatz geeignet ist, individuelle Beschämung und die besondere Stigmatisierung von Abhängigkeitserkrankungen von Frauen zu überwinden und sie zur Annahme von Hilfe zu motivieren. Darüber hinaus ist die parteiliche Haltung hilfreich zur erweiterten Reflexion und Lösung von Abhängigkeitsstrukturen im Leben der Frauen.
Das Referat für Gesundheit und Umwelt betreibt eine eigene Suchtberatungsstelle, fördert eine Vielzahl von Suchthilfeeinrichtungen der freien Wohlfahrtspflege und unterstützt diese durch Übernahme von Koordinierungsaufgaben. In diesem Zusammenhang wird der spezifische Bedarf von alten Menschen thematisiert und die Erweiterung der Angebote zu ihren Gunsten gefördert.
Auch die Angebote der Pflege, der Altenhilfe und andere soziale Dienste unterstützen suchtkranke ältere Menschen. Das Sozialreferat führt hierzu aus:
„Das Sozialreferat der Landeshauptstadt München unterstützt durch verschiedene finanzielle Förderungen, Programme und Projekte ambulante Pflegedienste, teil- und vollstationäre Pflegeeinrichtungen. Auch Fortbildungen oder Supervision zum Thema Umgang mit Suchterkrankungen werden gefördert.
Neben den vollstationären Pflegeeinrichtungen sind in München die Einrichtungen der offenen Altenhilfe etabliert. Diese Angebote stehen allen älteren Menschen offen. Das bedeutet, dass auch Menschen mit Suchtproblemen wie z. B. Medikamentenabhängigkeit dorthin kommen und die vielfältigen und niederschwelligen Angebote der Beratung und Information in Anspruch nehmen können – auch ohne ihre Problematik unmittelbar offen legen zu müssen.
Der Vorteil der Einrichtungen der offenen Altenhilfe ist zudem, dass sie flächendeckend organisiert und damit für ältere Menschen leicht erreichbar sind. Sie sind bei älteren Menschen und ihren Angehörigen in hohem Maße bekannt.
In allen Einrichtungen können sich ältere Menschen von sozialpädagogischem Fachpersonal beraten lassen. Sollte im Rahmen dieser Beratung eine Suchtproblematik deutlich werden, werden die Betroffenen auf bestehende Fachdienste der Suchthilfe hingewiesen und auf Wunsch dort-hin vermittelt. Durch die ‚Präventiven Hausbesuche‘ der Alten- und Service-Zentren (ASZ) und die Hausbesuche der Beratungsstellen für ältere Menschen und Angehörige werden auch Menschen erreicht, die bisher noch nicht in die ASZ bzw. in die Beratungsstellen kommen. In den ASZ finden überdies Informationsveranstaltungen zu den Themen Sucht und psychische Veränderungen statt. Weiterhin können sich dort Selbsthilfegruppen wie ‚Anonyme Alkoholiker‘ und ‚Al-Anon‘ treffen.
Ältere Menschen mit einer Suchtproblematik gehören selbstverständlich zum Klientel der Bezirkssozialarbeit (BSA) und der Fachstellen häusliche Versorgung (FhV). Sie kooperieren in der Fallarbeit gegebenenfalls mit den spezifischen Einrichtungen der Suchthilfe. Durch Teilnahme an den Örtlichen Arbeitsgemeinschaften Altenhilfe und den regionalen Psychosozialen Arbeitsgemeinschaften ist eine gute regionale Vernetzung mit vielen Akteuren gegeben und die Angebote, Problematiken und Möglichkeiten der jeweiligen Sozialregion bekannt. Den Mitarbeitenden der BSA und der FhV werden seit Jahren spezielle Fortbildungen im ‚Fortbildungsprogramm für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Sozialbürgerhäusern und der Zentralen Wohnungslosenhilfe‘ angeboten.“
Handlungsbedarf für die offene Altenhilfe sieht das Sozialreferat im Bereich von Schulungen für die Mitarbeitenden: Durch Fortbildungen können diese für die Früherkennung und die Ansprache alter Menschen mit Suchtproblemen qualifiziert werden und die im Umgang mit dieser Zielgruppe entstehenden Konflikte besser bewältigen. Dies fördert sowohl die Integration in Einrichtungen als auch die ambulante Unterstützung alter Menschen mit Suchtproblemen.
Auch im Bereich Pflege besteht Bedarf nach Fortbildung zum Thema Suchterkrankungen. Im oben erwähnten Sechsten Marktbericht Pflege wurden vollstationäre Pflegeeinrichtungen und Tagespflegeeinrichtungen durch das Sozialreferat befragt, welche Unterstützung sie für sich und ihre suchtkranken Bewohnerinnen und Bewohner benötigen oder wünschen. Dabei wurden Schulungen für Mitarbeitende und Beratung in Einzelfällen durch die Suchtberatungsstellen am häufigsten als hilfreich angesehen.
Der Antrag schlägt eine Orientierung am Projekt „Suchtgefährdete Alte Menschen“ (SAM) in Nürnberg vor. Träger des Projektes ist die Stadtmission Nürnberg. Gefördert wurde das Projekt vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege. Das Projekt umfasst drei Bausteine:
-Informations- und Selbsthilfegruppe für Angehörige mit regelmäßigen Treffen im Selbsthilfezentrum Nürnberg
-Organisationsentwicklung für Pflegeeinrichtungen – Handlungsleitfäden und Richtlinien für die Einrichtungen können erstellt werden
-Qualifizierung von Pflegepersonal – Die Einrichtungen können durch Supervision, Fallbesprechungen und Schulungen unterstützt werden.
Auch aus Sicht des Referats für Gesundheit und Umwelt und des Sozialreferats sind diese Bausteine grundsätzlich geeignet, um sowohl betroffene Menschen als auch Pflegeeinrichtungen im Umgang mit den Abhängigkeitserkrankungen zu unterstützen.Gleichzeitig wird für München keine Projektstruktur analog zu suchtgefährdeten alten Menschen (SAM) in Nürnberg vorgeschlagen, da die Vielzahl der Einrichtungen und Angebote in München dies nicht als sinnvoll erscheinen lässt. Mit einer Schwerpunktsetzung der Abteilung Angebote für sucht- und seelisch erkrankte Menschen des Referates für Gesundheit und Umwelt wird jedoch insbesondere fachliche Unterstützung für die Pflege und Altenhilfe realisiert.
Dies erfolgt zum einen durch eine Schulung für Mitarbeitende von Pflegeeinrichtungen, die nach der Befragung im Marktbericht Pflege (siehe oben) entwickelt wurde. Sie wird durch die Suchtberatung des Referates für Gesundheit und Umwelt durchgeführt und beinhaltet sowohl den fachgerechten Umgang mit Suchtkranken als auch Hinweise, wie eine Pflegeeinrichtung sich strukturell mit dem Thema Suchterkrankungen auseinandersetzen kann. Schrittweise wird diese Schulung weiteren Pflegeeinrichtungen sowie den Angeboten der offenen Altenhilfe angeboten werden. Dabei sollen auch weitere Träger der Suchthilfe einbezogen werden.
Des Weiteren erstellt das Referat für Gesundheit und Umwelt Informationsmaterial, das sich gezielt an ältere Menschen und Mitarbeitende der Pflege und der Altenhilfe richtet. Dies soll die Angebote der Suchthilfe – und dabei insbesondere jene auf das höhere Lebensalter ausgerichteten – vorstellen und zur Annahme der Hilfen motivieren. Die Information wird darüber hinaus in geeigneten Fachgremien vermittelt und bei Bedarf vertieft werden.
Bei diesen Vorhaben und in der weiteren Konzeptentwicklung wird das Referat für Gesundheit und Umwelt durch das Amt für Soziale Sicherung unterstützt. Das Sozialreferat weist jedoch darauf hin, dass allen Maßnahmen durch die enge Personalsituation in der Pflege Grenzen gesetzt sind. Eine nachhaltige Implementierung erfordert eine gute Personalbesetzung und ausreichend Zeitressourcen. Bei der gegenwärtigen Personalknappheitsind diese Voraussetzungen nicht immer gegeben, dies muss bei der Planung berücksichtigt werden. Die Begrenzung der Initiativen in diesem Feld durch knappe Personalressourcen gilt auch für das Sozialreferat sowie das Referat für Gesundheit und Umwelt.
Der Antrag fordert darüber hinaus eine Einbeziehung der Hausärztinnen und -ärzte. Diese sind für ältere Menschen in der Regel der wichtigste Anlaufpunkt bei gesundheitlichen Fragen und damit oftmals in der Lage, Suchtgefährdungen frühzeitig zu erkennen. Um Hausärztinnen und -ärzten zu ermöglichen, zielgerichtet an die Angebote der Suchthilfe zu vermitteln, wurde durch das Referat für Gesundheit und Umwelt im Rahmen einer Veranstaltung des Ärztlichen Kreis- und Bezirksverbandes München (ÄKBV) das Suchthilfesystem erläutert und ein Informationsblatt über Anlaufstellen im Münchner Suchthilfesystem erstellt. Das Informationsblatt wurde zusätzlich in den Münchner Ärztlichen Anzeigen veröffentlicht und kann auf der Homepage des ÄKBV heruntergeladen werden.
Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit bei älteren Menschen findet bislang zu wenig Beachtung. Eine enge Zusammenarbeit von Suchthilfe, Altenhilfe und Pflege ist erforderlich, um suchtkranken alten Menschen adäquate Hilfe zukommen zu lassen und auch die beteiligten Fachkräfte zu unterstützen. Mit den beschriebenen Maßnahmen werden Früherkennung und Frühintervention gefördert und es wird älteren Menschen ermöglicht, ihre Suchterkrankung zu überwinden oder mit den Auswirkungen der Erkrankung besser zu leben. Das Referat für Gesundheit und Umwelt und das Sozialreferat werden die Entwicklung weiterer Angebote befördern und mit eigenen Angeboten unterstützen.
Um Kenntnisnahme der vorstehenden Ausführungen wird gebeten. Wir gehen davon aus, dass die Angelegenheit damit abgeschlossen ist.