Sind städtische Nachwuchskräfte von sexueller Belästigung/sexuellen Übergriffen betroffen?
Anfrage Stadtrats-Mitglieder Anja Berger, Angelika Pilz-Strasser, Dr. Florian Roth und Sebastian Weisenburger (Fraktion Die Grünen – Rosa Liste) vom 4.10.2019
Antwort Personal- und Organisationsreferent Dr. Alexander Dietrich:
Auf Ihre Anfrage vom 4.10.2019 nehme ich Bezug. Sie haben folgenden Sachverhalt vorausgeschickt:
In einem Gespräch mit der Gesamtjugendauszubildendenvertretung (GJAV) sei Ihnen von den Vertreter*innen berichtet worden, dass sie immer wieder Kenntnis von sexueller Belästigung/sexuellen Übergriffen (verbal wie physisch) auf Nachwuchskräfte erhalten würden. Viele der – meist weiblichen – Nachwuchskräfte wüssten nicht, wie sie mit den Situationen umgehen oder an wen sie sich wenden sollten. Da die Übergriffe z.T. von engen Kolleg*innen, Vorgesetzten oder auch von Ausbilder*innen begangen würden, seien viele Nachwuchskräfte in einer schwierigen Situation. Sprächen sie das Problem direkt an, so würden sie negative Folgen für ihre Ausbildung befürchten, sprächen sie es nicht an, so könnte der Eindruck entstehen, dass das Verhalten von Seiten der Nachwuchskraft akzeptiert würde. Oftmals wüssten die jungen Menschen nicht, welche Stellen innerhalb der Stadtverwaltung von ihnen aufgesucht werden könnten und ob sie dort auch anonym bleiben könnten.
Vorab möchte ich mitteilen, dass bereits vor der von Ihnen gestellten Stadtratsanfrage vom 4.10.2019 intensive Gespräche zwischen der beim Personal- und Organisationsreferat angesiedelten Zentralen Beschwerdestelle für sexuelle Belästigung und häusliche Gewalt (ZBSB), der Ausbildungsabteilung, der Gleichstellungsstelle für Frauen sowie der GJAV stattgefunden haben. Anlässlich Ihrer Anfrage fand dann kurzfristig ein weiteres Gespräch zwischen der ZBSB sowie der GJAV statt, um sich über Ideen und Lösungsvorschläge auszutauschen.
Bei der Beantwortung dieser Anfrage fand eine Abstimmung mit der Gleichstellungsstelle für Frauen statt, deren Beiträge an den entsprechenden Stellen eingefügt wurden.
Zu den im Einzelnen gestellten Fragen kann ich Ihnen Folgendes mitteilen:
Frage 1:
Wie sind aus Sicht der Stadtverwaltung sexuelle Belästigungen/sexuelle Übergriffe definiert?
Antwort:
Für das Arbeitsrecht findet sich im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) die für alle Beschäftigten geltende Definition von sexueller Belästigung: Hiernach ist sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz jedes unerwünschte, sexuell bestimmte, körperliche, verbale oder nonverbale Verhalten, das bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird (vgl. § 3 Abs. 4 AGG). Insbesondere unerwünschte sexuelle Handlungen oder Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen, auch mittels EDV, werden davon erfasst. Unerwünscht ist ein Verhalten grundsätzlich dann, wenn für die/den Handelnde/n erkennbar ist, dass die betreffende Person das Verhalten ablehnt. Allerdings muss die Unerwünschtheit der Verhaltensweise nicht bereits vorher ausdrücklich gegenüber der belästigenden Person zum Ausdruck gebracht worden sein. Vielmehr ist es ausreichend, wenn die/der Handelnde aus der Sicht einer/s objektiven Beobachterin/s davon ausgehen kann, dass ihr/sein Verhalten unter den gegebenen Umständen von der betroffenen Person nicht erwünscht ist bzw. nicht akzeptiert wird. Allein das subjektive Empfinden der betroffenen Person genügt jedoch nicht.
Der Ausdruck „sexuelle Belästigung“ fungiert als Oberbegriff der in § 3 Abs. 4 AGG benannten Handlungsweisen. Hiervon zu unterscheiden sind sogenannte „Grenzverletzungen“ (Enders, Grenzen achten – Schutz vor sexuellem Missbrauch in Institutionen, 2012, S. 32ff.). Bei solchen handelt es sich um Verhaltensweisen gegenüber einer Person, die deren persönliche Grenzen im Kontext eines Versorgungs-, Ausbildungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnisses überschreiten. Sie verletzen die Grenzen zwischen den Generationen, den Geschlechtern und/oder einzelnen Personen. Grenzverletzungen können unbeabsichtigt, ungewollt und aus Gedankenlosigkeit begangen werden, ohne dass dabei sexuelle Ziele verfolgt werden. Diese Fälle stellen keine sexuelle Belästigung dar. Grenzverletzungen sind im Alltag nie ganz zu vermeiden, aber korrigierbar, wenn die grenzverletzende Person dem Gegenüber mit einer grundlegend respektvollen Haltung begegnet, d.h. die mögliche Grenzverletzung thematisiert, sich entschuldigt und sich darum bemüht, eine solche in Zukunft zu unterlassen.Aus Gründen der Vereinheitlichung und unter Berücksichtigung des arbeitsrechtlichen Kontextes (Konsequenzen der Stadtverwaltung), legen wir bei der Beantwortung der nachfolgenden Fragen den gesetzlich definierten Oberbegriff der „sexuellen Belästigung“ gemäß § 3 Abs. 4 AGG zugrunde.
Frage 2:
Hat die Stadtverwaltung Kenntnis über Fälle von sexueller Belästigung/sexuellen Übergriffen auf Nachwuchskräfte?
Antwort:
Ja. Hierzu dürfen wir auf die Antworten zu den Fragen Nr. 3 bis 5 verweisen.
Der Gleichstellungsstelle für Frauen sind Fälle von sexueller Belästigung/ sexuellen Übergriffen auf Nachwuchskräfte bekannt.
Frage 3:
Wenn Frage 2 bejaht wurde, wie viele Fälle waren dies in den letzten 5 Jahren?
Antwort:
Seit Januar 2014 bis einschließlich September 2019 wurden von der ZBSB insgesamt 16 Beschwerden wegen Belästigung von Nachwuchskräften bei der Landeshauptstadt München aufgenommen. Davon ergaben die jeweiligen Aufklärungen folgende Ergebnisse: 7 Grenzverletzungen, 8 sexuelle Belästigungen sowie eine Falschbeschuldigung.
Aufgrund der vertraulichen und anonymen Beratung ist eine Bezifferung der von der Gleichstellungsstelle für Frauen beratenen Fälle nicht möglich.
Frage 4:
Wenn Frage 2 bejaht wurde, gab es darunter Fälle von sexueller Belästigung/sexuellen Übergriffen durch Vorgesetzte oder Ausbilder*innen?
Antwort:
11 der in Frage 3 benannten 16 Beschwerden richteten sich gegen Vorgesetzte bzw. Ausbilder*innen. Hiervon ergaben die Ermittlungen 7 Grenzverletzungen, 3 sexuelle Belästigungen sowie eine Falschbeschuldigung.
Bei den 5 übrigen Beschwerden von Nachwuchskräften gegen sonstige Kolleg*innen (inkl. anderer Nachwuchskräfte) stellten sich alle 5 als sexuelle Belästigung heraus.
Frage 5:
Wenn Frage 2 bejaht wurde, welche Konsequenzen wurden von Seiten der Stadtverwaltung vollzogen?
Antwort:
Die Dienstherrin Stadt München unternimmt alles, was im Rahmen ihrer Befugnisse möglich ist, um ihre städtischen Beschäftigten zu schützen. In Bezug auf die oben benannten Beschwerden wurden die erforderlichen dienst- und arbeitsrechtlichen Konsequenzen gezogen, welche jeweils in Abhängigkeit zur Schwere des Dienstvergehens standen. Zu den verhängten Einzelmaßnahmen zählten disziplinarische Maßnahmen gegenüber Beamten, Kontaktverbote, Abmahnungen, Umsetzungen, der Entzug der Anleitungs-/Ausbildungsfunktion sowie Personalgespräche. In gravierenden Fällen wurde die Kündigung des Arbeitsverhältnisses ausgesprochen.
Frage 6:
Ist die Stadtverwaltung der Auffassung, dass die gemeldete Zahl von Fällen von sexueller Belästigung/sexuellen Übergriffen der Realität entspricht oder gibt es in diesem Bereich noch eine Dunkelziffer? Wenn ja, wie hoch ist diese ungefähr?
Antwort:
Im Arbeitsrecht sind sogenannte Dunkelfeldstudien nicht bekannt, da diese originär dem Strafrecht entstammen (Dunkelfeld als Differenz zwischen amtlich registrierten Straftaten und der vermutlich tatsächlich begangenen Kriminalität). Hieraus folgt, dass eine Dunkelziffer in Bezug auf sexuelle Belästigungen gegenüber Nachwuchskräften in der Stadtverwaltung nicht konkret benannt werden kann. Nach realistischer Einschätzung muss allerdings davon ausgegangen werden, dass eine solche existiert, da die Hemmschwelle bei der Anzeige von sexuell konnotierten Delikten hoch ist und insbesondere Auszubildende in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zum Arbeitgeber stehen (Sorge um Übernahme nach der Ausbildung). Die Landeshauptstadt München wirkt daher jeder Form von sexueller Belästigung aktiv entgegen. In Bezug auf die konkreten Maßnahmen der Stadtverwaltung dürfen wir auf unsere Antwort zu Frage Nr. 5 sowie auf die Antworten der nachfolgenden Fragen Nr. 7 und 8 verweisen.
Frage 7:
An wen können sich Nachwuchskräfte (aber auch alle anderen Bediensteten) in Fällen von sexueller Belästigung/sexuellen Übergriffen wenden?
Antwort:
Bei der Landeshauptstadt München gibt es seit mehr als 15 Jahren die Zentrale Beschwerdestelle für sexuelle Belästigung (ZBSB) beim Personal- und Organisationsreferat. An diese können sich städtische Beschäftigte, Kundinnen und Kunden der Landeshauptstadt München, Schülerinnen und Schüler, Kinder aus städtischen Kindertagesstätten sowie deren Sorgeberechtigte wenden, wenn sie sich sexueller Belästigung durch städtische Beschäftigte ausgesetzt fühlen.
Folglich können sich auch städtische Nachwuchskräfte bei der ZBSB für eine Beratung melden. Die ZBSB bietet eine generell vertrauliche Beratung. Auch die Information der Dienststelle erfolgt nur im Einverständnis der/des Betroffenen. Die Inhalte der Gespräche bleiben vertraulich. Lediglich im Falle akuter Gefährdung der betroffenen Person selbst werden weitere Stellen eingeschaltet. Die Vertraulichkeit hinsichtlich der Dienststelle bleibt davon jedoch unberührt.
Erklären sich die Betroffenen zu einer offiziellen Beschwerde bereit, leitet die Beschwerdestelle die Vorwürfe an die Rechtsabteilung des Personal- und Organisationsreferates zur dienstrechtlichen Prüfung weiter. Erklären sich die Betroffenen hingegen nicht zu einer offiziellen Beschwerde bereit, leitet die Beschwerdestelle die Vorwürfe nicht weiter. In jedem Fall entwickelt die Beschwerdestelle mit den Betroffenen Strategien und Handlungsmöglichkeiten, wie sie sich gegen sexuelle Belästigungen und Grenzverletzungen zur Wehr setzen können.
Die Nachwuchskräfte und alle Beschäftigten der Stadt können sich außerdem an die Gleichstellungsstelle für Frauen sowie an die örtlichen Gleichstellungsbeauftragten wenden, um sich vertraulich und bei Bedarf auch anonym beraten zu lassen.
Frage 8:
Welches Informationsangebot gibt es von Seiten der Stadtverwaltung hinsichtlich dieses Themas? Werden Nachwuchskräfte gezielt auf dieses Thema angesprochen?
Antwort:
Die Stadtverwaltung verfolgt das Ziel, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Thema „sexuelle Belästigung“ zu sensibilisieren und präventiv hiergegen vorzugehen. Sämtliche Führungskräfte und Personalverantwortliche bei der Landeshauptstadt München sind zur Teilnahme an der Pflichtschulung „AGG – Antidiskriminierung im Arbeitsleben“ verpflichtet. Zudembesteht ein regelmäßiges Angebot für Führungskräfte zur Teilnahme an der Vertiefungsschulung „Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“. Sämtliche hauptamtlichen Ausbilderinnen und Ausbilder wurden bereits beim Personal- und Organisationsreferat geschult und für deren Aufgaben sensibilisiert. Zur Institution der ZBSB und deren Tätigkeit kann man sich ausführlich im Intranet der Landeshauptstadt München (WiLMA) informieren.
Des Weiteren ist ein Informationsschreiben/Merkblatt zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz sowie zur sexuellen Belästigung (Anlage) Bestandteil der Einstellungsunterlagen bei Neueinstellungen, auch bei solchen von Auszubildenden und Anwärter*innen. Dieses Merkblatt wird jeweils bei der Neueinstellung gegen Unterschrift ausgehändigt. Im Rahmen der Einführungsseminare erhält zudem bereits jetzt ein Großteil der Nachwuchskräfte mittels eines Folienvortrages Informationen über die ZBSB.
Geplante Maßnahmen:
Um sicherzustellen, dass neue Nachwuchskräfte bereits zu Beginn ihrer Tätigkeit bei der Landeshauptstadt München Informationen über die ZBSB erhalten, sollen diese fester Bestandteil des Ausbildungscurriculums werden.
Um alle Nachwuchskräfte zu erreichen, die bereits bei der Stadt tätig sind, wird zudem noch bis Ende Januar 2020 ein gemeinsames Schreiben von mir, der GJAV und dem Gesamtpersonalrat an alle städtischen Nachwuchskräfte verschickt, in dem wir über die möglichen Anlaufstellen und deren Tätigkeit berichten sowie Informationen zum Thema „sexuelle Belästigung“ geben. Dieses Schreiben wird an Nachwuchskräfte mit eigenem PC-Zugang per E-Mail versandt. Nachwuchskräfte, die über keinen eigenen PC-Zugang verfügen, erhalten das Schreiben auf postalischem Wege. Auch die Ausbilderinnen und Ausbilder werden das Schreiben erhalten.
Diese Maßnahmen sind mit der GJAV und der Gleichstellungsstelle für Frauen abgestimmt.
Wie Sie sehen, nehmen wir das Thema „sexuelle Belästigung“ in der Stadtverwaltung nicht auf die leichte Schulter, sondern seit vielen Jahren sehr ernst. Ich bin mir sicher, unsere Beschäftigten mit den gemeinsam vereinbarten Maßnahmen noch mehr für dieses Thema zu sensibilisieren und die vorhandenen Anlaufstellen noch bekannter zu machen.
Um Kenntnisnahme der vorstehenden Ausführungen wird gebeten. Ich gehe davon aus, dass die Angelegenheit damit abgeschlossen ist.
Die Anlage zum Antrag kann abgerufen werden unter: https://www.ris-muenchen.de/RII/RII/ris_antrag_dokumente.jsp?ri-sid=5683852