MÜNCHENSTIFT – Wie werden Wachkoma-Patienten behandelt?
Anfrage Stadtrats-Mitglieder Johann Altmann, Dr. Josef Assal, Eva Caim, Richard Progl, Mario Schmidbauer und Andre Wächter (Fraktion Bayernpartei) vom 4.4.2019
Antwort Sozialreferentin Dorothee Schiwy:
In Ihrer Anfrage vom 4.4.2019 führen Sie Folgendes aus:
„Das MÜNCHENSTIFT-Haus St. Josef versorgt derzeit 26 Frauen und Männer im Wachkoma. Diese Bewohner sind im Durchschnitt 40 Jahre jung und tragische Ereignisse haben zu ihrem bedauerlichen Zustand geführt. Das Unternehmen MÜNCHENSTIFT der LHM hat trotz der durch die intensiv-therapeutische und rehabilitive Betreuung verursachten Kostenintensität eine große Zustimmung zur Wachkomastation vor Jahrzehnten durch den Stadtrat erfahren.
Herangezogen für die Finanzierung der Versorgung werden das Einkommen und Vermögen der Betroffenen, die Pflegekassen und der Bezirk im Rahmen der Sozialhilfe. Nach Aktenlage wurde nun vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen einigen Bewohnern diese qualitative Betreuung aufgekündigt und in die Weiterversorgung der ‚regulären‘ Pflege verwiesen – was immer das auch ist.“
Zu den im Anschluss an diese Einführung gestellten Fragen nimmt das Sozialreferat in Abstimmung mit der MÜNCHENSTIFT GmbH im Auftrag des Herrn Oberbürgermeisters im Einzelnen wie folgt Stellung:
Frage 1:
In welches Sozialsystem (Krankenversicherung/Pflegeversicherung/Behindertenrecht usw.) wird ein z. B. 40-jähriger Mensch mit einem apallischen Syndrom grundsätzlich zugeordnet und warum?
Antwort:
Abhängig von der Phase, in der sich ein Patient in der neurologischen Rehabilitation befindet, sind auch die unterschiedlichsten Sozialversicherungssysteme tangiert. Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) hat dazu das Phasenmodell der neurologischen Rehabilitation entwickelt, welches einschlägig ist.
Dieses Phasenmodell teilt sich auf in die Phase A, der Akutbehandlungsphase unmittelbar nach einem Ereignis. Hierauf folgt die Phase B, die Behandlungsphase, in der noch intensiv-medizinische Behandlungsmöglichkeiten vorgehalten werden müssen. Die Phase C kennzeichnet die Behandlungs- und Rehabilitationsphase, in der die Patientinnen und Patienten bereits in der Therapie mitarbeiten können, sie aber noch kurativ-medizinisch mit hohem pflegerischem Aufwand betreut werden müssen. Die Phase D ist die Rehabilitationsphase nach Abschluss der Frühmobilisation. Die Phase E ist die Behandlungs- und Rehabilitationsphase nach Abschluss einer intensiven medizinischen Rehabilitation. Im Mittelpunkt stehen dort nachgehende Rehabilitationsleistungen unter Einschluss von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. In der Phase F (Wachkomabereich Haus St. Josef) folgt die Langzeitpflege und -behandlung, eine Behandlungsphase, in der dauerhaft unterstützende, betreuende und/oder zustandserhaltende Leistungen erforderlich sind.
In Schwerpunkteinrichtungen der Phase F erfolgt die pflegerische Versorgung in der Regel auf der Grundlage der Pflegeversicherung (SGB XI). Ergänzend können Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (Paragraph 55 SGB IX) und der Eingliederungshilfe nach den Paragraphen 53 ff. SGB XII in Betracht kommen. Ferner sind noch die Krankenversicherung im Rahmen der Behandlungspflege nach Paragraph 37 Abs. 2 Satz 3 SGB V und ggf. Berufsgenossenschaften als Kostenträger involviert.
Die Zuordnung im genannten Beispiel eines 40-jährigen Menschen mit apallischen Syndrom ist also grundsätzlich davon abhängig, ob er sich in einer akuten Phase nach einem Ereignis oder schon in der Langzeitbehandlung befindet und zuvor in der Regel alle vorgeschalteten Rehabilitationsphasen durchlaufen hat.
Frage 2:
Haben die unterschiedlichen Finanzierungssysteme Auswirkungen auf die Finanzierung der angemessenen aktivierenden therapeutischen Betreuung und wenn ja, welche?
Antwort:
Am Beispiel der Phase F sind die unterschiedlichen Finanzierungssysteme und deren Auswirkungen auf eine angemessen aktivierende therapeutische Betreuung und Langzeitpflege sehr gut zu veranschaulichen.
Durch die bestehenden Versorgungsverträge für die Phase F gemäß des Bayerischen Rahmenkonzeptes greift die Pflegeversicherung mit den Pflegesachleistungen für die vollstationäre Dauerpflege in der Größenordnung der Sachleistungen für die Pflegegrade 4 und 5 und deckt die sogenannte Grund- und Behandlungspflege im Rahmen der „Teilkaskoversicherung“ ab. Die Krankenversicherung beteiligt sich direkt nach Paragraph 37 Abs. 2Satz 3 SGB V an den Kosten der Phase F, bei der MÜNCHENSTIFT GmbH in Höhe von ca. 70,00 Euro pro Tag.
Die darüber hinausgehenden Kosten für die nicht durch die Pflegeversicherung gedeckten Anteile an der pflegerischen Versorgung sowie die Hotel- und Investitionskosten trägt im Bedarfsfall der Sozialhilfekostenträger nach dem SGB XII.
Phase F-Schwerpunkteinrichtungen halten in der Regel einen Pflegepersonalschlüssel von mindestens 1:1 im Pflegegrad 5 bei einer Fachkraftquote von ca. 75% vor. Entsprechend hoch sind folglich auch im sogenannten Wachkomabereich der Phase F die Pflegesätze, die sich im Haus St. Josef auf ca. 7.700,00 Euro pro Monat belaufen.
Scheidet beispielsweise der Sozialhilfekostenträger als Kostenträger für die aktivierende therapeutische Betreuung (SGB XII) nach dem Rahmenkonzept der Phase F in Bayern nach einer Verweildauer von zwei Jahren aus, weil der Sozialhilfekostenträger die weitere Kostenübernahme ablehnt, dann wird ein Umzug in eine allgemeine Pflegestation notwendig, wenn keine häusliche Versorgung möglich ist. Im allgemeinen Pflegebereich werden aber die Kosten der Behandlungspflege nicht mehr von der Krankenversicherung als Kostenträger übernommen, da in Bayern eine Leistungspflicht für die besondere Behandlungspflege nach Paragraph 37 Abs. 2 Satz 3 SGB V ausschließlich in Schwerpunkteinrichtungen wie Wachkomabereiche vorgesehen ist.
Entsprechend wird dann auch nur der Pflegesatz für den allgemeinen vollstationären Pflegebereich im Pflegegrad 5 angesetzt. Dieser bewegt sich aktuell in einer Größenordnung von unter 5.000,00 Euro. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies, dass damit kein Pflegepersonalschlüssel, wie bisher im Wachkomabereich, von ca. 1:1, sondern dann nur noch von ca. 1:2 vorgehalten werden kann. Demzufolge reduziert sich die Versorgung für die Wachkomapatientin/den Wachkomapatienten von einem Tag auf den anderen auf die Hälfte.
Frage 3:
Wie kann die zweijährige Begrenzung der intensivierten Pflege durch das Bayerische Rahmenkonzept von 2004 begründet werden?
Antwort:
Das Bayerische Rahmenkonzept der Phase F zur häuslichen und teilstationären Kurzzeit- und vollstationären Pflege und Behandlung von Menschen mit schweren erworbenen cerebralen Schädigungen, beschlossen vom Hauptausschuss des Verbandes der bayerischen Bezirke am 22.10.2004,führt auf der Seite 7 unter 3.1.2. zum Pflege- und Behandlungszeitraum in Schwerpunkteinrichtungen aus, dass die Pflege in der Phase F und die medizinisch-therapeutische Versorgung grundsätzlich langfristig ausgelegt ist. Die intensivierte Betreuung in der postrehabilitativen Phase zu Hause sowie in den Schwerpunkteinrichtungen (z. B. Wachkomastation Phase F im Haus St. Josef der MÜNCHENSTIFT) ist unter Berücksichtigung definierter Ziele, aber zeitlich auf die Dauer von bis zu zwei Jahren begrenzt.
Allerdings ist dort auch festgelegt, dass eine Entscheidung über die Beendigung der Betreuung in Schwerpunkteinrichtungen ausschließlich in den quartalsmäßigen Fallkonferenzen getroffen wird.
Diese Entscheidungen basieren dabei auf der Beantwortung der folgenden vier Fragen:
-Sind weitere Fortschritte in absehbarer Zeit zu erwarten?
-Ist aufgrund der erreichten Fortschritte eine Weiterbetreuung zu Hause oder in einer allgemeinen Pflegeeinrichtung angezeigt?
-Hat sich die bei Übernahme der Bewohnerin/des Bewohners von der Rehabilitationsklinik in die Schwerpunkteinrichtung bestehende Situation durch intensive-pflegerische und therapeutische Maßnahmen stabilisiert?
-Kann der in der Rehabilitationsklinik erzielte Zustand jetzt mit deutlich weniger Unterstützung gehalten werden, so dass eine Weiterversorgung zu Hause oder in einer allgemeinen Pflegeeinrichtung durchgeführt werden kann?
Die Grundlage für diese Entscheidungsfindung ist in einer lückenlos geführten Pflegedokumentation der Pflege und Behandlung sowie durch die monatliche Verlaufsdokumentation anhand des Functional Independence Measure (FIM) und die quartalsmäßige Einstufung basierend auf Early Functional Abilities (EFA) anzusetzen. Die regelmäßigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Fallkonferenzen sind dabei die verantwortliche Bezugspflegeperson oder deren Vertretung, die/der im Konzept genannte Casemanagerin/Casemanager, den die Pflegekassen zu stellen haben, die Vertretung der Kostenträger (Pflegekassen, Krankenkassen und/oder Sozialhilfekostenträger) und eventuell die Ärztin/der Arzt des MDK. Fakultative Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind die behandelnde Ärztin/der behandelnde Arzt und die Pflegedienst- oder Stationsleitung der Einrichtung.
Das Bayerische Rahmenkonzept kennt also keine strikte Begrenzung auf zwei Jahre, sondern die Entscheidung über eine Beendigung der Phase F wird vielmehr durch ein umfangreiches Assessment in den Fallkonferenzen entwickelt.
Frage 4:
Wie wird ärztlich bzw. therapeutisch festgestellt, dass nach „allgemeiner medizinischer Erfahrung“ die Möglichkeiten eines „jungen Menschen“ zur Rückkehr zumindest eines Teils seiner Persönlichkeit nicht mehr möglich ist?
Antwort:
Patientinnen und Patienten im Wachkoma durchlaufen keinen starren Entwicklungsprozess, sondern einen dynamischen Prozess mit Phasen von positiven Fortschritten, aber auch Zeiten der Stagnation. So kann die Zeitspanne eines apallischen Syndroms wenige Wochen bis hin zu Jahrzehnten andauern. Es kann durch intensive Therapie, Pflege und Betreuung damit gerechnet werden, dass eine Rückbildung des Wachkomas möglich, allerdings mit einer schweren Beeinträchtigung (motorisch-funktionell) zu rechnen ist.
Allgemein wird angenommen, dass Patientinnen und Patienten im apallischen Syndrom ihre Umwelt nicht wahrnehmen. Dies wird jedoch von aus dem „Wachkoma zurückgekehrten“ Personen verneint. Diese berichten, dass sie ihre Umwelt, verschiedenste Informationen, vertraute Gesichter und Stimmen wahrgenommen haben. Ferner können nahe Angehörige
oder Bekannte sehr wohl Kontakt in verschiedenen Formen herstellen.
In regelmäßigen Quartalssitzungen werden im multiprofessionellen Team (Ärztinnen/Ärzte, Therapie und Pflege) die Rehafortschritte (auch v.a. die kleinen) und neuen Rehaziele/-schritte bei den einzelnen Patientinnen und Patienten individuell besprochen.
Jedoch wird hier keine Aussage dazu getroffen, inwieweit eine Rückkehr zur Persönlichkeit möglich ist, da die Persönlichkeit auch im apallischen Syndrom nicht verloren geht. Um diese wieder zu beleben, v.a. für die Außenwelt wieder sichtbar werden zu lassen, ist das tägliche Schaffen von Sinneseindrücken nötig. Die einzelnen Personen bedürfen aufgrund teils noch inselhaft funktionsfähig erhaltenen Hirnarealen mit anfangs sehr reduzierter Sinneswahrnehmung einer intensiven (emotionalen, empathischen) Zuwendung und Betreuung. Jede Patientin/jeder Patient benötigt ihre/seine eigene, individuelle Zeit, diese angebotenen Sinneswahrnehmungen und verschiedensten therapeutischen Angebote zu verarbeiten und hierauf zu reagieren.
Es ist deshalb aus ärztlicher, therapeutischer oder pflegefachlicher Sicht kaum möglich, zu beurteilen, ob eine Wachkomapatientin bzw. ein Wachkomapatient zu einem Teil seiner Persönlichkeit nicht mehr zurück gelangen kann. Zum einen gehen, wie oben ausgeführt, im apallischen Syndromnicht Persönlichkeit bzw. Individualität verloren (es kann nicht im „Vollbild“ mit der Außenwelt verbal in Kontakt getreten werden), zum anderen ist ein hierfür nötiger neuro-psychologischer Test hinsichtlich psychischer Veränderungen aufgrund der eingeschränkten Kommunikation nicht durchführbar.
Frage 5:
Sind in der Bewertung des Einzelfalles Ethikkommissionen o.ä. unter Einbeziehung der Angehörigen und Betreuenden verbindlich vorgesehen?
Antwort:
Das Bayerische Rahmenkonzept kennt in der Darstellung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Fallkonferenzen in Schwerpunkteinrichtungen bei der Bewertung des Einzelfalls keine verbindliche Regelung für die Einbeziehung der Ethikkommission sowie der Angehörigen bzw. der Betreuerinnen und Betreuer.
Ich hoffe, auf Ihr Anliegen hinreichend eingegangen zu sein, und gehe davon aus, dass die Angelegenheit damit abgeschlossen ist.