Misst die Polizei mit zweierlei Maß bei Protesten in Zeiten der Corona-Krise?
Anfrage Stadtrats-Mitglieder Marie Burneleit, Stefan Jagel, Thomas Lechner und Brigitte Wolf (DIE LINKE./Die PARTEI Stadtratsfraktion) vom 13.5.2020
Antwort Kreisverwaltungsreferent Dr. Thomas Böhle:
Herr Oberbürgermeister Reiter hat mir Ihre Anfrage vom 13.5.2020 zur Beantwortung überlassen.
Inhaltlich teilen Sie Folgendes mit:
„Während am Wochenende am Marienplatz ca. 3.000 Menschen gegen die Corona-Maßnahmen ohne Mundschutz und ohne Einhaltung der Abstandsregelungen demonstrierten und die Polizei keine Maßnahmen dagegen ergriff, hat die Polizei in den letzten Wochen zweimal versucht mit einem Großaufgebot politische Meinungsäußerungen zu verhindern, obwohl die dabei teilnehmenden Personen durch Sicherheitsabstand und Tragen von Masken sehr genau auf die Einhaltung des Infektionsschutzes geachtet haben.
Im Zuge des Klimastreiks am 24. April fanden bundesweit vereinzelt Aktionen in der Öffentlichkeit statt, um den Protest gegen die Klimapolitik der Bundesregierung sichtbar zu machen. In München die sogenannte Klimafahrt, bei der etwa 50 Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten mit Rädern auf einer etwa zwei Kilometer langen Strecke zwischen Reichenbachbrücke und Wittelsbacherbrücke einzeln mit Schildern und Fahnen entlangfuhren. Die Polizei ist dagegen mit einem Großeinsatz vorgegangen. Auf regelmäßigen Kontrollpunkten wurde versucht das Zeigen von politischen Meinungsäußerungen auf dieser Fahrt zu verhindern. Alle Teilnehmenden, die mit einem Plakat oder einem Schild an der Polizei vorbeiradelten, wurden angehalten und gezwungen, dieses herunterzunehmen. Mit Anzeigen wurde gedroht, Personalien wurden aufgenommen. Laut Berichten von Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Klimafahrt geschah dies unter dem Vorwand des Infektionsschutzgesetzes.
Am 3. Mai hat eine Gruppe wurde mit einer ähnlichen Aktionsform die Forderung nach der Schließung und Evakuierung aller Lager für Geflüchtete und deren dezentrale und menschenwürdige Unterbringung deutlich gemacht. Auch hierbei wurde unter anderem durch das Tragen von Mundschutz auf die Einhaltung des Infektionsschutzes geachtet. Auch diesen Protest versuchte die Polizei mit einem Großaufgebot zu verhindern. Dabei wurden teilweise willkürlich vereinzelt Menschen abseits des Demonstrationsgeschehens festgehalten und Personalien aufgenommen.
Politische Meinungsäußerungen müssen auch in Zeiten der Corona-Krise möglich bleiben, vor allem dort wo genau auf die Einhaltung des Infektionsschutzes geachtet wird. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht hat erst vor wenigen Wochen deutlich gemacht. Die Kriminalisierung von Protesten für den Klimaschutz und für einen menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten ist nicht hinnehmbar!
Wir bitten daher den Oberbürgermeister folgende Fragen zu beantworten:
1.Aus welchen Gründen wurden den Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Klimafahrt das Tragen von Schildern oder Fahnen mit politischen Äußerungen untersagt?
2.Wie begründet die Polizei das Festhalten einzelner Personen, die angeblich Teil einer Protestaktion am 3. Mai zur Evakuierung der Lager in Griechenland waren?
3.Hält die Stadt München die beiden Polizei-Großeinsätze am 24. April und am 3. Mai für gerechtfertigt?
4.Bewertet die Stadt eine Aktion bei der auf sehr weitflächigem Gelände vereinzelt Menschen politische Meinungsäußerungen kundtun als Demonstration im Sinne des Versammlungsrechtes?“
Gerne nehme ich zu Ihrer Anfrage Stellung. Nachdem sich die Fragen der Anfrage inhaltlich in großen Teilen an die Polizei richten, ist das Polizeipräsidium München eingebunden worden, aus deren Stellungnahme vom 9.6.2020 ich zitieren darf. Ihrer Stellungnahme schickt das Polizeipräsidium München noch Folgendes voraus:
„Die nachfolgenden Fragestellungen betreffen das Datum des 24.4.2020 und des 3.5.2020. Die zu dieser Zeit geltende 2. BayIfSMV trat am 20.4.2020 in Kraft und mit Ablauf des 3.5.2020 außer Kraft. Gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 dieser Verordnung waren in dem vorgenannten Zeitraum Veranstaltungen und Versammlungen landesweit untersagt. Ausnahmegenehmigungen konnten auf Antrag von der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde erteilt werden.
Der Versammlungsbegriff definiert sich als Zusammenkunft von mindestens zwei Personen zur gemeinschaftlichen, überwiegend auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Hiernach wurden beide nachfolgend thematisierten Vorfälle als Versammlung gewertet.“
Zu Ihren Fragen nehme ich im Einzelnen wie folgt Stellung:
Frage 1:
Aus welchen Gründen wurden den Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Klimafahrt das Tragen von Schildern oder Fahnen mit politischen Äußerungen untersagt?
Antwort:
Stellungnahme des Polizeipräsidiums München vom 9.6.20:
Im Vorfeld der Versammlung wurde dem Polizeipräsidium München ein Aufruf der Gruppierung des Offenen Antikapitalistischen Klimatreffens München zu dem Thema „Change the system not the clima“ am 24.4.2020, ab 14 Uhr, bekannt. Dieser Aufruf wurde über die sozialen Medien getätigt. Eine formelle Anzeige dieser Versammlung sowie ein Antrag auf eine erforderliche Ausnahmegenehmigung gem. § 1 Abs. 1 S. 3 der 2. BayIfSMV ging bei den zuständigen Behörden nicht ein.
Gegen 14 Uhr konnten mehrere Kleingruppen von Radfahrern mit sichtbaren Kundgebungsmitteln im nahen Umfeld der Reichenbachbrücke festgestellt werden. Diese Personen wurden als Versammlungsteilnehmer bewertet, angehalten und über die aktuelle Rechtslage informiert. In der Spitze nahmen 50 Personen an der Versammlung teil. Alle kontrollierten Personen zeigten sich einsichtig und entfernten freiwillig die Kundgebungsmittel. Ein Versammlungsleiter gab sich gegenüber den Polizeikräften nicht zu erkennen. Die Versammlung wurde um 15.40 Uhr beendet, indem sich die Versammlungsteilnehmer entfernten.
Auf die Erstellung einer Anzeige wurde im Rahmen der Ermessensausübung verzichtet.
Frage 2:
Wie begründet die Polizei das Festhalten einzelner Personen, die angeblich Teil einer Protestaktion am 3. Mai zur Evakuierung der Lager in Griechenland waren?
Antwort:
Stellungnahme des Polizeipräsidiums München vom 9.6.20:
Zu einer Versammlung am 3.5.2020 mit dem o.g. Themenbezug liegen dem Polizeipräsidium München keine Erkenntnisse vor.Am 3.5.2020 wurde allerdings eine ähnliche Aktionsform, wie jene am 24.4.2020, durchgeführt. Im Bereich der Wittelsbacherbrücke wurde eine Personengruppe, bestehend aus 37 Personen, angetroffen. Die Personen führten Transparente und Plakate mit Aufschriften wie „Klimawandel ist schlimmer als Corona“ und „Antifa for future“ bei sich und fuhren mit Fahrrädern in Richtung des Gärtnerplatzes. Nachdem die Versammlungsteilnehmer Polizeikräfte erkannten, teilte sich die Personengruppe auf und die Radfahrer entfernten sich in unterschiedliche Richtungen.
Auch für diese Versammlung ging keine formelle Anzeige sowie ein Antrag auf eine erforderliche Ausnahmegenehmigung gem. § 1 Abs. 1 S. 3 der 2. BayIfSMV bei den zuständigen Behörden ein.
Aufgrund der dynamischen Situation und der Teilung der Personengruppe in verschiedene Richtungen, konnte vor Ort keine Identitätsfeststellung einzelner Personen erfolgen.
Gegen 17 Uhr konnte eine größere Gruppe von Fahrradfahrern, insgesamt neun Personen, im Bereich des Max-Weber-Platzes festgestellt werden. Diesen Personen konnte keine Beteiligung an der untersagten Versammlung nachgewiesen werden, gleichwohl lag ein Verstoß gegen die geltende Ausgangsbeschränkung vor. Aus diesem Grund wurden die Personalien dieser Personen festgestellt.
Hinsichtlich der untersagten Versammlung wurde eine Anzeige gegen Unbekannt erstellt. Die beteiligten Versammlungsteilnehmer wurden nicht mehr angetroffen.
Frage 3:
Hält die Stadt München die beiden Polizei-Großeinsätze am 24. April und am 3. Mai für gerechtfertigt?
Antwort:
Die Durchführung der thematisierten Einsätze lagen im Zuständigkeitsbereich der Polizei. Zum Zeitpunkt der Polizeieinsätze vom 24. April und 3. Mai galt gemäß der zu dieser Zeit geltenden 2. BaylfSMV ein grundsätzliches Versammlungsverbot. Bei infektionsschutzrechtlicher Vertretbarkeit hätte die Kreisverwaltungsbehörde eine Ausnahmegenehmigung erteilen können. Hierzu hätte es aber eines entsprechenden Antrags bzw. einer Anzeige bedurft. Eine sachgerechte Prüfung konnte daher vom Kreisverwaltungsreferat mangels Antrag bzw. Anzeige nicht vorgenommen werden.
Frage 4:
Bewertet die Stadt eine Aktion bei der auf sehr weitflächigem Gelände vereinzelt Menschen politische Meinungsäußerungen kundtun als Demonstration im Sinne des Versammlungsrechtes?
Antwort:
Diese Frage kann konkret nur unter Würdigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls rechtlich bewertet werden. Grundsätzlich gilt, dass eine Zusammenkunft von Personen, die innerlich mit einem gemeinsamen Thema verbunden sind und Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung üben wollen, als Versammlung zu bewerten ist.
Um Kenntnisnahme der vorstehenden Ausführungen wird gebeten. Ich gehe davon aus, dass die Angelegenheit damit abgeschlossen ist.