Coronakrise: Verbesserung der Hilfsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche in Not während Zeiten von Ausgangsbeschränkungen und Einrichtungsschließungen
Antrag Stadtrats-Mitglieder Sonja Haider, Nicola Holtmann, Dirk Höpner, Hans-Peter Mehling, Tobias Ruff und Rudolf Schabl (Fraktion ÖDP/FW) vom 19.5.2020
Antwort Sozialreferentin Dorothee Schiwy:
In Ihrer Anfrage vom 19.5.2020 führen Sie Folgendes aus:
„Die Ausgangsbeschränkungen sind, wie gerade in der Corona-Krise erlebt, insbesondere auch für Kinder und minderjährige Jugendliche in Familien eine große Belastung und können zu psychosozialen Schwierigkeiten in Familien führen bzw. diese verstärken. Die Früherkennung von psycho- sozialen Schwierigkeiten in Familien und eine daraus folgende notwendige Hilfeleistung war durch die Schließung von Schulen, Kindertagesstätten und anderer Einrichtungen eingeschränkt. Wir halten es für dringend geboten, die Mechanismen des Kinderschutzes und der Jugendhilfe entsprechend zu hinterfragen und anzupassen.
Jugendämter haben ein gut funktionierendes Netz der Zusammenarbeit mit Behörden, Ärzten, Jugendhilfeeinrichtungen, Schulen, Kindertagesstätten etc., um zu erkennen, wenn Kinder in ihren Familien körperlicher, sexualisierter oder psychischer Gewalt ausgesetzt sind.
Bundesweit kam es während der Corona Krise zu einem mäßigen Rückgang der gemeldeten Fallzahlen. Kritisch zu sehen ist, dass in den Ausgangsbeschränkungen durch die Corona Krise mit den Einrichtungsschließungen wichtige Akteure ausgefallen sind. Wir halten es für dringend geboten, nachhaltige Konzepte zu entwickeln, wie in Zeiten von auftretender Ausgangsbeschränkungen die Hilfe für psychosozial belastete Familien und insbesondere für betroffene Kinder und Jugendliche aufrechterhalten werden kann. Zudem muss ein lückenloses Arbeiten aller helfenden Berufe in diesem Zusammenhang gewährleistet werden.“
Um Ihre Anfrage beantworten zu können, waren einige Abstimmungsprozesse und Recherchearbeiten innerhalb des Stadtjugendamtes notwendig, deshalb kam es zu einer Verzögerung bei der Beantwortung Ihrer Anfrage. Ich bitte dies zu entschuldigen.
Zu Ihrer Anfrage vom 19.5.2020 nimmt das Sozialreferat im Auftrag des Herrn Oberbürgermeisters im Einzelnen wie folgt Stellung:
Frage 1:
Wie haben sich im Vergleich die folgenden Zahlen in München entwickelt zum Vorjahreszeitraum, zum unmittelbaren Zeitraum vor dem Lockdown und seit dem Lockdown:
-Anzahl der Meldungen mit v.a. Kindeswohlgefährdungen (physische und psychische Gewalt, Vernachlässigung, Missbrauch) bei Jugendamt und Sozialbürgerhäusern
-Anzahl von Inobhutnahmen
-Anzahl von Aufnahmen in Schutzstellen
-Anzahl Anfragen bei Beratungsstellen
-Anzahl gemeldeter Fälle aus Kliniken bzgl. Misshandlungen/Missbrauch Schutzbefohlener
Antwort:
Erste Auswertungen der mir vorliegenden Zahlen zeigen aktuell keinen ungewöhnlichen Anstieg an Kinderschutzfällen bei der Bezirkssozialarbeit. Das Stadtjugendamt verzeichnet die letzten Jahre einen kontinuierlichen Anstieg der Fälle von Kindeswohlgefährdung.
Anhand der aktuell vorliegenden Zahlen bezogen auf Inobhutnahmen ist bislang kein Anstieg zu erkennen1.
Eine genaue Ableitung, welche Gründe zu einer Inobhutnahme eines Kindes oder Jugendlichen während der Zeit der Ausgangsbeschränkung geführt haben, ist aktuell noch nicht möglich. Um ein valides Bild der Situation zeichnen zu können, werden wir in den nächsten Monaten weitere Zahlen erheben und Analysen vornehmen.
Das Stadtjugendamt sieht derzeit keinen ungewöhnlichen Anstieg an Gefährdungsfällen, die Anzahl der Gefährdungsmeldungen kann jedoch in den kommenden Wochen durch die Lockerungen der Beschränkungen zunehmen. Ein Szenario, das auch von verschiedensten Stellen als sehr realistisch eingeschätzt wird: Die Zahl der Kinderschutzfälle steigt mit der Rückkehr der Kinder und Jugendlichen in ihre Kindertagesstätten und Schulen. Hier können sie sich wieder mit ihren Sorgen an Vertrauenspersonen (u.a. Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte, Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter, Schulpsychologinnen und Schulpsychologen) wenden und ihre Erlebnisse während der Zeit der Ausgangsbeschränkung anvertrauen.
Frage 2:
Von wem werden erfahrungsgemäß bei der Stadt München die Fälle gemeldet:
Welchen Anteil in Prozent haben Schulen, Kindergärten, Jugendeinrichtungen, Polizei, Nachbarn etc.?
Antwort:
Die Gruppe der meldenden Institutionen bzw. der häufigsten Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber, bezogen auf die Zeit der Ausgangsbeschränkungen, wird sich vermutlich deutlich verschieben – da Institutionen wie Kita und Schule als Melderinnen und Melder nur begrenzt zur Verfügung standen. Eine genauere, zahlenmäßige Auswertung wird erst in den kommenden Monaten zur Verfügung stehen.
Die größte Gruppe der Melderinnen und Melder sind in der Regel Polizei und Justiz, gefolgt von Kindertagesstätten, Schulen, Bekannten, Nachbarn sowie der Gruppe der anonymen Melderinnen und Melder und Eltern- (teil). Weitere Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber umfassen den großen Bereich des Gesundheitswesen (Hebammen, Ärztinnen und Ärzte, Kliniken usw.), anschließend folgen die Einrichtungen der sozialen Dienste wie z.B. Jugendamt und die Träger der Kinder- und Jugendhilfe. Statistisch gesehen nehmen auch Verwandte sowie Selbstmelderinnen und Selbstmelder eine Rolle als Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber ein.
Frage 3:
Wie werden bereits bekannte Fälle während des Lockdowns versorgt und gibt es einheitliche Konzepte für Ambulante Erziehungshilfen, Erziehungs- beistandschaften, SPD (sozial-psychiatrischer Dienst)?
Antwort:
Grundsätzlich wurden und werden alle bekannten Kinder, Jugendlichen und Familien während des Lockdowns weiter versorgt. Die Kontaktform wird nach der bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung angepasst (z.B. Videokonferenz, Telefonat, Messengerdienste, Spaziergang…). Auch die situationsbedingte Modifikation der Leistungen (z.B. Unterstützung Homeschooling, Gruppenangebot per Videokonferenz oder als virtuelle Sportchallenge) ist auf den jeweiligen Bedarf ausgerichtet.
Frage 4:
Wie ist die Ausstattung mit Schutzausrüstung für alle helfenden Berufe, bei denen direkter Kontakt notwendig ist: Stationäre Einrichtungen der Jugendhilfe, Beratungsstellen, Ambulante Hilfen, Notbetreuung etc.?
Antwort:
Das Sozialreferat/Stadtjugendamt hat als Träger der öffentlichen Jugendhilfe für die Erfüllung der Aufgaben nach SGB VIII die Gesamtverantwortung einschließlich der Planungsverantwortung (vgl. § 79 SGB VIII).Schutzkleidung wurde gemäß dem Verteilkonzept des Innenministeriums vom 20.3.2020 über die Kreisverwaltungsbehörden verteilt. Alle kommunalen Beschaffungen von Schutzkleidung flossen in dieses Verteilkonzept mit ein.
Frage 5:
Gibt es konkrete, verpflichtende Konzepte und klare Verantwortlichkeiten (z.B. Betriebsärzte, Gesundheitsamt) für das Vorgehen in der stationären Jugendhilfe, Umsetzung von Hygienemaßnahmen, Quarantäne, Testkapazitäten für die Jugendhilfe etc.?
Antwort:
Mit Beginn der Ausgangsbeschränkungen wurden in Zusammenarbeit mit dem Referat für Gesundheit und Umwelt Orientierungshilfen für die Träger der stationären Jugendhilfe erarbeitet und den Trägern zur Verfügung gestellt. Diese Orientierungshilfen sind im Verlauf der Pandemie bei Bedarf ergänzt, angepasst und vertieft worden.
Den Trägern ist damit ein Konzept an die Hand gegeben, basierend auf den Handlungsempfehlungen des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales vom 13.3.2020. Die Umsetzungsverantwortung liegt bei den jeweiligen Trägern.
Frage 6:
Plant die Stadt München ein Konzept mit allen Beteiligten, wie zu möglichen Einrichtungsschließzeiten und Ausgangsbeschränkungen zusammengearbeitet werden, um das Angebot zur Hilfe für belastete Familien und als Frühwarnsystem von möglichen Gefährdungen zu gewährleisten bzw. zu verstärken?
Antwort:
Es ist bekannt, dass die Kontaktbeschränkungen und Quarantänemaßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Ausbreitung für viele Münchner Familien eine enorme Herausforderung darstellen. Die Einrichtungen und Programme der Familienbildung (§ 16 SGB VIII Familienzentren, Familienbildungsstätten, Programme der Elternbildung und Frühen Förderung, zielgruppenorientierte Einrichtungen sowie die Kinder-Jugend-und Familien-Angebote in den Gemeinschaftsunterkünften) haben mit allen Beteiligten in enger Kooperation zeitnah modifizierte Angebote geplant, dokumentiert und durchgeführt.
Familien aus den Elternbildungsprogrammen werden pro-aktiv telefonisch beraten und unterstützt. Sekundär-präventive Programme zur Stärkung undUnterstützung von Familien mit Kleinkindern in schwierigen Lebenslagen, dessen Konzept Hausbesuche und Gruppentreffen beinhaltet, wurden modifiziert und während der Corona-Pandemie durchgeführt. Spielmaterial wurde auf dem Postweg versandt.
Mit den Lockerungen der Ausgangsbeschränkungen sind auch wieder Face to Face Beratungen sowie statt eines Hausbesuchs Treffen zu zweit bzw. in kleinen Gruppen, vorzugsweise im Freien, möglich.
Bei den Trägern von Elterntalk fanden erfolgreiche Online-Treffen statt.
Frage 7:
Plant die Stadt München zusätzliche niederschwellige Hilfsangebote für Kinder und Jugendliche in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen?
Antwort:
Gemäß der Vierten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 5.5.2020, § 11 Freizeiteinrichtungen mussten Jugendhäuser (…) und vergleichbare Freizeiteinrichtungen geschlossen bleiben. Diese Verordnung galt bis einschließlich 29.5.2020.
Aufgrund dieser behördlichen Vorgaben haben die Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in München eine Vielzahl an niedrigschwelligen Hilfsangeboten für Kinder und Jugendliche in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen (neu) geplant und umgesetzt.
Bestehende Angebote (z.B. Workshops, Gruppentreffen, Kurse) wurden nach Möglichkeit digitalisiert sowie neue Angebote entsprechend konzipiert, um den Kindern und Jugendlichen Zuhause eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung zu ermöglichen, den Austausch anzubieten und in Kontakt zu bleiben. Es bestand zudem die Möglichkeit, sich Beschäftigungsmaterial analog des Einrichtungsschwerpunktes vor Ort auszuleihen. Beratungsangebote für Kinder und Jugendliche wurden über den gesamten Schlie-ßungszeitraum hinweg unter anderem telefonisch, per Mail und in Chats aufrecht erhalten.
Frage 8:
Wie wird im Rahmen des Corona-Krisenmanagements der Stadt München sichergestellt, dass die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen angemessen bei allen Entscheidungen berücksichtigt werden? Sind Vertreter von Jugendverbänden im Krisenstab eingebunden?
Antwort:
Wenn Sie mit Krisenstab den Stab für außergewöhnliche Ereignisse meinen, dann kann ich Ihre Frage wie folgt beantworten: Die Vertreterinnen und Vertreter von Jugendverbänden waren nicht regelhaft in den Stab für außergewöhnliche Ereignisse eingeladen. Nachdem ich dort als Referentin ständiges Mitglied bin, habe ich deren Belange aber selbstverständlich im Auge und habe alle wesentlichen Bedarfe und Entwicklungen entsprechend kommuniziert.
Die Federführung für den Krisenstab liegt beim Kreisverwaltungsreferat. Daneben hat das Stadtjugendamt München kontinuierlichen Kontakt sowohl mit den Jugendverbänden als auch zu den Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendhilfe. Gemeinsam und in gegenseitiger Absprache wurden während des shutdowns alle bestehenden und aufgrund der Anordnungen möglichen Maßnahmen genutzt, um mit den Kindern und Jugendlichen in Kontakt zu bleiben. Angebote wurden soweit als möglich modifiziert und so in abgewandelter Form weitergeführt. Im Vordergrund standen dabei die Bedürfnisse der jungen Menschen.
In der Zeit der Coronakrise wurden sowohl mit dem Kreisjugendring als auch dem Münchner Trichter die regelmäßigen bilateralen Gespräche auch zum Thema des Krisenmanagements weitergeführt. Auch in den Spitzengesprächen der ARGE Freie, mit mir als Leitung sowie mit den Amtsleitungen des Sozialreferats wurden die Themen insbesondere im Hinblick auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen besprochen.
Die Gleichstellungsstelle für Frauen war bei der Beantwortung der schriftlichen Anfrage beteiligt und führt hierzu Folgendes aus:
„Die Gleichstellungsstelle für Frauen bittet das Stadtjugendamt und die Freien Träger bei der Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit einer geschlechtssensiblen Perspektive vorzugehen. U.a. sieht die Gleichstellungsstelle die Gefahr, dass für Mädchen und junge Frauen, gerade aus finanzschwachen oder bildungsfernen Familien, die Corona-Krise durch die Abwesenheit von Betreuungs-, Jugendhilfe- und Bildungseinrichtungen zusätzlich zur Chancen-Krise werden kann.
Darüber hinaus bittet die Gleichstellungsstelle das Stadtjugendamt bei der Analyse der Kindeswohlgefährdungen geschlechtsdifferenziert vorzugehen.“
1Wichtig ist hierbei zu betonen, dass nicht jede Meldung bzgl. einer Kindeswohlgefährdung zu einer Inobhutnahme führt. Seit Beginn des Jahres 2019 bis inklusiv April 2020 zeichnet sich eine unstete Entwicklung (Anstiege und Reduktionen) ab. Seit Januar 2020 sinken die monatlich neuen Inobhutnahmen. Die Zahlen zu Kinderschutzfällen sind aktuell nicht auswertbar.