Sind die Pop-up Radwege illegal?
Anfrage Stadtrats-Mitglieder Professor Dr. Jörg Hoffmann, Gabriele Neff, Richard Progl und Fritz Roth (FDP BAYERNPARTEI Stadtratsfraktion) vom 28.8.2020
Antwort Kreisverwaltungsreferent Dr. Thomas Böhle:
Ihrer Anfrage legen Sie folgenden Sachverhalt zu Grunde:
„Ein aktuelles Rechtsgutachten des Wissenschaftlichen Dienstes im Berliner Abgeordnetenhaus kommt zu dem Schluss, dass die sog. ‚Pop-up Bikelanes‘ möglicherweise rechtlich nicht zulässig sind. Nicht nur in Berlin, auch in München wurde die Corona-Pandemie genutzt, um schnell Fakten zu schaffen und politische Diskussionen zu umgehen – in kürzester Zeit wurden Straßenspuren gesperrt, umgewidmet, abmarkiert, um dem Auto- verkehr Platz wegzunehmen und dem Radverkehr zuzuschlagen. Auf sorgfältige Prüfung und Begründung wurde dabei aus parteipolitischer Motivation und zugunsten schneller Umsetzung verzichtet. Wie sich nun mit dem Berliner Gutachten zeigt, war dieses Vorgehen rechtlich fragwürdig.“
Herr Oberbürgermeister Reiter hat mir Ihre Anfrage zur Beantwortung zugeleitet. Die darin aufgeworfenen Fragen beantworte ich wie folgt:
Frage 1:
Pop-Up Radwege sind laut dem Gutachten nur dann rechtlich zulässig, wenn Radfahrer auf der Strecke besonders gefährdet sind. Eine generelle, abstrakt-nebulöse Gefährdung von Radlern im Straßenverkehr reicht als Begründung nicht aus. Wie stellt sich die konkrete Gefährdung der Radler an allen Münchner Pop-Up Radwegen dar? Worin bestehen die Gefahren, wie wurden sie festgestellt und anhand welcher Zahlen lassen sie sich belegen? Bitte nach den einzelnen Straßen getrennt aufführen.
Antwort:
Das von Ihnen angesprochene Gutachten des Wissenschaftlichen Parlamentsdienstes des Abgeordnetenhauses von Berlin („Gutachten zu einer Reihe von Rechtsfragen hinsichtlich der Errichtung von sogenannten Pop-up-Radwegen“) vom 7.8.2020, welches auch auf das Gutachten „Stra-ßenverkehrsordnungsrechtlicher Rahmen zur Anordnung temporärer und dauerhafter Radfahrstreifen“ der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (WD 7 – 3000 – 074/20) vom 30.6.2020 Bezug nimmt, bestätigt die Rechtmäßigkeit der Anordnung temporärer als auch dauerhafter Radfahrstreifen mit verkehrlichen Belangen. Nach § 45 Abs.1 Satz 1 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmterStraßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Beide Gutachten führen dabei aus, dass Maßnahmen aus Gründen der Verkehrssicherheit eine Gefahrenlage voraussetzen, die bei durchschnittlichen Verkehrsverhältnissen die Unfallsituation negativ beeinflussen kann. Nicht erforderlich ist eine unmittelbare (konkrete) Gefahr, vielmehr reicht die (abstrakte) Gefährlichkeit von Verkehrssituationen zu bestimmten Zeiten aus, um Eingriffe der Verkehrsbehörde auszulösen.
Die Notwendigkeit der eingerichteten temporären Radfahrstreifen in München ergab sich aus der starken Zunahme des Radverkehrsaufkommens und nicht etwa aus Infektionsschutzgründen. Bereits in den letzten Jahren, im Frühjahr durch die Corona-Pandemie noch verstärkt, hat sich der Radverkehrsanteil deutlich erhöht. Im April 2020 war beispielsweise eine Zunahme von ca. 20% im Radverkehrsaufkommen an den Dauer-
zählstellen bezogen auf den Vorjahresmonat zu verzeichnen, obwohl kein Schüler-, Ausbildungs- und normaler Berufsverkehr stattgefunden hat. Viele Münchnerinnen und Münchner meiden zur Wahrung des vorgeschriebenen Mindestabstands von 1,50m zu anderen Personen und aus Angst vor Ansteckung nach wie vor die öffentlichen Verkehrsmittel und verlagern ihre Fahrten auf das Fahrrad. Gleichzeitig war laut Auskunft des Polizeipräsidiums München bis Ende April 2020 eine Zunahme der Radverkehrsunfälle um ca. 16%, bei gleichzeitigem Rückgang aller Verkehrsunfälle im gleichen Zeitraum, zu verzeichnen.
Bei den ausgewählten Straßen wurden jeweils die individuellen Umstände vor Ort (u.a. Verkehrsbelastung, zulässige Höchstgeschwindigkeit, vorhandene Radverkehrsinfrastruktur) geprüft und eine Entscheidung unter Heranziehung der bestehenden Regelwerke, insbesondere der Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA 2010), getroffen (siehe nachfolgende Tabelle).
In allen Straßen mit temporären Radfahrstreifen war entweder keine oder keine den Regelwerken entsprechende Infrastruktur für den Radverkehr vorhanden. Nach den ERA ist eine gesonderte Radverkehrsinfrastruktur auf diesen Streckenabschnitten jedoch empfohlen bzw. vorgesehen. Bereits daraus ergibt sich die zwingende Notwendigkeit für die eingerichteten Radfahrstreifen an den jeweiligen Örtlichkeiten im Sinne von § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO. Das von Ihnen angesprochene Gutachten des Wissenschaftlichen Parlamentsdienstes des Abgeordnetenhauses von Berlin hält die Anordnungen von Radfahrstreifen für angemessen, wenn auf Grund der Zunahme des Radverkehrs nunmehr eine größere Anzahl von Radfahrerngezwungen ist, eine stark durch Kraftfahrzeuge befahrene Straße mitzunutzen, da sich daraus eine gesteigerte Unfallgefahr ergeben kann (Seite 8). Das Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages hält es für durchaus denkbar, dass ein Mehraufkommen an Fahrradfahrern bei durchschnittlichen Verkehrsverhältnissen die zu prognostizierende Unfallsituation tatsächlich derart negativ beeinflussen kann, dass im konkreten Einzelfall von einer das allgemeine Risiko deutlich übersteigenden Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts auszugehen ist (Seite 11).
Darüber hinaus sind Radfahrstreifen innerhalb geschlossener Ortschaften von den strengen Anforderungen des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO (= Gefahrenlage, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der maßgeblichen Rechtsgüter (z.B. öffentliche Sicherheit und Ordnung, Gesundheit) erheblich übersteigt), ausdrücklich ausgenommen (§ 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 3 StVO).
Im Übrigen wurden die temporären Radfahrstreifen in München als Verkehrsversuch auf Basis von § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StVO angeordnet, um die Auswirkungen der bestandsorientierten Anlage eines Radfahrstreifens im jeweils gegenständlichen Straßenabschnitt im Vergleich zur vorherigen Situation zu testen. Die temporären Radfahrstreifen, die auf ausgewählten Straßen bzw. Straßenabschnitten liegen, für welche bereits konkrete Planungsaufträge durch den Münchner Stadtrat zur Verbesserung der Radverkehrsinfrastruktur existieren, können dabei wichtige Erkenntnisse für die weiteren Planungen und deren Umsetzungen und damit zur Unterstützung einer geordneten städtebaulichen Entwicklung i.S.v. § 45 Abs. 1b Satz 1 Nr. 5 Alt. 2 StVO liefern. Eine besondere Gefahrenlage ist für Verkehrsversuche gemäß § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 7 StVO nicht notwendig. Das Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages bestätigt zudem, dass Verkehrsbeschränkungen, die sich sowohl auf § 45 Abs. 1 Satz 1 als auch auf § 45 Abs.1 Satz 2 Nr. 6 StVO stützen, grundsätzlich in Betracht kommen.
Das Kreisverwaltungsreferat hat vor der Anordnung sorgfältig geprüft und abgewogen. Zweifel an der Rechtsmäßigkeit der Maßnahmen bestehen aus Sicht der Verwaltung nicht.
Frage 2:
Auch in München wurde die Errichtung der Pop-Up Radwege mit einem erhöhten Infektionsrisiko begründet. Schmale Radwege ließen einen Ab- stand von 1,50 Metern oft nicht zu, deshalb wären breitere Radschneisen nötig. Das Berliner Gutachten besagt jedoch, dass Verkehrsbeschränkun- gen nur aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs zulässig seien, nicht aus Infektionsschutzgründen. Zudem seien Radfahrer verpflichtet, einzeln hintereinander zu fahren – damit wäre der Mindestabstand automatisch gewährleistet. Gelten diese gesetzlichen Regelungen auch für München? Wenn ja, wie verträgt sich dies mit der Errichtung der Pop-up Radwege?
Antwort:
Rechtsgrundlage ist bundeseinheitlich die Straßenverkehrs-Ordnung (StVO).
Wie vorstehend ausgeführt, wurden die verkehrsrechtlichen Anordnungen nach sorgfältiger Prüfung der temporären Radfahrstreifen durch das Kreisverwaltungsreferat mit verkehrlichen Belangen (erhöhter Radverkehrsanteil, fehlende Radverkehrsinfrastruktur usw.) und eben nicht mit dem Infektionsschutz begründet.
Frage 3:
Wie schätzt die Landeshauptstadt München das Berliner Gutachten ein? Welche Konsequenzen folgen daraus für die Münchner Pop-up Radwege? Kommen die „Bikelanes“ auf den Prüfstand?
Antwort:
Beide Gutachten bestätigen die grundsätzliche Rechtmäßigkeit der Anordnung temporärer als auch dauerhafter Radfahrstreifen mit verkehrlichen Belangen. Es wird lediglich die Anordnung von Radfahrstreifen basierend auf (ausschließlich) Gründen des Infektionsschutzes als kritisch bzw. unzulässig angesehen. Daher bestätigen die Gutachten die Rechtsauffassung der Straßenverkehrsbehörde und liefern keine grundlegenden neuen Erkenntnisse. Die Straßenverkehrsbehörde geht daher davon aus, dass an der Rechtmäßigkeit der verkehrsrechtlichen Anordnungen für die temporären Radfahrstreifen in München keine Zweifel bestehen und die Anordnungen einer verwaltungsgerichtlichen Überprüfung standhalten werden.
Gemäß der Beschlussvorlage 20-26/V 00491 vom 27.5.2020 (Ziffer 4 des Antrags der Referentin) ist das Referat für Stadtplanung und Bauordnung beauftragt, nach einer Evaluation dem Stadtrat eine Beschlussvorlage mit einer Einschätzung der Auswirkungen der temporär eingerichteten Radverkehrsanlagen und einen Vorschlag zum weiteren Vorgehen an den einzelnen Streckenabschnitten vorzulegen. Dabei werden dem Stadtrat, als Grundlage für die Entscheidung, auch die bei der Verwaltung eingehenden Rückmeldungen aus dem betroffenen Bezirksausschuss und der Bürgerschaft vorgelegt.
Wir gehen davon aus, dass Ihre Anfrage abschließend beantwortet ist, und stehen für Rückfragen jederzeit gerne zur Verfügung.