Klarheit über die Entwicklung von Covid-19 in München
Anfrage Stadtrat Tobias Ruff (Fraktion ÖDP/FW) vom 30.9.2020
Antwort Beatrix Zurek, Referentin für Gesundheit und Umwelt:
Ihrer Anfrage liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:
„Auf der einen Seite erleben wir einen Anstieg der Kurve der positiven PCR-Testergebnisse in München, derzeit 1.398. Der 7-Tage-Inzidenzwert liegt bei 37,92 (LHM) bzw. 31,6 (RKI). Die Ampel steht auf Rot, und es gelten weiterhin grundrechtseinschränkende Maßnahmen. Auf der anderen Seite hatten wir seit dem Anstieg der positiven Testergebnisse, also seit Mitte August 2020, glücklicherweise nur einen einzigen Co- rona-Todesfall in München zu beklagen. Die Auslastung der Notfallbetten aufgrund von COVID-19 ist in München konstant im grünen Bereich, Stand heute liegt sie bei 1,76%. Der Reproduktionswert (R-Wert) liegt bei 0,96, also <1.“
Herr Oberbürgermeister Reiter hat mir Ihre Anfrage zur Beantwortung zugeleitet. Die darin aufgeworfenen Fragen beantworte ich wie folgt:
Frage 1:
In welchem Verhältnis stehen die positiven Testergebnisse zu der Gesamtzahl der wöchentlichen Testungen in München? Wie war die Entwicklung im Zeitverlauf?
Antwort:
Der Landeshauptstadt München liegt keine vollständige Statistik zur Anzahl bzw. zum zeitlichen Verlauf der in München durchgeführten Tests vor. Interessierte Personen können sich – unabhängig von einem bestehenden Wohnsitz in München – an verschiedenen Stellen auf eine COVID-19-Infektion testen lassen, u.a. im Krankenhaus, im Rahmen der ambulanten Versorgung, an Flughäfen, an der Teststation auf der Theresienwiese sowie im Ausland. Somit ist keine aussagekräftige Korrelation der in München durchgeführten Tests mit den an Münchner Bürger*innen durchgeführten Tests möglich.
Frage 2:
In welchem Verhältnis stehen innerhalb der Gruppe der positiv Getesteten die Personen mit keinen bis mittleren Krankheitssymptomen zu den Hospitalisierten und zu Notfallpatient*innen? Wie war die Entwicklung im Zeitverlauf?
Antwort:
Die Anzahl der Personen mit keinen bis mittleren Krankheitssymptomen wird nicht explizit erhoben. Die Hospitalisierungsrate (Anteil aller positiv getesteten Personen, die ins Krankenhaus eingewiesen werden) kann aus methodischen Gründen nur grob geschätzt werden. Sie sank im Zeitverlauf von ca. 20% im Frühjahr auf unter 5% aktuell. Die Intensivrate (Anteil aller positiv getesteten Personen, die auf die Intensivstation eingewiesen werden) sank ebenfalls, von ca. 5% im Frühjahr auf unter 1% aktuell.
Frage 3:
Wie teilen sich die vier Gruppen (keine bis mittlere Krankheitsverläufe, Hospitalisierte, Notfallpatient*innen, Verstorbene) nach Altersklassen auf?
Antwort:
Dem RGU liegen Daten zur Altersverteilung aller COVID-19-Infizierten, der Hospitalisierten sowie der Verstorbenen in München vor, jedoch nicht für Personen ohne bzw. mit mittleren Krankheitsverläufen.
Frage 4:
Gab es einen Zeitpunkt, zu dem die Zahl der COVID-19-Erkrankten so hoch war, dass das Gesundheitssystem in München überlastet war?
Antwort:
Es gab zu keinem Zeitpunkt eine Überlastung des klinischen Systems. Der kritischste Faktor bestand in der befürchteten Überauslastung der in Münchner Kliniken verfügbaren Intensivbetten. Durch rasche Koordinierungsmaßnahmen des RGU mit den Münchner Kliniken im März 2020 konnten ca. 700 Intensivbetten über alle Münchner Kliniken hinweg geschaffen werden.
Der Peak der Bettenbelegung lag bei ca. 300 belegten Intensivbetten in Münchner Kliniken Anfang April 2020, wovon im Maximum 165 Intensivbetten durch COVID-19-Patient*innen belegt waren. Die Intensivbettenbelegung nahm bis zum Sommer kontinuierlich ab und liegt trotz zuletzt wieder steigender Infektionszahlen derzeit stabil auf einem erfreulich niedrigen Niveau. Somit war die Belegung der Intensivbetten (ebenso wie die der Normal- und Intermediate-Care-Betten) zu jedem Zeitpunkt unproblematisch; es standen auch immer noch ausreichend freie Intensivbetten zur Verfügung (Abb. 1).
Die ambulante medizinische Versorgung der Münchener Einwohner*innen war im bisherigen Verlauf der COVID-19-Pandemie insgesamt nicht überlastet. Punktuell kam es jedoch zu Problemen vor allem im Bereitschaftsdienst und durch den Ausfall von Praxen aufgrund von Krankheit und/oder Quarantäne und mangelnder Schutzausrüstung.
Eine flächendeckende und längere Überlastung im ambulanten Bereich konnte u.a. durch die folgenden Maßnahmen verhindert werden:
-die Einrichtung und der Betrieb einer zentralen Schwerpunktpraxis Infekt auf der Theresienwiese,
-die Reduzierung des „normalen“ Sprechstundenangebots in den Praxen zugunsten von „Infektsprechstunden“
-die zentrale Ausgabe von Schutzausrüstung an bedürftige Praxen, -die zeitlich befristete Ausnahmegenehmigung zur Krankschreibung nach telefonischer Beratung entsprechend dem Beschluss des Gemeinsa-
men Bundesausschusses,
-ein massiver personeller Aufwuchs im Bereich Telefondienst/Fahrdienst des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes in Bayern.
Frage 5:
Sind die Krankenhäuser und die Intensivmedizin in München mittlerweile besser auf einen möglichen Ernstfall durch COVID-19 vorbereitet?
Antwort:
Die Münchner Kliniken waren bereits vor der Pandemie gut auf die Versorgung von schwerstkranken Patient*innen vorbereitet. Allerdings haben alle die Bilder aus Norditalien und Frankreich vor Augen gehabt und die Gefahr einer Überforderung auf Grund von einer erhöhten Anzahl an Patient*innen befürchtet.
Auf Grund der eingeleiteten COVID-19-Maßnahmen ab März 2020 konnte in Deutschland dieser Anstieg erfolgreich vermieden werden. Durch die Bemühungen der Landeshauptstadt München, des Freistaates Bayern und der Bundesregierung sind inzwischen zusätzliche Geräte geliefert worden, die eine technische Einrichtung von weiteren Intensivplätzen möglich macht. Ob der Betrieb zusätzlicher Intensivversorgungsplätze dann auch mit Pflegenden unter den aktuellen Arbeitsbedingungen möglich sein wird, kann derzeit nicht beantwortet werden.
Frage 6:
Rechtfertigt „Flatten the curve“ weiterhin die verordneten Maßnahmen?
Antwort:
Die Tatsache, dass es in der ersten Hochphase nicht zur Überlastung des klinischen Systems gekommen ist, hat gezeigt, dass das „Flatten the curve“ – Vorgehen gegriffen hat. Die damals ergriffenen Maßnahmen haben gewirkt.
Sollten die Zahlen der COVID-19-Infizierten jedoch weiter so stark steigen, ist wiederum mit an diese Situation angepassten Maßnahmen zu rechnen. Wobei das Ziel lauten muss, sie so wenig einschneidend wie möglich zu gestalten und die Sicherstellung der klinischen Versorgung der Münchner Bevölkerung zu gewährleisten.
Frage 7:
Wodurch ist die Umstellung der Statistik von dem R-Wert auf die Ampelschaltung mit Inzidenz-Grenzwerten von 35 bzw. 50/100.000 begründet?
Antwort:
Die Reproduktionsrate („R-Wert“) wird weiterhin tagesgenau berechnet; es hat sich jedoch gezeigt, dass sie relativ starken Schwankungen unterliegt und sie sich daher für ein gezieltes Monitoring nicht gut eignet. Die Einführung des Signal- bzw. Schwellenwerts von 35 bzw. 50 positiven Tests innerhalb von 7 Tagen pro 100.00 Einwohner war eine bundespolitische Entscheidung. Damit sollte zum einen eine regionale Differenzierung und damit einhergehend eine bundesweite Vergleichbarkeit des Infektionsgeschehens von Städten/Kreisen ermöglicht werden. Zum anderen droht über einer 7-Tages-Inzidenz von 50/100.000 eine zeitnahe Identifizierung von Kontaktpersonen durch die örtlichen Gesundheitsämter und damit eine wirksame Eindämmung der Infektionsausbreitung zunehmend schwierig zu werden.
Frage 8:
Ist es aus Glaubwürdigkeits- und Haftungsgründen notwendig, den erprobten R-Wert so lange weiterhin als Kriterium zu nutzen, bis die Inzidenz- und Einwohnerzahl-Daten eindeutig und aktuell für München beim RKI und LHM vorhanden sind?
Antwort:
Die Reproduktionsrate wurde nie als alleiniges Kriterium für Entscheidungen zur Eindämmung von COVID-19 genutzt, sondern dient der Abschätzung möglicher Szenarien zum zukünftigen Verlauf der Infiziertenzahlen und Bettenbelegungen in München. Die Berechnung der 7-Tage-Inzidenz bei der LHM, dem Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) und dem Robert-Koch-Institut (RKI) beruhte biseinschließlich 7.10.2020 auf der vom bayerischen Landesamt für Statistik amtlich bestätigten Einwohnerzahl von 1.471.508 Einwohnern in München mit Stand 31.12.2018. Zum 8.10.2020 erfolgte – ausgehend vom RKI – die Umstellung auf die im September 2020 veröffentlichte amtliche Bevölkerungszahl von 1.484.226 Einwohnern mit Stand 31.12.2019.
Frage 9:
Wie wird sichergestellt, dass die Grundgesetzeinschränkenden Maßnahmen und die damit verbundenen negativen Auswirkungen für alle Generationen der Münchner noch in einem angemessenen und die Grundrechtseinschränkungen rechtfertigenden Verhältnis zu dem potentiellen Gesundheitsrisiko wegen COVID-19 stehen?
Antwort:
Im Vollzug des Infektionsschutzgesetz (IfSG) ergeben sich die unterschiedlichsten Fallkonstellationen, welche sich gleichen, aber auch mehr oder weniger stark unterscheiden können. Um es der Verwaltung zu ermöglichen, dem jeweiligen Einzelfall in all seinen Facetten gerecht zu werden, räumt der Gesetzgeber der Verwaltung auch im Bereich des IfSG Handlungsspielräume auf der Rechtsfolgenseite in Bezug auf die zu ergreifenden Maßnahmen ein. Zweck ist es, die Verwaltung in die Lage zu versetzen, unnötige und übermäßige Eingriffe zu unterlassen und im Einzelfall verhältnismäßige Maßnahmen zu ergreifen. Der Entscheidungsspielraum, welcher der Verwaltung dabei eingeräumt wird, wird als Ermessen bezeichnet. Von überragender Relevanz bei der Ermessensausübung ist dabei der so genannte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, welcher die Geeignetheit, Erforderlichkeit sowie Angemessenheit einer Maßnahme meint. Dieser Grundsatz leitet sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ab und ist immer zu beachten.
Zu diesem Zweck werden die geplanten geeigneten Maßnahmen hinsichtlich ihrer Schwere für die Betroffenen einerseits und ihrer Wirkung zur Verhinderung der Weiterverbreitung von COVID-19 andererseits zunächst bewertet. Grundlage der Bewertungen sind die entsprechenden Erfahrungswerte sowie die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu COVID-19 und seiner Verbreitung. Im Anschluss wird überprüft, ob auch weniger schwere Maßnahmen ausreichend sein könnten, um einen gleich guten infektionsepidemiologischen Erfolg sicherzustellen. Ist dies der Fall, so wird die minderschwere Maßnahme weiter verfolgt. Schließlich wird im Rahmen einer Abwägung geprüft (Angemessenheitsprüfung), dass die mit den Maßnahmen verbundenen Einschränkungen auf Seiten der Bürger*innen in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Zweck, dem Schutz der Bevölkerung vor einer Infektion, stehen.Diese strikte Orientierung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stellt sicher, dass die Grundgesetzeinschränkenden Maßnahmen und die damit verbundenen negativen Auswirkungen für alle Generationen der Münchner*innen noch in einem angemessenen und die Grundrechtseinschränkungen rechtfertigenden Verhältnis zu dem potentiellen Gesundheitsrisiko wegen COVID-19 stehen.
Frage 10:
Gibt es ein alternatives Konzept, nach dem die gesamtgesellschaftlichen Maßnahmen durch einen intensiven Schutz der Risiko-Gruppe gepaart mit freiwilligen Maßnahmen ersetzt werden können? Wenn nicht, wird dieses erarbeitet?
Antwort:
Die Festlegung von Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor CO-VID-19 Infektionen stellt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar, die auf kommunaler Ebene allein nicht zu regeln ist. Eine Vielzahl von Maßnahmen wurde zudem rechtlich auf Bundesebene bzw. auf Ebene des Freistaats festgelegt. Auch das RGU hält den Schutz von Risikogruppen für eine essenzielle Aufgabe der Gesellschaft, wobei Maßnahmen dazu von allen gemeinsam zu ergreifen sind. Ob die Empfehlung dieser ausschließlich im freiwilligen Kontext ausreichend ist, erscheint in Anbetracht der Erfahrungen der letzten Monate zweifelhaft.