Bürokratie statt Hilfe für Pflegebedürftige?
Anfrage Stadtrats-Mitglieder Johann Altmann, Dr. Josef Assal, Eva Caim, Richard Progl, Mario Schmidbauer und Andre Wächter (Fraktion Bayernpartei) vom 13.2.2020
Antwort Sozialreferentin Dorothee Schiwy:
In Ihrer Anfrage vom 13.2.2020 führen Sie Folgendes aus:
„Pflegebedürftige werden nach dem Sozialgesetzbuch XI seit 2017 in ihrem Zuhause im Alltag mit monatlich 125 Euro unterstützt. Reinigung der Wohnung, Wäsche- und Blumenpflege, Einkaufen, Botengänge usw. könn- ten dabei von Freunden, Nachbarn etc. erledigt werden und eine große Hilfe für die Betroffenen bedeuten. Geht man von einem Stundenlohn von 10 Euro für Putzen usw. in München aus, dann können damit ca. drei Stunden wöchentlich finanziert werden.
Die Vorgaben zum Vollzug des Gesetzes durch das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege vom 21.12.2018 erschweren die Inan- spruchnahme allerdings erheblich und bedürfen dringend der Nacharbeit. Die Vorschriften für Qualitätsnachweise, Vertretungsregelungen usw. bei den Hilfen im Haushaltsalltag haben dazu geführt, dass 2018 lediglich fünf zertifizierte Anbieter zur Verfügung standen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass in Bayern keine privaten Einzelpersonen für die Hilfen im Haushalt zugelassen sind, denn das erschwert die Gewinnung diesen wichtigen Per- sonenkreises.
Die Anzahl der Pflegebedürftigen im eigenen Zuhause ist seit 2013 um 28% gestiegen (siehe Beschlussvorlage für den Sozialausschuss am 13.2.). Auch der bürokratische Aufwand, dass die Pflegebedürftigen finanziell in Vorleistungen gehen müssen, die Quittungen sammeln und dann den An- trag stellen, ist unverhältnismäßig.
Ende 2016 waren in München ca. 12.600 Münchnerinnen und Münchner in ihrer Alltagskompetenz erheblich eingeschränkt. Es herrscht das Gefühl vor, dass das Ministerium nach dem Motto handelt, ,warum einfach, wenn es auch kompliziert geht‘.
Im Juli 2018 haben das Sozialreferat, der VdK und die Wohlfahrtsverbände der Bayerischen Gesundheitsministerin ihre Wünsche und Anregungen nach Nachbesserungen mitgeteilt. Was ist daraus geworden?“
Hierzu nimmt das Sozialreferat im Auftrag des Herrn Oberbürgermeisters im Einzelnen wie folgt Stellung:
Frage 1:
Inwiefern wurde die ministerielle Vollzugsbestimmung zur Unterstützung im Alltag nach SGB XI nachgebessert?
Antwort:
Das Sozialreferat hat im Frühjahr 2019 in einem Schreiben an die Mitglieder des Sozialausschusses über ein Gespräch mit dem Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege im Januar 2019 und den aktuellen Rechtsstand zu diesem Zeitpunkt informiert.
Seither gab es mit Wirkung zum 1.1.2020 nur noch eine marginale Änderung der einschlägigen Ausführungsverordnung der Sozialgesetze (AVSG). Dabei wurde lediglich die Zuständigkeit für die Anerkennung und Förderung von Angeboten zur Unterstützung im Alltag vom Zentrum Bayern Familie und Soziales auf das Landesamt für Pflege übertragen.
Änderungen beim Verfahren selbst oder bei den Anforderungen bzw. Voraussetzungen für die Anerkennung oder Förderung waren nicht zu verzeichnen.
Insofern wurden die gemeinsam mit den Wohlfahrtsverbänden und dem VdK im genannten Gespräch vorgetragenen Kritikpunkte und konstruktiven Verbesserungsvorschläge nur bedingt gehört und unzureichend umgesetzt. Das Verfahren zur Zertifizierung ist damit weiterhin sehr aufwändig und bürokratisch.
Frage 2:
Können jetzt Einzelpersonen für haushaltsnahe Dienstleistungen eine Anerkennung erhalten, wie in anderen Bundesländern auch?
Antwort:
Einzelpersonen, sogenannte Einzelhelfer, konnten auch bisher schon eine Anerkennung/Zertifizierung erhalten. Allerdings gibt es dafür auch weiterhin strenge Vorgaben. So muss zwingend für einen Ersatz/eine Vertretung im Verhinderungsfall gesorgt sein, um die Kontinuität des Angebotes und die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
Nach den Empfehlungen des Ministeriums kann dies nur gelingen, wenn sich wenigstens drei Personen zu einem Vertretungsverbund zusammenschließen.
Faktisch ist somit die Anerkennung als Einzelperson nahezu ausgeschlossen.Ergänzend darf darauf hingewiesen werden, dass lediglich in sechs Bundesländern Einzelpersonen eine Anerkennung als Angebot zur Unterstützung im Alltag erhalten können.
Auch wenn die Anforderungen hier etwas niedriger sein sollten, stellen alle Regelungen auf die Ehrenamtlichkeit des Engagements gegen eine Aufwandsentschädigung ab.
Eine professionelle Betätigung mit Gewinnerzielungsabsicht ist dadurch per se ausgeschlossen.
Frage 3:
Wie vielen Münchnerinnen und Münchnern wurden 2019 Geldleistungen aus dem Betreuungs- und Entlastungsgesetz ausgereicht?
Antwort:
Das Sozialreferat kann zu dieser Frage keine konkrete Antwort geben. Die Gründe dazu sind vielfältiger Natur und werden im Folgenden geschildert.
1. Kostenträger für den Entlastungsbetrag als gesetzliche Leistung nach dem SGB XI – Soziale Pflegeversicherung – sind primär die regional oder überregional organisierten Pflegekassen. Die einschlägigen Vorschriften gelten vergleichbar aber auch für private Versicherungsgesellschaften sowie die Beihilfefestsetzungsstellen.
Die Landeshauptstadt München hat hier keinen steuernden Einfluss, erhält keine Daten und kann lediglich mittels der bestehenden und gut ausgebauten Beratungsstrukturen auf diese Leistungen hinweisen und zur Inanspruchnahme raten.
2. Breite Palette an Betreuungs- und Entlastungsleistungen
Der Entlastungsbetrag in Höhe von 125 Euro kann für eine Vielzahl an Angeboten und Unterstützungsleistungen eingesetzt werden. Es besteht die Möglichkeit, aus dieser Angebotspalette frei zu wählen, situativ zu wechseln oder auch im Rahmen der finanziellen Mittel Angebote zu mischen. Zudem ist die Auszahlung des Entlastungsbetrages nicht an die monatliche Inanspruchnahme anerkannter Angebote gekoppelt. Das bedeutet, dass eine Ansparung möglich ist. Dies ist z.B. dann sinnvoll, wenn schon im Vorfeld bekannt ist, dass in Bälde durch Verhinderung der Pflegeperson ein längerer Aufenthalt in einer Kurzzeitpflegeeinrichtung ansteht.
3. Entlastungsbetrag durch den Sozialhilfeträger
Für nicht pflegeversicherte Personen sieht auch das Sozialhilferecht (SGBXII) die Möglichkeit vor, unter gewissen Voraussetzungen den Entlastungsbetrag in Anspruch nehmen zu können.
Dabei handelt es sich jedoch um eine laufende Leistung der Hilfe zur Pflege nach dem 7. Kapitel SGB XII, für deren Vollzug seit dem 1.1.2019 der Bezirk Oberbayern der zuständige Leistungs- und Kostenträger ist. Folglich liegen dem Sozialreferat auch für diesen Personenkreis für das Jahr 2019 keine Zahlen und Daten vor.
Es kann lediglich für das Kalenderjahr 2018 konstatiert werden, dass sich die Zahl der sozialhilfeberechtigten und dabei nicht pflegeversicherten Personen, die den Entlastungsbetrag geltend gemacht hat, im kleinen einstelligen Bereich bewegte.
Eine Ansparmöglichkeit sieht das Sozialhilferecht nicht vor.
Empirische Studien kommen zu dem Ergebnis, dass bundesweit in 50 bis 70% aller Fälle der Entlastungsbetrag nicht abgerufen bzw. ausgeschöpft wird.
Frage 4:
Wie viele Einzelpersonen wurden in München anerkannt und können haushaltsnahe Dienstleistungen erbringen?
Antwort:
Unter Verweis auf die Antwort zu Frage 2 wird nochmals betont, dass sich die Anerkennung von Einzelpersonen als Alltagshelferinnen bzw. -helfer schwierig und aufwändig gestaltet.
Das Sozialreferat selbst führt keine Erhebungen durch, welche Dienstleisterinnen und Dienstleister über die erforderliche Zertifizierung verfügen. Im Bedarfsfall wird auf die im Internet zur Verfügung gestellten und dort aktuell gehaltenen Listen des Landesamtes für Pflege bzw. der Fachstelle für Demenz und Pflege zurückgegriffen.
Danach scheint die Anerkennung einer Einzelperson im Raum München bislang noch nicht erfolgt zu sein.
Frage 5:
Wie viele zertifizierte Anbieter für haushaltsnahe Dienste stehen in München Anfang 2020 zur Verfügung?
Antwort:
Auch hierzu geben die oben genannten Internetlisten Aufschluss. Demnach wurden in München ca. zehn Angebote für haushaltsnahe Dienstleistungen anerkannt.
Diese geringe Anzahl täuscht aber darüber hinweg, dass alle zugelassenenPflegedienste (in München mehr als 300) faktisch über eine Zertifizierung verfügen und entsprechende Dienstleistungen unterbreiten und erbringen können. Für derartige Leistungen kann der Entlastungsbetrag problemlos abgerufen werden. Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang durchaus die Frage, wie Pflegedienste angesichts des bestehenden Personalmangels diese zusätzlichen niedrigschwelligen Leistungen anbieten und erbringen können. Diese Entwicklung ist aufmerksam zu verfolgen und gemeinsam mit der freien Wohlfahrtspflege regelmäßig zu evaluieren.
Auf bundespolitischer Ebene wird aktuell der Ansatz diskutiert, den Entlastungsbetrag für niedrigschwellige Angebote auch ohne differenzierte Nachweisführung verwenden zu können.
Sollte sich diese Idee durchsetzen, wäre man auch dem Ziel einer Entbürokratisierung sowie einer Verringerung der Zugangshürden und Zulassungsvoraussetzungen einen Schritt näher.
Frage 6:
Konnte der bürokratische Aufwand im Vollzug des SGB XI verringert werden?
Antwort:
Wie bereits bei der Beantwortung der Frage 1 ausgeführt, gab es in den letzten Jahren keine grundlegenden Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen im Hinblick auf das Anerkennungs- bzw. Förderverfahren. Demnach muss festgestellt werden, dass die bürokratischen Hürden weiterhin hoch sind. Allerdings hat das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege zugesichert, die Entwicklung kritisch zu verfolgen und die Angebote zur Unterstützung im Alltag offensiv bewerben zu wollen.
Vielleicht gelingt mit der Zuständigkeitsverlagerung hin zum Landesamt für Pflege ein erster Vorstoß in Richtung Prozessoptimierung und Entbürokratisierung.