Wissenschaftliche Dokumentation zu den Leistungen der in den Jahren 1945 bis 1950 Vertriebenen und Geflüchteten beim Wiederaufbau München erstellen!
Antrag Stadträte Manuel Pretzl und Richard Quaas (CSU-Fraktion) vom 6.10.2019
Antwort Kulturreferent Anton Biebl:
Sie beantragen eine wissenschaftliche Dokumentation zu erstellen oder in Auftrag zu geben, welche den Beitrag der Flüchtlinge und Vertriebenen beim Wiederaufbau Münchens und der Integration in die Stadtgesellschaft bis heute herausarbeitet. Sie begründen ihren Antrag damit, dass München zentraler Standort für die Institutionen der Vertriebenen ist und sehen die Eröffnung des Sudetendeutschen Museums als Anlass für die vertiefende Erforschung der Vertriebenen.
Ihr Einverständnis vorausgesetzt, teile ich Ihnen zu Ihrem Antrag vom 16.10.2019 Folgendes mit:
Das Kulturreferat, Bereich Stadtgeschichte, hat sich zu Ihrem Antrag mit dem Münchner Stadtmuseum und Jüdischen Museum verständigt und bewertet die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Beitrag von Flüchtlingen und Vertriebenen beim Wiederaufbau und der Integration in die Stadtgesellschaft als ein wichtiges Thema. Dieses kann am besten durch eine Einbettung in ein umfassenderes Panorama der Münchner Nachkriegsgesellschaft und ihrer Erfahrungen von Integration und Differenz erfasst und dargestellt werden. Im Rahmen der institutionellen Arbeit der städtischen Häuser möchten wir Ihnen darum ein gemeinsames Projekt vorstellen, dessen Aufgabe es ist Displaced Persons, Geflüchtete und Vertriebene in München unter amerikanischer Besatzung in der Nachkriegsgesellschaft zu erforschen, Objekte dazu zu sammeln und sichtbar zu machen. Diversität, Differenz und Integration stehen dabei im Zentrum.
Die Federführung dazu wird das Münchner Stadtmuseum in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum München und dem Fachbereich Stadtgeschichte im Kulturreferat übernehmen.
Thema und Desiderate
München ist ein zentraler Ort für die Geschichte der Vertriebenen einerseits und für die der (jüdischen und nicht-jüdischen) Displaced Persons (DPs) andererseits. Zugleich war München einer der wichtigsten Stand-orte der amerikanischen Besatzung. Diese Aspekte der Lokalgeschichte wurden bisher nur teilweise und nur für die einzelnen Gruppen untersucht und dargestellt. Ein besonderes Forschungsdesiderat stellt die Geschichte der nicht-jüdischen, zumeist sowjetischen DPs dar. Zudem sind durch die Erinnerungspolitiken seit Kriegsende konkurrierende Erzählungen entstanden, die durch gesonderte Gedächtnisinstitutionen repräsentiert werden (Sudetendeutsches Archiv bzw. Museum, Jüdisches Museum München). Das Projekt hat das Ziel, einen Dialog zwischen den Erzählsträngen herzustellen.
Eine integrierte Darstellung der Lokalgeschichte, die die Geschichte der unterschiedlichen DPs, der Vertriebenen sowie der Besatzer*innen in einen Zusammenhang bringt, kann als wichtiger Referenzpunkt in der Einwanderungsgeschichte Münchens dienen. Es ist deshalb sinnvoll, die Vielschichtigkeit der Einflüsse und grenzüberschreitenden Wege der Nachkriegszeit gebündelt unter einem lokalgeschichtlichen Fokus zu untersuchen.
Signifikanz
Die Darstellung der überaus komplexen und von materiellen und sozialen Schwierigkeiten geprägten Nachkriegsgeschichte kann einen neuen Referenzpunkt für die erinnerungskulturell geprägte Selbstwahrnehmung der Münchner*innen in Hinblick auf ihre Erfahrungen im Umgang mit Migration bilden. Denn die städtischen organisatorischen Leistungen sowie die der sozialen Integration waren enorm. Und auch die Erfahrungen der Münchner*innen mit Diversität und Differenz sind bedeutend. Sich dies als Stadtgesellschaft durch kulturelle Repräsentation vor Augen zu führen, kann eine wichtige Ressource für die gegenwärtigen Aushandlungen in der Migrationsgesellschaft bedeuten. Zudem kann die Zeit der amerikanischen Besatzung mit ihrem kulturellen, sozialen und politischen Einflüssen als wichtiger Modernisierungsschub nach dem Zweiten Weltkrieg beleuchtet werden.
Bei der Erforschung der Nachkriegszeit handelt es sich um ein zeitkritisches Unterfangen. Denn die Erlebnisse der Kriegs- und Nachkriegsgeneration (Jahrgänge bis 1940 etwa) können heute nur noch von wenigen Zeitzeug*innen erfragt und aufgezeichnet werden. Das Bedürfnis, die eigene Erfahrung zu artikulieren steigt zudem mit zunehmenden Alter. Und nur jetzt können noch materielle Hinterlassenschaften von Privatpersonen übernommen werden. Es handelt sich deshalb um einen kritischen Moment für die biografische Forschung und für die Erforschung der materiellen Kultur. Diese Chance, die individuellen Erzählungen in das Speichergedächtnis zu überführen, dürfen die Münchner Gedächtnisinstitutionen nicht verpassen, um kulturelles Erbe zu bilden.
Vorgehen und Ziele
Ziel des Projektes ist es, die Erfahrungen von Differenz, Diversität und Integration in der Nachkriegszeit medial darstellbar und erfahrbar zu machen. Um die Komplexität in einem lokalgeschichtlichen Zusammenhang darstellen zu können, wird zunächst die Geschichte und die materielle Kultur der Nachkriegszeit für die einzelnen Gruppen erforscht. Leitend können hierbei Fragen von Zugehörigkeiten, Organisation (politisch, sozial, kulturell, religiös) sowie der topografischen Verortung und des Kontakts mit den anderen Gruppen sein. Beispielhaft können besondere Ereignisse, Institutionen, Persönlichkeiten oder Orte (z.B. Radio Free Europe, McGraw-Kaserne, Lager Schleißheim, Sitz der UNRRA) beschreibbar werden. Aufgrund ihrer besonderen Bedeutung und Anschaulichkeit eignen sich diese beispielhaften Darstellungen für eine mediale Darstellung z.B. im Rahmen von Ausstellungen. Außerdem erlaubt die exemplarische Erforschung auch eine vernetzte Darstellung, da keine in sich geschlossene gesonderte Erzählung gefördert wird.
Darauf aufbauend können Objekte und Fotografien für die Sammlung des Münchner Stadtmuseums akquiriert und Zeitzeug*innen-Interviews auf Video aufgezeichnet werden.
Dabei sollen die unterschiedlichen Erfahrungen der verschiedenen Gruppen zur Geltung kommen und zugleich in einen gemeinsamen lokalgeschichtlichen Zusammenhang gebracht werden. Ziel ist nicht eine erinnerungspolitische Konstruktion einzelner Entitäten, sondern vielmehr ein Verständnis für Abgrenzungsprozesse und Schnittmengen; somit werden Verbindungen ersichtlich und Selbstdefinitionen verständlich.
Raum für die Aushandlung von Darstellungen kann z.B. durch partizipative Workshops mit Akteur*innen entstehen, durch wissenschaftlichen Austausch mit Expert*innen und durch Diskussionsangebote im Rahmen von Veranstaltungen und Ausstellungen. Beabsichtigt sind kleinformatige Ausstellungen sowie eine größere Abschlusspräsentation in Form einer Sonderausstellung. Diese können von Katalogen begleitet werden. Die Ergebnisse sollen in die Neukonzeption des Münchner Stadtmuseums im Rahmen der Generalsanierung einfließen, sodass in der neuen Dauerausstellung Displaced Persons, Vertriebene und die Zeit der amerikanischen Besatzung einen festen Platz haben.
Kooperationen mit dem Stadtarchiv München, dem NS-Dokumentationszentrum, der Bayerischen Staatsbibliothek, dem Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Collegium Carolinum sind geplant.
Ablauf und Kosten
Im Rahmen des Projekts „Migration bewegt die Stadt“ (2015 bis 2018) wurden bereits eine erste Sichtung der Forschungsliteratur unternommen, Gespräche mit anderen Gedächtnisinstitutionen (z.B. Jüdisches Museum) und Forscher*innen geführt sowie erste Kontakte zu Zeitzeug*innen aufgebaut.
Auf diese Vorarbeiten aufbauend soll nun in den Jahren bis mindestens 2025 eine vertiefende und strukturierte Erforschung der Migration in der Nachkriegszeit vorgenommen werden. Allerdings muss das geplante Vorgehen aufgrund der pandemiebedingt sehr eingeschränkten Möglichkeiten zu Recherche und Befragung von Zeitzeug*innen unter Umständen modifiziert werden; ebenso sind beabsichtige Präsentationen aufgrund der aktuellen Haushaltslage schwer planbar.
Vorgesehen ist, dass zu Beginn des Projekts Displaced Persons im Zentrum stehen; nicht nur die Geschichte der jüdischen DPs in München soll beleuchtet werden, sondern auch die bisher kaum erinnerte Geschichte der nicht-jüdischen, zumeist sowjetischen DPs in den Blick genommen werden. Damit kann eine zentrale Forschungslücke bearbeitet werden und erstmals grundsätzlich in Hinblick auf die materielle Kultur erforscht und sichtbar gemacht werden.
Für Werkverträge, Zeitzeug*innen-Interviews, eine kleine Ausstellung in der Galerie Einwand einen Ausstellungskatalog beim Allitera-Verlag in der Reihe „Münchner Beiträge zur Migrationsgeschichte“, Objektakquisen u.ä. werden Mittel in Höhe von rd. 50.000 Euro kalkuliert, die aus referatseigenen Mitteln des Kulturreferats (Münchner Stadtmuseum und Abt. 1/Stadtgeschichte) finanziert werden.
Im zweiten Schritt wird die Geschichte der Vertriebenen in München sowie der Kontext der amerikanischen Besatzung beleuchtet. Für Werkverträge, Workshops mit Akteur*innen, Interviews mit Zeitzeug*innen sowie
Objektakquisen für die Sammlung des Münchner Stadtmuseums werden 40.000 Euro kalkuliert. Auch diese Kosten werden aus referatseigenen Mitteln des Münchner Stadtmuseums und dem Kulturreferat, Abt. 1/Stadtgeschichte getragen.
Wünschenswert wäre eine Abschlusspräsentation 2025 anlässlich des 80. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs. In einer Sonderausstellung mit einem Ausstellungskatalog soll die Geschichte von Vertriebenen und DPs unter amerikanischer Besatzung in München auf Grundlage der gewonnenen geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisse und anhand der neu akquirierten Objekte und Fotografien sowie anhand von Zeitzeug*inneninterviews als etwa 300 m² umfassende Sonderausstellung – aufgrund desgeplanten Umbaus im Format „Stadtmuseum unterwegs“ – präsentiert werden; ein Ausstellungskatalog ist geplant.
Die Ausstellung einschließlich des Katalogs wird mit 200.000 Euro kalkuliert. Darin ist ein Betrag von 100.000 Euro für die Vorproduktion im Vorjahr der Präsentation enthalten, der nicht aus den voraussichtlich vorhandenen Budgets finanziert werden kann, sondern im Rahmen des Haushaltsverfahrens rechtzeitig zur Finanzierung angemeldet werden wird.
Das vollständige Projekt für die Jahre 2021 bis 2025 wird mit einer Gesamtsumme von 290.500 Euro kalkuliert, von der 190.000 Euro aus dem Etat des Kulturreferats bzw. des Münchner Stadtmuseums und des Jüdischen Museums kommen und 100.000 Euro zusätzlich beantragt werden müssen.
Ich bitte Sie, von den vorstehenden Ausführungen Kenntnis zu nehmen und hoffe, dass Ihr Antrag zufriedenstellend beantwortet ist und als erledigt gelten darf.