Istanbul-Konvention konsequent umsetzen I – Psychosoziale Prozessbegleitung ausbauen
Antrag Stadträtinnen Anja Berger und Jutta Koller (Fraktion Die Grünen – Rosa Liste) vom 2.3.2020
Antwort Sozialreferentin Dorothee Schiwy:
Sie bitten die Landeshauptstadt München in Ihrem o.a. Antrag
- ein Konzept zur Stärkung der Psychosozialen Prozessbegleitung (PSPB) zu entwickeln,
- ein Netzwerk aller Beteiligten einzurichten und
- öffentlichkeitswirksam über den Rechtsanspruch und das Netzwerk zu informieren.
Für diese in Ihren Antrag vom 2.3.2020 angeführten Sachverhalte besteht seitens der Landeshauptstadt München keine Zuständigkeit. Eine Klärung der von Ihnen aufgeworfenen Fragen ist ausschließlich über das Bayerische Staatsministerium der Justiz möglich.
Zu Ihrem Antrag vom 2.3.2020 teile ich Ihnen aber Folgendes mit:
Am 1.2.2018 trat das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die so genannte Istanbul-Konvention, für Deutschland in Kraft. Mit Inkrafttreten des Übereinkommens verpflichtet sich Deutschland auf allen staatlichen Ebenen, alles dafür zu tun, um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, Betroffenen Schutz und Unterstützung zu bieten und Gewalt zu verhindern.
Die 81 Artikel der Istanbul-Konvention enthalten umfassende Verpflichtungen zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, zum Schutz der Opfer und zur Bestrafung der Täter*innen. Die Konvention zielt damit zugleich auf die Stärkung der Gleichstellung von Mann und Frau und des Rechts von Frauen auf ein gewaltfreies Leben ab.
Seit dem 1.1.2017 haben gemäß § 406 g der Strafprozessordnung (StPO) und dem Gesetz über die Psychosoziale Prozessbegleitung im Strafverfahren (PsychPbG) besonders schutzbedürftige Verletzte einen Anspruch auf professionelle Begleitung und Betreuung während des gesamten Strafverfahrens, die sogenannte Psychosoziale Prozessbegleitung (PSPB). Für die Ausführung sind die Länder zuständig, im Freistaat Bayern wird diese im Art. 3 Bayerisches Gesetz zur Ausführung und Ergänzung strafrechtlicherVorschriften (Bayerisches Strafrechtsausführungsgesetz – BayStrAG) geregelt.
PSPB ist eine besonders intensive Form der Begleitung vor, während und nach der Hauptverhandlung. Sie umfasst die qualifizierte Betreuung, Informationsvermittlung und Unterstützung im Strafverfahren. Damit soll vor allem die individuelle Belastung der Opfer reduziert werden. Prozessbegleitung ersetzt also nicht die Anwält*innen, durch die die Rechtsberatung erfolgt. Prozessbegleitung ist eine nicht-rechtliche Begleitung und damit ein zusätzliches Angebot für besonders schutzbedürftige Opfer. PSPB ist eine intensive professionelle Form der Zeugenbetreuung, die sich über das gesamte Strafverfahren erstreckt und auch außerhalb des Gerichtsgebäudes stattfindet.
Insbesondere Kinder und Jugendliche, die Opfer von Gewalt- und Sexualdelikten geworden sind, haben einen Anspruch auf PSPB. Hierzu muss ein Antrag beim verhandelnden Gericht gestellt werden, das bei Vorliegen der Voraussetzungen die Prozessbegleitung beiordnet. Diese ist für das Opfer dann kostenfrei. Auch erwachsene Opfer können bei Gewalt- oder Sexualverbrechen einen Anspruch auf PSPB haben, ebenso wie Kinder, Eltern, Geschwister, Ehegatt*innen oder Lebenspartner*innen, die ihren Angehörigen durch eine Straftat verloren haben.
Die Länder sind für die Ausführung der PSPB zuständig und damit auch für die Frage, welche Personen als Prozessbegleiter*innen anerkannt werden. In Bayern wird die PSPB durch verschiedene Opferschutzeinrichtungen und selbständig Tätige angeboten.
Da das Instrument der PSPB von der Justiz eingerichtet wurde, wäre es folgerichtig, wenn hier die Kooperation von Netzwerk und Öffentlichkeitsarbeit verankert wäre.
Trotz der gesetzlichen Zuständigkeit des Landes nimmt die Landeshauptstadt München in verschiedenen Bereichen der Stadtverwaltung gleichfalls freiwillig Aufgaben wahr, die der gesetzlich definierten PSPB entsprechen und/oder bei denen die angebotenen Leistungen der Opferberatung und -fürsorge der Landeshauptstadt München zumindest Berührungspunkte und Schnittmengen mit der staatlichen Prozessbegleitung haben.
Das Sozialreferat betreut und berät im Rahmen bestimmter Fachlichkeiten und Einrichtungen ebenfalls Opfer, Zeugen und/oder Beteiligte von Gewaltvorfällen, bis hin zur Begleitung im Strafverfahren und der Verhandlung:
-Angebote der Bezirkssozialarbeit (BSA)
Die Aufgaben und Angebote der BSA befassen sich im Schwerpunkt
mit häuslicher Gewalt/Partnergewalt. Wird ein Fall von häuslicher Gewalt zwischen Partner*innen bekannt, erhalten sowohl die Opfer als auch die Täter*innen von der BSA ein Beratungsangebot.
Die Opferberatung beinhaltet Unterstützungsangebote wie die Vermittlung in ein Frauen-/Männerhaus, Hinweise auf die Möglichkeit der Anzeigeerstattung, auf die Opferschutzstelle der Polizei, auf Beratungsstellen, etc. Die Täter*innen-Beratung beinhaltet eine Darlegung der rechtlichen Konsequenzen, der Konfrontation mit den physischen und psychischen Auswirkungen von Gewalt sowie das Angebot von Bera-
tungsstellen wie MIM für gewalttätige Männer oder ViolenTia für gewalttätige Frauen.
Leben Kinder im Haushalt, wird häusliche Gewalt zwischen Partner*innen immer als Kindeswohlgefährdung bearbeitet, da auch miterlebte Gewalt eine Gefährdung darstellt. Das Miterleben von Gewalt und das Aufwachsen in einer von Gewalt geprägten Atmosphäre wird auch in Wissenschaft und Forschung als Kindeswohlgefährdung betrachtet, was eine entsprechende Handhabung gebietet. In diesem Fall hat die BSA den gesetzlichen Auftrag dafür zu sorgen, dass alle Maßnahmen ergriffen werden, um die Gewalt zu beenden und den Kindern ein
Aufwachsen ohne Gewalt zu ermöglichen. In vielen dieser Fälle regt die BSA diesbezüglich ein familiengerichtliches Verfahren an und ist im weiteren Verlauf am familiengerichtlichen Verfahren beteiligt.
Das Informationsmaterial zur PSPB vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz ist in den Eingangszonen der Sozialbürgerhäuser für Bürger*innen zugänglich. Wenden sich betroffene Bürger*innen an die Orientierungsberatung, erhalten sie umfassende Informationen zur PSPB.
- Angebote im Bereich der Frauenhäuser
In den Münchner Frauenhäusern wird teilweise und bei Bedarf auf Wunsch von Bewohner*innen während ihres Aufenthaltes im Frauenhaus von den im Frauenhaus beschäftigten Sozialpädagog*innen PSPB in Gewaltverfahren/Strafverfahren angeboten. Im Einzelfall kann diese prozessuale Unterstützung auch nach dem Verlassen des Frauenhauses im Rahmen der Nachbetreuung weitergeführt werden. Im Hinblick auf die knappen Beratungskapazitäten der Frauenhausmitarbeiter*innen muss leider darauf geachtet werden, die dem Verfahren nachgehende Beratung auf das unbedingt Notwendige zu beschränken. Die Einrich-tungen pflegen eine enge Zusammenarbeit mit den Anwält*innen der Frauen, die sie in den Gewaltverfahren/Strafprozessen vertreten.
- Angebote für Frauen mit Migrationshintergrund in Krisensituationen
Die Notunterbringung im Haus TAHANAN (Träger: IN VIA München e.V., Kath. Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit) ist speziell für die Zielgruppe Frauen mit Migrationshintergrund mit ungesichertem Aufenthaltsstatus in einer akuten Krisensituation ausgelegt. Unter ihnen sind Frauen, die aus prekären Beziehungssituationen geflohen sind, Opfer von Menschenhandel oder Frauen, die aus ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen und Zwangsprostitution fliehen und deswegen auch Zeugenschutz benötigen.
In der Regel ist der Lebensunterhalt der Hilfesuchenden bei Einzug nicht gesichert und den meisten Frauen fehlen ausreichende Deutschkenntnisse. Eine Betreuung ist aufgrund dessen und der Multi-Problem-Lagen in anderen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe oder
einem Frauenhaus nicht bedarfsgerecht möglich.
Das Haus TAHANAN bietet Begleitung durch Sozialpädagog*innen in allen Belangen an. Dies umfasst von Angelegenheiten bei der Ausländerbehörde, die Vorsprache bei der Polizei bis zur Begleitung zu Ämtern und zu Gericht. Das Haus TAHANAN arbeitet vernetzt mit anderen
Einrichtungen im Bereich „Opfer von Gewaltverhältnissen“. Deswegen werden Opfer von Menschenhandel, Zwangsprostitution, Arbeitsaus-
beutung, die im Haus TAHANAN Aufnahme gefunden haben, in Koope-
ration mit der spezialisierten Fachberatungsstelle JADWIGA betreut, beraten und unterstützt.
Die Notunterbringung im Haus TAHANAN gewährt in den jetzigen Räumlichkeiten maximal sieben bis neun Frauen mit oder ohne Kinder sowie Schwangeren Schutz und Zuflucht. Im Jahr 2019 wurden ins-
gesamt 22 Frauen und sieben Kinder aufgenommen und betreut. Die
Zuwendung der Landeshauptstadt München für dieses Angebot des Trägers ist eine freiwillige Leistung und betrug 155.000 Euro im Haushaltsjahr 2019.
- Gewaltschutzkonzept für Frauen in Unterkünften
Das Gewaltschutzkonzept des Amtes für Wohnen und Migration wurde am 8.3.2021 im Sozialausschuss beschlossen (Sitzungsvorlage Nr. 20-26/V 02465). Das Gewaltschutzkonzept beinhaltet u. a. ein ausführlichesKapitel zu Maßnahmen gegen Gewalt gegen Frauen in allen Objekten der Wohnungslosen- und Flüchtlingshilfe. Neben der Gewaltprävention wird im Zuge der Entwicklung, Implementierung und laufenden Um-
setzung des Gewaltschutzkonzeptes in allen Einrichtungen der Landeshauptstadt München sowie von bezuschussten externen Trägern sowohl der akute als auch der weiterführende Umgang mit Gewaltsituationen thematisiert. Ziel ist, allen Mitarbeitenden, Ehrenamtlichen sowie untergebrachten Personen eine Sensibilität für die Thematik zu vermitteln und insbesondere über Rechte zu informieren. Dies umfasst auch die Rechte im Nachgang eines Gewaltvorfalls (z.B. den Anspruch auf PSPB) und ebenso die direkte Betreuung und Unterstützung der betroffenen und beteiligten Personen.
- Angebote zur Prävention von Gewalt für Frauen und Mädchen mit
Behinderungen
Bereits seit 2016 setzt sich das Koordinierungsbüro zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) für die Ziele der Istanbul-Konvention, die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und ihren Schutz vor häuslicher Gewalt intensiv ein. Der Schutz vor Diskriminierungen von Frauen und Mädchen mit Behinderungen ist in Artikel 6 der UN-BRK klar festgeschrieben. Der Gewaltschutz von Mädchen und Frauen mit Behinderungen wurde im Rahmen des 2. Aktionsplans zur Umsetzung der UN-BRK mit einer Maßnahme aufgegriffen. Ziel der Maßnahme ist, bereits bestehende Angebote zur Prävention von Gewalt gegen Frauen in Zukunft inklusiv auszurichten. Um dieses Ziel zu erreichen, hat der Münchener Stadtrat in der Sitzung des Kinder- und Jugendhilfeausschusses am 21.11.2019 sowie die Vollversammlung am 27.11.2019 die Mittel für Personalzuschaltungen bei Trägern bzw. Projekten zugestimmt (siehe Sitzungsvorlage Nr. 14-20/V 13372, Punkt 7). Die Stellenbesetzungen konnten ab dem 1.1.2021 realisiert werden. PSPB wird bei den Trägern nicht angeboten.
- Leitfaden zur Gewaltprävention in der Langzeitpflege
Im Auftrag der Münchner Pflegekonferenz ist ein Leitfaden zur Gewaltprävention in der Münchner Langzeitpflege entwickelt worden. Für die Münchner Langzeitpflege bestehen auch Förderprogramme wie z.B. Schulungsprogramme zum Thema „Gewaltprävention“. Das Evangelische Bildungswerk behandelt bei der Schulung für Seniorenbegleitung das Thema „Gewalt und Alter“. Zudem besteht ein Angebot zu gewaltfreier Kommunikation. In einigen Alten- und Servicezentren wird in Kooperation mit dem Frauennotruf ein Frauenfrühstück angeboten. Seit 2020 wird in den Jahresplanungsgesprächen mit Stellen der psychoso-zialen Betreuung in Seniorenwohnanlagen das Thema geschlechtsspezifische Gewalt kontinuierlich und verbindlich abgefragt und dokumentiert.
- PSPB in Einrichtungen
In München gibt es Psychosoziale Prozessbegleiter*innen, die gleichzeitig bei Einrichtungen arbeiten, die vom Stadtjugendamt gefördert werden (siehe Liste des Oberlandesgerichts unter www.justiz.bayern.de/service/psychosoziale/prozessbegleitung).
Am 24.9.2019 fand unter Beteiligung verschiedener Veranstalter*innen eine Tagung unter der Mitwirkung der damaligen Dritten Bürgermeisterin Christine Strobl zum Thema „Die Istanbul-Konvention anpacken!“ mit zahlreichen Workshops statt. Mit dem Fachtag sollten Bedarfe, Handlungsansätze und Strategien für die Umsetzung der Istanbul-Konvention in München formuliert werden. Die Ergebnisse fließen in den Münchner Aktionsplan gegen geschlechtsspezifische Gewalt im Rahmen der Europäischen Charta zur Gleichstellung von Frauen und Männern ein.
Im Ergebnis ist festzuhalten, dass sich alle städtischen Stellen und die vom Sozialreferat geförderten Einrichtungen mit der Umsetzung der Istanbul-Konvention auseinandersetzen, speziell in Einrichtungen, die Beratung und Unterstützung bei geschlechtsspezifischer Gewalt anbieten. In allen Beratungsstellen des Sozialreferates, deren Zielgruppen Opfer von Gewalt sind, wird über die PSPB informiert.
Ich bitte Sie, hier auch noch die Stellungnahme der Gleichstellungsstelle für Frauen zu beachten, die als Anlage beigefügt ist.
Für die gewährte Terminverlängerung für die Behandlung Ihres Antrags möchte ich mich bedanken.
Ich hoffe, auf Ihr Anliegen hinreichend eingegangen zu sein. Ich gehe davon aus, dass die Angelegenheit damit abgeschlossen ist.
Die Anlage kann abgerufen werden unter:
https://www.ris-muenchen.de/RII/RII/ris_antrag_dokumente.jsp?risid=5923585