Jahrelanger Wohnungsleerstand wegen Erbenermittlung – Nachlassgericht überlastet?
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Rathaus Umschau 202 / 2021, veröffentlicht am 20.10.2021
Jahrelanger Wohnungsleerstand wegen Erbenermittlung – Nachlassgericht überlastet?
Antrag Stadträte Dirk Höpner und Rudolf Schabl (Fraktion ÖDP/FW) vom 6.5.2021
Antwort Sozialreferentin Dorothee Schiwy:
Sie beantragen, dem Stadtrat – gegebenenfalls nach Rücksprache mit dem als Nachlassgericht zuständigen Amtsgericht – umfangreiche Fragen zu Erbenermittlung und Zweckentfremdung zu beantworten.
Ihr Antrag bezieht sich fast ausnahmslos auf Belange des sachlichen und örtlichen Zuständigkeitsbereichs des Amtsgerichts München (Nachlassgericht).
Das Amtsgericht München wurde daher um eine Stellungnahme in Bezug auf die Fragen, die die dortige sachliche Zuständigkeit berühren, gebeten.
Die Frage Nummer 7 des oben genannten Antrages bezieht sich auf den Vollzug des Wohnraumzweckentfremdungsrechts.
Ihr Einverständnis vorausgesetzt teile ich Ihnen zu Ihrem Antrag vom 6.5.2021 Folgendes mit:
Frage 1:
Wie verläuft das Verfahren zur Ermittlung der Erben von Amts wegen nach Art. 37 AGGVG, wenn zum Nachlass eines in München verstorbenen Erblassers ein Grundstück oder grundstücksgleiches Recht im Stadtgebiet München gehört?
Antwort:
Das zuständige Amtsgericht München teilte uns hierzu Folgendes mit:
„Die Grundsätze der in Bayern über Art. 37 AGGVG vorgegebenen Verpflichtung zur Erbenermittlung gelten auch in Nachlassfällen mit Grundstücken oder grundstücksgleichen Rechten. Ist Grundbesitz vorhanden, wird ausnahmslos nach allen potenziellen Erben erschöpfend ermittelt. Grundsätzlich versucht das Nachlassgericht, zunächst selbst die Erben zu ermitteln (Anfrage an Mitteiler, dann Anschreiben an mögliche Erben, Beiziehung von Akten, Anforderungen von Personenstandsurkunden, Nachfragen bei Friedhofsverwaltungen, Einwohnermelde- und Standesämtern). Erst wenn dies nicht mit verhältnismäßigem (zeitlichen) Aufwand zu einem Erfolg führt oder wenn komplexere Recherchen in entfernteren Ordnungen (üblicherweise ab der dritten Ordnung, z.B. Großeltern, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins) nötig werden, wird regelmäßig ein Nachlasspfleger bestellt.“
Frage 2:
Wie viele Erbfälle pro Jahr gibt es, bei denen zum Nachlass eines in München verstorbenen Erblassers ein Grundstück oder grundstücksgleiches Recht im Gebiet der Landeshauptstadt München gehört?
Antwort:
Das zuständige Amtsgericht München teilte uns hierzu Folgendes mit:
„Eine genaue Zahl lässt sich nicht eruieren, da hier keine Statistik darüber geführt wird, in wie vielen Nachlassverfahren Grundstückseigentum betroffen ist.
Im Bezirk des Nachlassgerichts gab es in den letzten Jahren etwa 20.000 bis 24.000 Vorgänge jährlich. In circa 80 bis 90% der Fälle wurde dabei ein Nachlassverfahren eingeleitet. Dies geschieht immer dann, wenn der Nachlasswert mutmaßlich die Beerdigungskosten übersteigt, wenn ein Testament vorliegt, Verwahrgegenstände vorliegen oder Grundbesitz vorhanden ist. Nach Schätzung hiesiger Rechtspfleger war bei circa 20 bis 40% dieser Nachlasssachen Grundeigentum betroffen, wobei es sich nicht zwingend um Wohnimmobilien in München handelt. Hierbei handelt es sich allerdings zu einem bedeutenden Teil um Konstellationen, bei denen beispielsweise der Ehegatte des Erblassers oder andere Familienangehörige ebenfalls in der Immobilie wohnen oder in denen die Erbfolge geregelt oder problemlos ermittelbar ist; teilweise sind die betroffenen Wohnungen auch bereits zu Lebzeiten des Erblassers vermietet.“
Frage 3:
In wie vielen dieser Erbfälle muss das Nachlassgericht Erbenermittlungen vornehmen, da ihm die Erben nicht wenige Wochen nach dem Todesfall durch Angehörige oder eine Nachlassregelung des Erblassers (Testament, Erbvertrag) bekannt werden?
Antwort:
Das zuständige Amtsgericht München teilte uns hierzu Folgendes mit:
„Auch hierüber wird keine Statistik geführt. Grob geschätzt werden wegen offener Erbschaftsfragen bzw. unbekannter Erbschaftsverhältnisse insgesamt jährlich Nachlasspflegschaften im deutlich unteren vierstelligen Bereich bestimmt. Der Anteil der Nachlasssachen mit Grundeigentum, indenen Nachlasspflegschaften bestimmt werden müssen, macht jedoch nur einen geringen Anteil aller Fälle mit Nachlasspflegschaften aus. Denn wenn ein Nachlass auch Grundeigentum beinhaltet, treffen die Erblasser regelmäßig Verfügungen von Todes wegen oder es melden sich zeitnah Angehörige.
Sollte dies nicht der Fall sein, so wird gemäß den unter 1. dargestellten Grundsätzen vorgegangen und (üblicherweise nach wenigen Wochen) eine Nachlasspflegschaft angeordnet.“
Frage 4:
Wie viele Stellen (VZÄ) gibt es im Nachlassgericht München und wie viele davon sind derzeit besetzt? Gibt es im Nachlassgericht München Bearbeitungsrückstände bei der Erbenermittlung und in welchem Umfang? Wie ließe sich das Verfahren zur Erbenermittlung und zur Erbscheinerteilung beschleunigen?
Antwort:
Das zuständige Amtsgericht München teilte uns hierzu Folgendes mit:
„Im Nachlassgericht gibt es aktuelle drei Richterstellen bei einer Gesamt-AKA von 2,0 sowie 24 Rechtspflegerstellen mit einer Gesamt-AKA von 20,83. Im Servicebereich sind 22 Stellen mit einer Gesamt-AKA von 19,35 mit der Verfahrensbearbeitung betraut. Aktuell sind alle Stellen besetzt.
Nennenswerte Bearbeitungsrückstände im rechtspflegerischen Bereich bei der Erbenermittlung bestehen nach hiesiger Einschätzung derzeit nicht.
Anzumerken gilt, dass die Möglichkeit einer abschließenden Bearbeitung irgendeines Nachlassverfahrens in nur ‚wenigen Wochen‘ insbesondere im Hinblick auf die ‚Meldewege‘ mit teils verzögerten Mitteilungen von Sterbefällen durch die Standesämter an das Zentrale Testamentsregister sowie die einzuhaltenden Anhörungen selbst in inhaltlich unproblematischen Fällen die absolute Ausnahme ist. Komplexe Ermittlungen zu entfernteren Ordnungen (Abkömmlinge der Eltern, Großeltern etc. – teilweise auch mit Auslandsbezug oder zurückreichend bis zu Vermisstenfällen oder Kriegstoten) können Jahre dauern. Auch Einwendungen der Beteiligten in der Sache und nachfolgende Beschwerdeverfahren (Einwand der Testierunfähigkeit oder Testamentsfälschungen mit zwingendem Sachverständigengutachten u.ä.) haben maßgeblichen Einfluss auf die Verfahrensdauer.“
Frage 5:
Was geschieht mit einem Grundstück oder grundstücksgleichen Recht, wenn das Nachlassgericht trotz Ausschöpfung aller Möglichkeiten keine Erben ermitteln kann?
Welche staatliche Stelle führt dann das Veräußerungs- oder Verwertungsverfahren durch und wie lange dauert dies üblicherweise? Wie ließe es sich beschleunigen?
Antwort:
Das zuständige Amtsgericht München teilte uns hierzu Folgendes mit:
„Nach Auskunft von Rechtspflegern kommt dies sehr selten vor. Wenn auch über die Nachlasspfleger (und in Einzelfällen im Rahmen eines Aufgebotsverfahrens) nichts erreicht werden kann, würde das Erbrecht des Staates greifen. Für die weitere Verwaltung und Verwertung wäre dann das Landesamt für Finanzen zuständig. Aussagen zu Dauer und Beschleunigungsmöglichkeiten des Veräußerungs- oder Verwertungsverfahrens können daher von hier nicht getroffen werden.“
Frage 6:
Werden die vom Nachlassgericht betrauten Nachlasspfleger von ihm dazu angehalten, Wohnungen für die Dauer der Erbenermittlung zu vermieten, da ja bei einem monate- oder gar jahrelangen Leerstand für den Nachlass ein erheblicher Schaden durch entgangene Mieteinnahmen bei gleichzeitig weiterzuzahlenden Wohnnebenkosten entsteht?
Antwort:
Das zuständige Amtsgericht München teilte uns hierzu Folgendes mit:
„Grundsätzlich ist voranzustellen, dass der Nachlasspfleger seine Tätigkeit selbständig ausübt und nur in gewissen Grenzen vom Nachlassgericht überwacht oder gar angewiesen werden kann. Die Rechtspfleger wiederum sind ihrerseits nach dem Rechtspflegergesetz unabhängig bei ihrer konkreten Verfahrensführung. Sie kontrollieren und überwachen die Nachlasspfleger turnusmäßig.
Bei bereits vermieteten Wohnungen im Nachlass läuft der Mietvertrag regelmäßig weiter. In vielen Fällen wurde die Wohnung auch nicht vom Erblasser, sondern auch von dessen Ehegatten oder anderen Familienangehörigen bewohnt, so dass es keinen Leerstand gab.Leerstehende Immobilien werden zumeist erst einmal nicht neu vermietet, da der Nachlasspfleger im Interesse der (unbekannten) Erben tätig wird und für deren Interessen verantwortlich ist. Eine Vermietung einer Wohnung führt zu einer (teils erheblichen) Werteinbuße bei einem potenziell anstehenden Verkauf durch den Erben, so dass die Gefahr einer Haftung des Nachlasspflegers im Raum stünde, wenn er übereilt eine Wohnung (neu) vermietet. Hinzu kann im Einzelfall insbesondere die Gefahr zahlungsunfähiger oder zahlungsunwilliger Mieter kommen. Eine Verhältnismäßigkeitsgrenze wird sicherlich nach einer mehrjährigen Suche nach Erben oder dann zu sehen sein, wenn die Unterhaltskosten nicht mehr verhältnismäßig sind. Berücksichtigung bei der Frage der Weitervermietung muss auch finden, dass oft zunächst umfangreiche Renovierungsarbeiten nötig sind und erhebliche Lagerungskosten für das Inventar anfallen. Weitervermietungen unterliegen im Übrigen der nachlassrechtlichen Genehmigungspflicht nach § 1907 BGB.“
Frage 7:
Welche rechtlichen Möglichkeiten hat die Landeshauptstadt München bei Wohnungsleerstand wegen eines andauernden Erbenermittlungsverfahrens eine Wohnungsvermietung gegenüber dem Nachlassgericht oder dem Nachlasspfleger anzuordnen oder eine Wohnungsbelegung von Amts wegen vorzunehmen?
Antwort:
Eine Zweckentfremdung von Wohnraum liegt grundsätzlich vor, wenn Wohnraum länger als drei Monate leer steht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 ZeS). Im Falle einer festgestellten Zweckentfremdung kann der*dem Verfügungsberechtigten mittels Bescheid aufgegeben werden, die Zweckentfremdung in angemessener Frist zu beenden und den Wohnraum wieder Wohnzwecken zuzuführen (vgl. § 13 Abs. 2 ZeS).
Das Sozialreferat ist nach den verwaltungsrechtlichen Bestimmungen stets dazu verpflichtet, die*den richtige*n Adressat*in für eine derartige Anordnung auszuwählen.
Regelmäßig ist die*der richtige Adressat*in im Falle von zweckentfremdungsrechtlichen Anordnungen aufgrund leer stehenden Wohnraums die*der Verfügungsberechtigte des jeweiligen Wohnraumes.
Die volle Verfügungsmacht über den Wohnraum und insofern auch die Verfügungsberechtigung obliegt einzig der*dem jeweiligen Eigentümer*in des jeweiligen Wohnraums.Solange die Eigentumsverhältnisse hingegen unklar sind (laufendes Nachlassverfahren, die*der Eigentümer*in ist verstorben und die*der neue Eigentümer*in steht aufgrund der Ermittlung des Nachlassgerichts noch nicht fest), hat das Sozialreferat keine rechtliche Handhabe, auf eine bestimmungsgemäße Nutzung des betreffenden Wohnraums hinzuwirken.
In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass sich das Sozialreferat in derart gelagerten Fällen selbstverständlich in engen zeitlichen Abständen über den Fortgang des Nachlassverfahrens erkundigt und nach der Klärung der Eigentumsverhältnisse bei der*dem neue*n Eigentümer*in auf eine zeitnahe Wohnnutzung der betreffenden Räumlichkeiten hinwirkt.
Frage 8:
Könnte die Landeshauptstadt München mit dem Amtsgericht München einen Vertrag abschließen, der es ihr ermöglicht, wegen Erbenermittlungen leerstehende Wohnungen für die Dauer der Ermittlung mit beim Sozialreferat gemeldeten Wohnungslosen zu belegen und dafür ein angemessenes Entgelt zu zahlen, welches dem jeweiligen Nachlassvermögen des Erblassers zu Gute kommt?
Antwort:
Das zuständige Amtsgericht München teilte uns hierzu Folgendes mit:
„Von hier aus ist dafür derzeit keine rechtliche Möglichkeit denkbar. Über die Nachlassgegenstände können nur der Nachlasspfleger und die Erben, nicht das Gericht disponieren. Eventuelle Verträge, die die Nachlasspfleger schließen, wären in jedem Einzelfall nachlassrechtlich genehmigungspflichtig.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Vermietung möglicherweise zu einer Beschneidung der (finanziellen) Interessen der noch unbekannten Erben führen kann. Hinzu kommt, dass unklar ist, was mit den potenziell noch in der Wohnung befindlichen persönlichen Gegenständen und Möbeln des Erblassers passieren würde, ob/auf wessen Beauftragung und auf wessen Kosten zuvor Renovierungsarbeiten durchgeführt würden und wer den Erben hinterher für etwaige Schäden/Wertverluste haftet. Weiter ist zu bedenken, dass nicht vorhergesagt werden kann, wann die Erben ermittelt werden können und sich diesbezüglich in den einzelnen Fällen auch kurzfristige Entwicklungen ergeben können.
Ausdrücklich wird nochmals darauf hingewiesen, dass es Aufgabe der Nachlasspfleger und unmittelbar damit auch des Nachlassgerichts ist, die potenziellen Erben zu ermitteln und dabei deren Rechte zu wahren. Übereilte Verläufe, Vermietungen oder Freigaben von Immobilien würden indes eine Beeinträchtigung dieser Interessen bedeuten.
Es wird außerdem erneut betont, dass nach hiesiger Einschätzung Verfahren, in denen Grundstückseigentum vorhanden ist, aber Erben über einen längeren Zeitraum nicht ermittelbar sind, selten sind, so dass das Problem ungenutzten Wohnraums im geschilderten Zusammenhang sich aus hiesiger Sicht anteilsmäßig als eher marginal darstellt.“
Das Sozialreferat sieht aus den oben genannten Gründen ebenfalls keine Möglichkeit für den Abschluss eines derartigen Vertrages.
Frage 9:
Könnten in einem Gespräch der Münchner Stadtspitze mit den für die Bearbeitungssituation im Nachlassgericht verantwortlichen Mitgliedern der Bayerischen Staatsregierung Verbesserungen erreicht werden, die zu einer schnellen Wiederverfügbarmachung von Wohnraum beitragen?
Antwort:
Siehe Antwort zu Frage 8.
Ich hoffe, auf Ihr Anliegen hinreichend eingegangen zu sein. Ich gehe davon aus, dass die Angelegenheit damit abgeschlossen ist.