Die Landeshauptstadt München hat bereits im Juli dieses Jahres eine möglichst vollständige Aufarbeitung der Geschehnisse in den Heimen, Pflege- und Adoptivfamilien, in denen Kinder durch die Landeshauptstadt untergebracht wurden, beschlossen. Das Sozialreferat legt nun dem Stadtrat eine Vorschlagsliste zur Berufung der Mitglieder in die Expert*innenkommission vor, über die der Stadtrat im Kinder- und Jugendhilfeausschuss am Dienstag, 26. Oktober, beraten wird.
Bürgermeisterin Verena Dietl: „Wir wollen mit der Einrichtung der Expert*innenkommission größtmögliche Neutralität und Unabhängigkeit im gesamten Aufarbeitungsprozess der Heimkinder erreichen. Der gesamte Prozess soll so weit als möglich in die Hände der Expert*innenkommission gelegt werden, um eine größtmögliche Unabhängigkeit zu ihren eigenen Institutionen sowie der Landeshauptstadt allgemein herzustellen. Deshalb sollen Entscheidungen innerhalb des Aufarbeitungsprozesses so weit als möglich durch die Expert*innenkommission erfolgen.“
Die Expert*innenkommission soll über insgesamt 14 Mitglieder verfügen, von denen fünf aufgrund ihrer Nähe zu Institutionen oder Organisationen nur beratende Funktion haben und nicht stimmberechtigt sind.
Für den Vorsitz der Kommission schlägt das Sozialreferat Ignaz Raab vor, Experte aus dem Bereich der Kriminologie mit Expertise für Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Mit Raab als Vorsitzendem der Expert*innenkommission soll zum einen der Anspruch der Aufdeckung krimineller, pädophiler Strukturen und Netzwerke wie auch der Unabhängigkeit des Aufarbeitungsprozesses zu Stadtverwaltung und Politik erreicht werden.
Um die Position der Betroffenen und deren Belange zu stärken, sollen zusätzlich zu zwei Betroffenenvertreter*innen zwei weitere Positionen in der Expert*innenkommisssion direkt durch selbst Betroffene besetzt werden. Die Besetzung erfolgt geschlechterparitätisch im Rahmen eines Auswahlverfahrens unter Federführung der Expert*innenkommission.
Weiterhin sollen in die multiprofessionelle Expert*innenkommission Vertreter*innen des Sozialreferats, Jurist*innen/Kriminolog*innen, Soziolog*innen, Sozialpädagog*innen, Psycholog*innen und Historiker*innen als auch Mitglieder des wissenschaftlichen Instituts, das die Aufarbeitung durchführt, berufen werden.
Die Aufarbeitung soll auch die Untersuchung der Existenz pädophiler Netzwerke sowohl zwischen den Einrichtungen unterschiedlicher Träger wie auch zwischen den Institutionen und den Pflege- und Adoptivfamilien beinhalten und die Frage beantworten, ob allen Betroffenen im bestmöglichen Maße geholfen wurde. Ebenso soll untersucht werden, was sich heute noch über die Täter*innen feststellen lässt und welche Rolle die Mitarbeiter*innen und Institutionen der Landeshauptstadt bei den Geschehnissen gespielt haben. Zudem werden neue rechtliche Sichtweisen in den Aufarbeitungsprozess miteinfließen, die die Wahrung der Grundrechte der Betroffenen mit ihren erfahrenen Schädigungen in Verbindung bringen. Die Experten*innenkommission wird sich zu dieser Rechtssituation in einem Fachvortrag informieren und weitere Fragen erörtern.
Sozialreferentin Dorothee Schiwy: „Da die meisten der Betroffenen sich bereits im vorgerückten Alter befinden und oft in einer schlechten gesundheitlichen Verfassung sind, soll die Expert*innenkommission sich zügig und vorrangig mit der Frage nach Entschädigungszahlungen sowie der Höhe und Auszahlungsweise auseinandersetzen.
Ziel ist, dass die Kommission innerhalb eines halben Jahres, gerechnet ab der konstituierenden Sitzung, zu einem vorläufigen Ergebnis über erste Entschädigungszahlungen kommt und dieses im Rahmen einer Empfehlung an den Stadtrat weitergibt.“
Im vergangenen Jahrhundert wurden für längere oder auch für kürzere Zeit viele tausend Kinder durch die Landeshauptstadt in Heimen, Pflege- und Adoptivfamilien untergebracht, die sich teilweise nicht nur außerhalb der Grenzen des Freistaates, sondern auch außerhalb der Landesgrenzen befanden. Die Aufarbeitung wird sich deshalb nicht nur auf die Unterbringung in Heimen beschränken, sondern ebenso die Unterbringung in Pflegefa- milien sowie die Adoption inkludieren. Nur so kann eine tiefgründige und umfassende Beleuchtung und Aufarbeitung der Missstände in den verschiedenen Unterbringungsformen erreicht werden. Der Schwerpunkt der Aufarbeitung liegt auf den Jahren nach 1945. Selbstverständlich arbeitet das Sozialreferat jedoch alle Fälle von Missbrauch unabhängig vom Zeitpunkt des Geschehens auf, die im Aufarbeitungsprozess zu Tage kommen.