Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Notfallversorgung
Anfrage Stadtrats-Mitglieder Marie Burneleit, Stefan Jagel, Thomas Lechner und Brigitte Wolf (DIE LINKE. / Die PARTEI Stadtratsfraktion) vom 18.3.2021
Antwort Kreisverwaltungsreferent Dr. Thomas Böhle:
Mit Schreiben vom 18.3.2021 haben Sie Folgendes angefragt:
„Überfüllte Notaufnahmen in den Kliniken unserer Stadt, Abmeldungen der Intensivstationen bei der Leitstelle, lange Wartezeiten, verärgerte Patient*innen. Dies beschreibt die Situation in der Notfallversorgung vor der Corona-Pandemie.
Die Patient*innen haben einen Anspruch auf eine schnelle und qualitativ hochwertige Akut- und Notfallversorgung. Das Pflegepersonal und die Ärzt*innen in der Notfallversorgung brauchen dringend eine Verbesserung ihrer Arbeitssituation. Gegen die permanente strukturelle Überlastung der Notfallversorgung muss die Politik auf allen Ebenen gegensteuern und nachhaltige Lösungen entwickeln.
Vor diesem Hintergrund bitten wir den Oberbürgermeister folgende Fragen zu beantworten:
1. Wie oft haben sich Kliniken im Zeitraum 1.1.2020 bis 31.12.2020 und im Zeitraum 1.1.2019 bis 31.12.2019 zeitweise (drei Stunden oder länger) aus der Notfallversorgung abgemeldet?
2. Wie oft wurden im Zeitraum vom 1.1.2020 bis 31.12.2020 von der Leitstelle ‚Zwangszu
weisungen‘ durchgeführt? Wie oft wurden diese im Zeitraum 1.1.2019 bis 31.12.2019 durchgeführt? Bitte aufschlüsseln nach München Klinik (jeweiliger Standort), Universitätskliniken und Private Kliniken.
3. Gab es bei der München Klinik zeitgleich oder kurz vor Sperrungen gestellte Gefährdungsanzeigen von Beschäftigten in den jeweiligen Bereichen? Falls ja, bitte auflisten nach Datum, Standorten und Bereichen.
4. Führten in der München Klinik die Gefährdungsanzeigen zu Abmeldungen aus der Notfallversorgung oder trugen sie zumindest dazu bei?
5. Welche der Sperrungen von Notaufnahmekapazitäten seit dem 1.3.2020 waren durch Personalengpässe (mit)verursacht? Bitte aufschlüsseln nach Krankenhaus, Notaufnahmebereich und Art des Personalmangels (ärztlich, pflegerisch oder anderweitig).
6. Inwieweit sind die Personalengpässe in den Notaufnahmen bei der München Klinik entstanden, weil Beschäftigte positiv auf Corona getestet wurden, an COVID-19 erkrankten oder unter Quarantäne standen? 7. Wie viele Patient*innen wurden seit 2017 bis heute in den Notaufnahmen der Münchner Krankenhäuser bzw. Gesundheitseinrichtungen behandelt? Wie viele dieser Patient*innen wurden dabei als Notfall eingestuft?“
Zu Ihren konkreten Fragen, zu deren Beantwortung je nach Zuständigkeit der Rettungszweckverband München, die München Klinik und das Gesundheitsreferat beigetragen haben, möchte ich Ihnen Folgendes mitteilen:
Frage 1:
Wie oft haben sich Kliniken im Zeitraum 1.1.2020 bis 31.12.2020 und im Zeitraum 1.1.2019 bis 31.12.2019 zeitweise (drei Stunden oder länger) aus der Notfallversorgung abgemeldet?
Antwort des Rettungszweckverbandes München (RZV):
Die Auswertung über die Schließung an den Münchener Kliniken wurde in den Fachgebieten Augenheilkunde, Chirurgie (subsumiert die Fachbereiche Gefäßchirurgie, Handchirurgie, Herzchirurgie, chirurgische Intensivstation, chirurgische Intermediate Care, Kinderchirurgie, Orthopädie, Plastische Chirurgie, Replantationschirurgie, Thoraxchirurgie, Unfallchirurgische Intensivstation nach SAV der Berufsgenossenschaften, Unfallchirurgie und Viszeralchirurgie), Frauenheilkunde und Geburtshilfe (subsumiert die Fachbereiche Geburtshilfe von der 22+0 bis 28+6 Schwangerschaftswoche, Geburtshilfe von der 29+0 bis 31+6 Schwangerschaftswoche, Geburtshilfe von der 32+0 bis 35+6 Schwangerschaftswoche, Geburtshilfe ab der 36+0 Schwangerschaftswoche, Gynäkologie, Neonatologie NIPS), Hals-Nasen-Ohrenkunde, Haut- und Geschlechtskrankheiten, Innere Medizin (subsumiert die Fachbereiche Allgemeine Innere Medizin, Angiologie, Chest Pain Unit, Endokrino-/Diabetologie, Gastroenterologie, Hämato-/ Onkologie, Infektiologie, Intensivstation, Intermediate Care, Kardiologie, Naturheilverfahren, Nephrologie. Pneumologie, Rheumatologie, Toxikologie), Kinderheilkunde (subsumiert die Fachbereiche Kinderchirurgie, Kinderchirurgische Intensivstation IPS, Kinderkardiologie, Kinderkardiologische Intensivstation, Neonatologie NIPS, Pädiatrie, Pädiatrische Intensivstation PIPS), Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, Neurochirurgie (subsumiert die Fachbereiche Allgemeine Neurochirurgie und Intensivstation, Neurologie (subsumiert die Fachbereiche Allgemeine Neurologie, Intensivstation und Stroke Unit), Psychiatrie und Psychotherapie (subsumiert die Fachbereiche Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychiatrie und Psychotherapie) sowie der Urologie erhoben.
Eine spezifizierte Auswertung der Fachbereiche kann nur von jeder Klinik in deren eigenen Zuständigkeit erhoben werden, da hier der Rettungszweckverband keine Datenfreigabe mit den Kliniken abgeschlossen hat. Ebenso beinhaltet die Auswertung nur die Gesamtzahl der Abmeldungen in den Fachgebieten und Fachbereichen. Eine zeitliche Eingrenzung wie z.B. länger als 3 h, kann ebenfalls nur von jeder Klinik selbst ausgewertet werden, da diese eigenverantwortlich die Eintragungen in das System vornehmen. Die Abmeldungsbegründungen sind für den Rettungszweckverband nicht ersichtlich. Auch diese können nur von den Kliniken selbst erhoben werden.
Antwort der München Klinik (MüK):
Die vom Rettungszweckverband dargestellten Abmeldequoten der München Klinik (ca. 31-32%) entsprechen dem Anteil der in den Notaufnahmen der MüK versorgten Fälle (ca. 1/3 Marktanteil).
Frage 2:
Wie oft wurden im Zeitraum vom 1.1.2020 bis 31.12.2020 von der Leitstelle „Zwangszu
weisungen“ durchgeführt? Wie oft wurden diese im Zeitraum 1.1.2019 bis 31.12.2019 durchgeführt? Bitte aufschlüsseln nach München Klinik (jeweiliger Standort), Universitätskliniken und Private Kliniken.
Antwort des RZV:
Bei Akutzuweisungen (Zwangsbelegungen) handelt es sich um Zuweisungen in eine Münchener Klinik durch die Integrierte Leitstelle München, welche zu diesem Zeitpunkt nicht aufnahmebereit, also abgemeldet war:
Antwort der MüK:
Die vom Rettungszweckverband dargestellten Angaben zu den Akutzuweisungen (Zwangsbelegungen) weisen bei der MüK einen deutlich über dem durchschnittlichen Anteil der Notfallversorgung (ca. 1/3) liegenden Teil an Akutzuweisungen aus. Dies ist Beleg dafür, dass der MüK als kommunalem Klinikum mit vier Notfallzentren im Rahmen der Daseinsvorsorge eine herausragende Rolle zukommt und trotz Abmeldungen die Versorgung von Notfallpatient*innen sichergestellt werden konnte.
Frage 3:
Gab es bei der München Klinik zeitgleich oder kurz vor Sperrungen gestellte Gefährdungsanzeigen von Beschäftigten in den jeweiligen Bereichen? Falls ja, bitte auflisten nach Datum, Standorten und Bereichen.
Antwort der MüK:
Gefährdungsanzeigen sind eine interne Angelegenheit, darüber kann keine öffentliche Auskunft erfolgen. Eine Auswertung, an welchem Tag in welchem Bereich eine Gefährungsanzeige gestellt war und ob sie in einem kausalen Zusammenhang eine Bettensperrung verursachte, kann weder inhaltlich geleistet werden, noch stehen hierfür Ressourcen zu Verfügung. Bettensperrungen bzw. Abmeldungen der Notaufnahmen können daher nicht pauschaliert in Relation zu Gefährdungsanzeigen gesetzt werden. Bekanntermaßen muss die Belastung der Belegschaft während der Pandemie als extrem hoch bewertet werden und betrifft fast alle Bereiche des Klinikums. Gefährdungsanzeigen werden von der Geschäftsführung der MüK selbstverständlich sehr ernst genommen. Zum Schutz der Mitarbeiter*innen findet dazu ein ständiger Dialog mit der Arbeitnehmervertretung statt.
Frage 4:
Führten in der München Klinik die Gefährdungsanzeigen zu Abmeldungen aus der Notfallversorgung oder trugen sie zumindest dazu bei?
Antwort der MüK:
Siehe Antwort 3.
Frage 5:
Welche der Sperrungen von Notaufnahmekapazitäten seit dem 01.03.2020 waren durch Personalengpässe (mit)verursacht? Bitte aufschlüsseln nach Krankenhaus, Notaufnahmebereich und Art des Personalmangels (ärztlich, pflegerisch oder anderweitig).
Antwort der MüK:
In 2020 lag die Abmeldequote der konservativen Notfallzentren (Aufnahmestationen) aller Kliniken der MüK durch die Pandemie bedingt um 15,9% niedriger als im Vorjahr 2019. Es ist daher davon auszugehen, dass auch die Abmeldungen der internen/chirurgischen Notaufnahmen insgesamt unter dem Vorjahreswert lagen. Eine differenzierte Erfassung der Abmeldequoten erfolgt aufgrund der unterschiedlichen (Teil-) Abmeldegründe (bspw. Abmeldung Herzkatheter, Abmeldung Schockraum, Abmeldung CT) nicht. Dies wäre für die MüK nur mit unverhältnismäßigemAufwand erstellbar und ist mit Dienstarten bezogenen Personalengpässen nicht verknüpfbar.
Frage 6:
Inwieweit sind die Personalengpässe in den Notaufnahmen bei der München Klinik entstanden, weil Beschäftigte positiv auf Corona getestet wurden, an COVID-19 erkrankten oder unter Quarantäne standen?
Antwort der MüK:
Ausfälle wegen jeglicher Erkrankung werden durch dynamisches Einspringen mehrheitlich gelöst. Die gewünschte Information kann so nicht ausgewertet werden.
Prinzipiell hat die eigene Stabsstelle für Krankenhaushygiene der München Klinik zu Beginn der Pandemie frühzeitig ein umfassendes Hygiene- und Sicherheitskonzept konzipiert, das den maximal möglichen Infektionsschutz von Patient*innen und Mitarbeitenden sicherstellt, Infektionen möglichst verhindert bzw. Infektionsketten möglichst schnell unterbricht. Dazu gehört die durchgehende Verfügbarkeit von Schutzkleidung ebenso wie ein Besuchsverbot, ein umfassendes und engmaschiges Testkonzept und die konsequente Trennung von Patientenströmen. Dazu wurden beispielsweise bauliche Anpassungen in den Notfallzentren vorgenommen und CT-Trailer zur radiologischen Untersuchung und schnelleren Befundung von Covid-19-Verdachtsfällen noch außerhalb der Klinik vor den Notfallzentren fest installiert. Auch die hohe Impfquote zeigt ihre Wirkung: Seitdem die Impfkampagne Ende Dezember in der München Klinik gestartet ist, infizieren sich nur noch sehr wenige Mitarbeiter*innen mit Covid-19, trotz der vorherrschenden britischen und nun auch der Deltavirusvariante.
Frage 7:
Wie viele Patient*innen wurden seit 2017 bis heute in den Notaufnahmen der Münchner Krankenhäuser bzw. Gesundheitseinrichtungen behandelt? Wie viele dieser Patient*innen wurden dabei als Notfall eingestuft?“
Antwort der MüK:
Im Schnitt wurden 160.000 Patient*innen jährlich in den vier Notfallzentren der München Klinik behandelt, das entspricht etwa einem Drittel der Notfälle der Landeshauptstadt München. Etwa 62.000 dieser Patient*innen (Durchschnitt in den Jahren 2017 bis 2019) wurden stationär aufgenommen. Auch hier waren die Fallzahlen durch die Pandemie bedingt in 2020 deutlich rückläufig (-21,3% stationäre Notfälle gegenüber 2019). Von den über IVENA erfassten Fällen (Durchschnitt in den Jahren 2017 bis 2019: ca. 44.100 Fälle) lagen ca. 11% in der Sichtungskategorie 1 (erforderliche So-fortbehandlung) und ca. 89% in der Sichtungskategorie 2 (aufgeschobene Behandlungsdringlichkeit).
In den Notaufnahmen der München Klinik besteht für Notfallpatient*innen kein erhöhtes Risiko einer Sars-CoV-2-Infektion. Alle Notfallpatient*innen werden umgehend auf Verdachtssymptome untersucht – Menschen mit Verdacht auf eine Covid-19-Erkrankung werden von Notfallpatient*innen ohne Covid-19-Verdacht bis zum vorliegenden Testergebnis in getrennten Bereichen separiert. Auch für die weitere klinische Behandlung hat die München Klinik getrennte Behandlungspfade etabliert.
Antwort des Gesundheitsreferats (GSR):
Daten zu Fallzahlen in den Notaufnahmen der Münchner Krankenhäuser für die Zeit der Corona-Pandemie liegen dem Gesundheitsreferat nicht vor. Für die Jahre 2017 bis 2019 liegen vorläufige Auswertungen des stationären und ambulanten Fallaufkommens in Notaufnahmen der Münchner Kliniken vor, die aktuell im Rahmen einer Münchener Notfallstudie erhoben werden.1 Das Institut für Notfallmedizin und Medizinmanagement (INM) am Klinikum der Universität München wurde damit beauftragt, in Abstimmung mit dem Gesundheitsreferat eine „Analy
se der aktuellen und zukünf-
tigen Entwicklungen in der Notfallversorgung in München“ vorzunehmen.
Bei der Datenerschließung kam es zu Verzögerungen durch die Corona-Pandemie. Zum derzeitigen Zeitpunkt sind Klinikdaten zur stationären und ambulanten Versorgung von zehn der zwölf teilnehmenden Kliniken verfügbar, die den Großteil des Notfallaufkommens in München abdecken. Diese Daten werden derzeit noch geprüft und aufbereitet, daher konnten mit ersten Auswertungen bisher nur vorläufige Ergebnisse erzielt werden.
Die Fallzahlen in den Notaufnahmeeinrichtungen von Erwachsenen und Kindern sowie spezieller Notaufnahmeeinrichtungen (z.B. Augenklinik, Urologie, HNO) sind in den Jahren 2017 bis 2019 weitgehend stabil geblieben: 200.081 ambulante und 133.897 stationäre Behandlungsfälle waren im Jahr 2017 zu verzeichnen, im Jahr 2018 202.408 ambulante und 134.564 stationäre Behandlungsfälle und im Jahr 2019 199.770 ambulante und 132.876 stationäre Behandlungsfälle.
In der differenzierten Auswertung des Notfallaufkommens in der Münchener Notfallstudie werden die Notfallversorgung umfassend geprüft sowie mögliche Lücken und Fehlentwicklungen identifiziert werden.