Vollständiges Organisationsversagen im Gesundheitsreferat?
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Rathaus Umschau 222 / 2021, veröffentlicht am 18.11.2021
Vollständiges Organisationsversagen im Gesundheitsreferat?
Anfrage Stadträte Manuel Pretzl und Professor Dr. Hans Theiss (CSU-Fraktion) vom 12.11.2021
Antwort Gesundheitsreferentin Beatrix Zurek:
Ihrer Anfrage liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:
„Seit vielen Tagen steigen die Inzidenzwerte in Deutschland auf die höchsten Stände der gesamten Corona-Pandemie. Besonders hart getroffen von dieser Tatsache ist auch Bayern, interessanterweise nicht aber München. Die Landeshauptstadt hingegen scheint inmitten lila eingefärbter Landkreise auf der Insel der Glücksseeligen. Mit Stand 10.11.2021 wurde eine 7-Tage-Inzidenz von 103,2 gemeldet. Doch der Schein trügt, wie auch der Oberbürgermeister in einer Mitteilung wissen lässt. Er bezeichnet die Kon- taktnachverfolgung als eines der wichtigsten Instrumente in der Pandemie, um Infektionsketten zu durchbrechen und die Verbreitung des Virus einzudämmen. Immer mehr Menschen haben positive Testergebnisse, die durch die Behörden statistisch erfasst werden müssen. In München gelingt das jedoch offensichtlich nicht mehr und das womöglich bereits seit Langem. Es gibt Hinweise darauf, dass das Gesundheitsreferat angebotene Hilfe nicht bzw. erst zu spät angenommen hat, was einem unglaublichen Orga- nisationsversagen gleichkommt.“
Herr Oberbürgermeister Reiter hat mir Ihre Anfrage zur Beantwortung zugeleitet.
Erlauben Sie mir vor der Beantwortung der einzelnen Fragen eine Einordnung der aktuellen Situation:
Die Corona-Pandemie hat im Herbst 2021 erneut deutlich an Fahrt aufgenommen, das Infektionsgeschehen ist derzeit hochdynamisch.Täglich steigt die ohnehin hohe Zahl an positiven Labormeldungen weiter an, aktuell ist das Wachstum exponentiell.
In dieser hochdynamischen Lage steht insbesondere die Kontaktnachverfolgung vor großen Herausforderungen. Der Arbeitsanfall ist vielerorts in Bayern kaum mehr zu bewältigen.
Das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege wies in seiner Pressemeldung vom 13.11.2021 deshalb nochmals darauf hin, dass sich jede Person, bei der ein PCR-Test oder ein von geschultem Personal durchgeführter Antigentest positiv ausfalle, unverzüglich nach Erhalt des Ergebnisses in Isolation begeben müsse. Das gelte auch für geimpfte Personen.Die Mitarbeiter*innen des Gesundheitsreferats sind in dieser Pandemie seit fast zwei Jahren einer Dauerbelastung ausgesetzt, die nie vorher dagewesen ist und bisher auch in keinem Teil der Stadtverwaltung vorstellbar war. Allein in diesem Jahr 2021 sind im GSR bis dato ca. 41.000 Überstunden angefallen. Andere Referate unterstützen durch Personal im Rahmen des PEIMAN-Einsatzes, insbesondere bei der Kontaktnachverfolgung, da der Dienstbetrieb dennoch weiterläuft, dürften sich auch dort Überstunden in erheblichem Maß angehäuft haben.
Vor diesem Hintergrund wurde die öffentliche Diskussion der vergangenen Tage von den Mitarbeiter*innen des GSR und insbesondere im Contact Tracing als nicht wertschätzend empfunden.
Zu den einzelnen Punkten Ihrer Anfrage teile ich Ihnen Folgendes mit:
Frage 1:
Wurde eine freie und für die Landeshauptstadt München jederzeit abrufbare Personalreserve des Freistaats Bayern i.H.v. 97 Personen zur Bewältigung der Kontaktnachverfolgung inkl. Pflege der Statistiken tatsächlich nicht abgerufen?
Antwort:
Eine Liste mit abrufbarem Personal vom Freistaat zur Unterstützung der CTT-Teams ist dem Personal- und Organisationsreferat (POR) der Landeshauptstadt München in der Tat übermittelt worden. Diese umfasste 93 Unterstützungskräfte von den verschiedenen Ressorts.
Alle Personen wurden telefonisch kontaktiert. Von diesen Personen waren bis zum 8.11.2021 lediglich 3 Dienstkräfte bereit, an den Schulungsterminen zum Pandemie-Management am 16.11.2021 und 23.11.2021 teilzu-
nehmen, die wie bei vorherigen Schulungen für je 20 bis 25 Dienstkräfte ausgelegt sind. Die meisten hatten die Abordnung aus dienstlichen oder persönlichen Gründen abgelehnt. Dies wurde vom GSR auch an den Freistaat zurückgemeldet.
Die Landeshauptstadt München erfuhr dann erst wieder am 10.11.2021, dass aus dem aktualisierten Pool nun doch insgesamt 34 Dienstkräfte abgerufen werden können. Diese wurden umgehend für die genannten Schulungstermine eingeteilt.Das Personal- und Organisationsreferat steht laufend im Kontakt mit dem Freistaat, um verfügbare Kräfte für die Landeshauptstadt München in Einsatz zu bringen.
Aufgrund des aktuellen Infektionsgeschehens würde das Gesundheitsreferat es begrüßen, wenn der Freistaat einer Verlängerung des Einsatzes von Freistaatspersonal an Gesundheitsämtern über den 31.12.2021 hinaus zustimmen würde.
Frage 2:
Wenn ja, mit welcher Begründung wurde auf die Inanspruchnahme der Personalreserve des Freistaats Bayern verzichtet?
Antwort:
Siehe Antwort zu Frage 1.
Frage 3:
Hat das Gesundheitsreferat die drohende vierte Welle in dieser Massivität unterschätzt?
Antwort:
Nein.
Frage 4:
Wie gedenkt das Gesundheitsreferat, den Stau in der Kontaktnachverfolgung zu lösen?
Antwort:
Das Gesundheitsreferat wird insbesondere von den anderen Referaten der Stadt zur Bewältigung des Meldeaufkommens mit Personal im Rahmen von PEIMAN-Einsätzen unterstützt, zusätzlich auch phasenweise von außerstädtischen Stellen, insbesondere seit 8.11.2021 wieder täglich durch 50 Personen der Bundeswehr sowie nach den o.g. Schulungen auch wieder durch Personal des Freistaats. Die Unterstützung von Bundeswehrkräften stand aufgrund der in den Sommermonaten niedrigen Inzidenzen einige Zeit nicht zur Verfügung, ebenso die Unterstützungskräfte des Freistaats. Auch die städtischen Personalreserven, welche ebenfalls aufgrund der deutlich gebesserten Infektionslage zwischenzeitlich reduziert worden waren, wurden bereits kontinuierlich aufgestockt und werden ständig weiter ausgebaut. Selbstverständlich werden für den Personalaufbau fortlaufend entsprechende Schulungen durchgeführt.Im GSR wurde mit Wirkung ab sofort für Beamt*innen Mehrarbeit und für Tarifbeschäftigte Überstunden angeordnet genehmigt. Dies betrifft alle Beamt*innen und Tarifbeschäftigte des GSR sowie PEIMAN-Kräfte aus anderen Referaten, die unmittelbar oder mittelbar zur Bewältigung der Corona-Pandemie im CTT eingesetzt sind und bereits ein Gleitzeitguthaben von mindestens 1600 ZWE aufgebaut haben. Die Anordnung gilt bis auf Weiteres.
Darüber hinaus wurde in Abstimmung mit der Stadtspitze und dem Personal- und Organisationsreferenten unter den Referaten ein Aufruf gestartet, Fach- und Führungspersonal zur kurzfristigen Unterstützung des CTT zur Verfügung zu stellen. Diesem Appell sind erfreulicherweise in kurzer Zeit sehr viele Beschäftigte gefolgt. Die Resonanz auf diesen Aufruf zeigt deutlich, dass die Pandemiebekämpfung nach wie vor als stadtweite Aufgabe wahrgenommen wird. Das Gesundheitsreferat bedankt sich für die Unterstützung.
Das Gesundheitsreferat wird zudem, wie im Gesundheitsausschuss am 11.11.2021 bereits erwähnt, eine Beschlussvorlage in die Vollversammlung am 25.11.2021 einbringen, in der die Unterstützung durch externes Personal vorgeschlagen wird.
In dieser hochdynamischen Lage mit exponentiellem Wachstum ist eine Reaktion, die ausschließlich mit Personalaufbau arbeitet und bestehende Prozesse im aktuellen Rahmen fortlaufend auf weiteres Optimierungspotenzial prüft, bei Weitem nicht ausreichend: Das derzeitige Meldeaufkommen ist mit Blick auf die Kontaktnachverfolgung weder mit dem städtischen Personal noch mit den hinzugezogenen Kräften zu bewältigen. Durch Regelungen beispielsweise zur Freitestung sowie zur Quarantäne mit Augenmaß in Schulen und Kindertageseinrichtungen stellt sich die Kontaktverfolgung aktuell wesentlich arbeitsintensiver dar als in den vergangenen Akutphasen der Pandemie. Hinzu kommt, dass in der Bevölkerung deutlich mehr Kontakte bestehen als in den vorhergehenden Infektionswellen der Corona-Pandemie, sodass die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung der sehr ansteckenden Delta-Variante höher ist, was das aktuelle exponentielle Wachstum der Infektionszahlen auch widerspiegelt.
Angesichts des aktuellen Infektionsgeschehens müssten alle zur Verfügung stehenden Ressourcen dringend für die zur Pandemiebearbeitung und Ableitung von Maßnahmen für die prioritären Bereiche wie die Meldung von positiv getesteten Personen (Indexpersonen, IP) sowie für den Schutz besonders vulnerabler Bevölkerungsgruppen und die Organisationdes Impfens eingesetzt werden. Viele Bundesländer tragen diesem Umstand bereits Rechnung und haben die Kontaktverfolgung umfassend neu ausgerichtet. Auch in Bayern fanden Umorientierungen in dem genannten Sinne statt. Es wäre wünschenswert, wenn diese nach dem Vorbild anderer Bundesländer noch weiter ausgestaltet würden. Die Landeshauptstadt München steht in regelmäßigem Austausch mit dem Freistaat, um Vorschläge aus der Praxis einzubringen.
Dieser herausfordernden Situation kann nur mit einem vielschichtigen Maßnahmenpaket, sowohl hinsichtlich der rechtlichen Rahmenbedingungen als auch in Bezug auf die Umsetzung vor Ort und damit der Ausstattung mit Personal und der stetigen Evaluation und Anpassung der notwendigen Prozesse, begegnet werden. Alle Mitarbeiter*innen im Bereich des GSR tun dabei ihr Möglichstes.
Frage 5:
Wie werden die Rückstände erfasst bzw. tauchen diese überhaupt in der 7-Tage-Inzidenz auf?
Antwort:
Alle eingegangenen Positivmeldungen werden erfasst.
Frage 6:
Ist es richtig, dass Positivmeldungen rückwirkend entweder gar nicht mehr eingetragen werden oder mit dem Datum, an dem sie vom Labor übermit- telt wurden, so dass sie statistisch zwar erfasst, nicht aber in die Berechnung der 7-Tage-Inzidenz einfließen?
Antwort:
Alle eingegangenen Meldungen werden erfasst.
Die Übermittlung der nach §§ 9, 10 IfSG erhaltenen verarbeiteten Daten vom meldepflichtigen Gesundheitsamt an das LGL und von dort weiter an das RKI ist in § 11 Infektionsschutzgesetz (IfSG) geregelt. Die dem Gesundheitsamt übermittelten Meldedaten sind von diesem zunächst zu vervollständigen und dann an das LGL zu übermitteln (§ 11 Abs. 1 Satz 1 IfSG). Teil der an das LGL zu übermittelnden Informationen ist u.a. das „Datum der Meldung“ (§ 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 IfSG). Allerdings hat der Gesetzgeber davon abgesehen, diesen Begriff in den Definitionenkatalog des § 2 IfSG aufzunehmen und legal zu definieren. Es handelt sich deshalb um einen juristisch so genannten unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Bedeutungsgehalt durch Auslegung zu ermitteln ist. Bislang hatsich weder die Kommentarliteratur noch die Rechtsprechung mit dieser Frage beschäftigt. Dem tradierten Verständnis entsprechend wurde bislang das Datum des Eingangs des positiven Befundes beim Gesundheitsamt als Datum der Meldung angesehen und entsprechend an das LGL weitergemeldet. Kam es im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie zu einer zeitlichen Verzögerung zwischen dem Eingang des positiven Befundes beim Gesundheitsamt und der Weiterleitung vom Gesundheitsamt an das LGL, enthielt die Weitermeldung an das LGL deshalb ein in der Vergangenheit liegendes „Datum der Meldung“ (nämlich das Datum des Eingangs beim Gesundheitsamt) – daher der Begriff der „Nachmeldung“.
In einer Telefonkonferenz der Ländergesundheitsbehörden mit dem Robert Koch-Institut (RKI) im Rahmen der Epidemiologischen Lagekonferenz wurde im Oktober die Frage, was unter dem „Datum der Meldung“ zu verstehen ist, thematisiert. Demnach wurde das o.g. tradierte Verständnis dahingehend präzisiert, dass dieses das Datum sein kann, an dem das Gesundheitsamt Kenntnis über den Fall erlangt und ihn elektronisch erfasst hat.
In der nun im GSR initiierten praktischen Umsetzung der dargestellten Auffassung des RKI bedeutet dies, dass nunmehr bei der elektronischen Erfassung einer beim Gesundheitsamt eingegangenen Meldung (so genannte Fallanlage) von der Software automatisch beim „Datum der Meldung“ das aktuelle Datum belassen wird. Daher können auch ältere Meldefälle in den aktuellen Daten erfasst werden.
Frage 7:
Wie hoch ist die reale 7-Tage-Inzidenz in München?
Antwort:
Zum Zeitpunkt dieser Anfrage lag die Inzidenz bei über 300. Derzeit sind die Infektionszahlen in ganz Bayern einem exponentiellen Wachstum unterworfen, entsprechend steigen die 7-Tage-Inzidenzen. In den vergangenen Tagen stiegen die Inzidenzen bayernweit täglich im Durchschnitt um etwa 8,5 Prozent. Die am 18.11. vom, RKI veröffentlichte Inzidenz in Höhe von 694,8 dürfte die Infektionslage in München realistisch darstellen.