Chaos bei der Ausländerbehörde im KVR
Anfrage Stadtrats-Mitglieder Professor Dr. Jörg Hoffmann, Gabriele Neff, Richard Progl und Fritz Roth (FDP BAYERNPARTEI Stadtratsfraktion) vom 11.2.2021
Antwort Kreisverwaltungsreferent Dr. Thomas Böhle:
In Ihrer Anfrage vom 11.2.2021 führen Sie Folgendes aus:
„Der Artikel ‚Eines der langsamsten Ämter Deutschlands‘ aus der Süddeutschen Zeitung vom 11.2.2021 berichtet über katastrophale Zustände bei der Ausländerbehörde im KVR. Schreiben würden demnach über Monate hinweg ignoriert, Anfragen per Telefon nicht beantwortet und Schlangen verzweifelter Menschen sind bereits in den frühen Morgenstunden vor der Ruppertstraße 19 zu beobachten. Diese Schlangen bilden sich laut Artikel schon bei Nacht und Menschen warten – trotz Coronakrise – lange, bis sie überhaupt eine Information der Behörde bekommen. Dass München, die Weltstadt mit Herz, hier ihren Markenkern aufgrund von gnadenlosem Bürokratieversagen zu verlieren droht, ist nicht hinnehmbar.“
Zu Ihrer Anfrage vom 11. Februar 2021 nimmt das Kreisverwaltungsreferat im Auftrag des Herrn Oberbürgermeisters im Einzelnen wie folgt Stellung:
Frage1:
Wie viele Mitarbeiter fehlen der Behörde und welche Bestrebungen werden seitens des KVR verfolgt, um die Arbeit in der Ausländerbehörde attraktiver zu machen?
Antwort:
Ich gehe davon aus, dass sich Ihre Anfrage auf die Unterabteilungen der Ausländerbehörde UA 32 und UA 35 (u.A. zuständig für internationale Fachkräfte und Studenten) bezieht.
Stand 25.2.2021 waren bei KVR II/32 7,05 Vollzeitäquivalente (VZÄ) und bei KVR II/35 13,09 VZÄ mit der Funktionsbezeichnung „Sachbearbeiter Ausländerangelegenheiten“ in der 2. Qualifizierungsebene (2. QE) unbesetzt. Ein Teil der freien Stellen wird voraussichtlich ab Mai mit Prüfungsabgänger*innen besetzt werden können.
Eine in Abstimmung mit dem Personal- und Organisationsreferat durchgeführte Bemessung ergab in der 2. QE einen weiteren Stellenmehrbedarf für KVR II/32 von 16,75 VZÄ und für KVR II/35 von 5,71 VZÄ. Dieser wurdewegen der haushalterischen Lage nicht im Eckdatenbeschluss für den Haushalt 2021 eingebracht.
Die Ausländerbehörde gesamt verfügt aktuell über rund 445 VZÄ bzw. 388 Beschäftigte (in VZÄ), auf die Unterabteilung 32 entfallen hiervon circa 140 VZÄ und auf die Unterabteilung 35 etwa 76 VZÄ.
Stellenzuschaltungen seit 2005 erfolgten in 15 Beschlüssen insbesondere wegen neuer Aufgaben (z.B. Einführung des elektronischen Aufenthaltstitels, FEG), vom Stadtrat erwünschter Schwerpunktsetzungen (Service-Center für internationale Fach- und Führungskräfte), erhöhtem Kundenaufkommen (z.B. gestiegene Zahl an Asylbewerber*innen, Familiennachzug) und vom Stadtrat erwünschter Verfahrensbeschleunigungen (z.B. im Bereich der Einbürgerung). Siehe im Einzelnen Beschlussliste in der Anlage „Übersicht Personalbeschlüsse ABH“.
Die Arbeit in der Ausländerbehörde ist eine der anspruchsvollsten Tätigkeiten für städtische Mitarbeiter*innen der zweiten Qualifikationsebene. Seit 2020 erhalten die Mitarbeiter*innen in bestimmten Parteiverkehrsbereichen, so auch die Sachbearbeiter*innen der Ausländerbehörde, zudem eine Arbeitsmarktzulage. Die wichtigste Maßnahme zur Steigerung der „Attraktivität“ der Dienststelle wäre eine baldmöglichste Besetzung der freien Stellen.
Weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitssituation in der Ausländerbehörde sind bei der Beantwortung zu Frage 9 dargestellt.
Frage 2:
Wie viele Anrufe bei der Ausländerbehörde können nicht beantwortet werden? Wie lange warten Anrufer durchschnittlich pro Anruf in der Warteschleife?
Antwort:
Die Zahl der nicht „beantworteten“ Anrufe hängt stark vom durchschnittlichen Anrufaufkommen ab. So sahen sich die Mitarbeiter*innen des Servicetelefons der Ausländerbehörde infolge des Lockdowns (Stellenausstattung: 6,7 VZÄ) im Mai 2020 112.355 und im Juni 2020 78.377 Anrufen gegenüber, die mit dem vorhandenen Personal nur zu einem Bruchteil angenommen werden konnten. Die Zahl der Anrufe hat sich zwischenzeitlich auf einem hohen Niveau eingependelt. Pro Monat gehen derzeit durchschnittlich 30.000 Anrufe bei der Ausländerbehörde ein. Über eine Menüauswahl können die Kund*innen zu häufig vorkommenden Fragestellungen standardisierte Bandansagen ansteuern und erhalten auf diese Weise die notwendigen Informationen. Ein Großteil der Anrufendenwünscht jedoch Informationen zu einem individuellen Anliegen und wählt die Option, eine Mitarbeiter*in des Servicetelefons zu sprechen. Bei den von den Servicetelefonmitarbeiter*innen angenommenen Anrufen betrug die durchschnittliche Wartezeit im Februar 2021 rund 3,5 Minuten. Anrufer*innen, deren Anrufe nicht angenommen werden können, werden per Bandansage gebeten, aufgrund des hohen Anrufaufkommens zu einem
späteren Zeitpunkt noch einmal anzurufen.
Frage 3:
Wie viele Fiktionsbescheinigungen sind ausgestellt worden und wie viele davon wurden in Visa umgewandelt? Wie viel Zeit ist dazwischen vergangen?
Antwort:
Im Jahr 2020 wurden durch die Ausländerbehörde 55.056 Fiktionsbescheinigungen ausgereicht. Mit diesen wird die Fortgeltung des legalen Aufenthaltsstatus bis zur endgültigen Entscheidung der Ausländerbehörde über den Antrag dokumentiert. Jede Fiktionsbescheinigung mündet grundsätzlich in die Erteilung eines Aufenthaltstitels oder in die Versagung des gleichen (Ablehnungsbescheid).
Im Jahr 2020 wurden 52.413 Aufenthaltstitel erteilt. Das Delta zu den erteilten Fiktionsbescheinigungen erklärt sich aus den Ablehnungsbescheiden, von den Ausländer*innen nicht weiter betriebenen Verfahren bzw. Antragsrücknahmen, Verfahren, die erst im Jahr 2021 abgeschlossen werden konnten und den Fällen, in denen ein Verfahren während der Gültigkeitsdauer einer Fiktionsbescheinigung nicht abgeschlossen werden konnte. In letztgenannten Fällen wurde – sofern erforderlich – eine Folge-Fiktionsbescheinigung erteilt.
„Visa“ werden nicht von der Ausländerbehörde, sondern von den deutschen Auslandsvertretungen (Auswärtiges Amt) erteilt.
Welcher Zeitraum zwischen Antragstellung, Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung und rechtskräftiger Entscheidung vergeht, kann pauschal nicht angegeben werden, da dies je nach Einzelfall stark differiert und insbesondere auch von der Mitwirkung der Antragssteller*innen und der Reaktionszeit zu beteiligender Behörden abhängt.
Frage 4:
Wie häufig haben Dokumente von Antragstellern zwischen Stellen des Antrags und der Bearbeitung an Gültigkeit verloren?
Antwort:
Die Frage kann mangels entsprechender Aufzeichnungen bei der Ausländerbehörde nicht beantwortet werden. Die Ausländerbehörde wirkt durch systematisches Anschreiben aller gemeldeten Ausländer*innen, deren Titel in den nächsten Monaten abläuft, auf eine rechtzeitige Antragstellung hin. Ohne eine entsprechende Aufforderung durch die Ausländerbehörde beantragen die Kund*innen die Verlängerung ihres Aufenthaltstitels leider oftmals erst kurz vor Ablauf ihres bisherigen Aufenthaltstitels bzw. kurz vor Ende ihres legalen Aufenthalts in Deutschland. In diesen Fällen kommt es dann nahezu immer zu einem Ablauf des alten Titels, bevor der neue Titel ausgereicht werden kann. In diesem Fall wird jedoch die erwähnte Fiktionsbescheinigung ausgegeben.
Frage 5:
Wie viele Wissenschaftler und Fachkräfte hat die Stadt München aufgrund der Zustände bei der Ausländerbehörde verloren?
Antwort:
Der Ausländerbehörde liegen keine Erkenntnisse vor, ob und ggf. in wie vielen Fällen eine zu lange Verfahrensdauer zum Verlust einer Fachkraft oder einer Wissenschaftler*in geführt hat. Es sei angemerkt, dass für die Erteilung eines Ersttitels zur Einreise (Visum) das Auswärtige Amt zuständig ist. Mit dem Visum kann in der Regel die Beschäftigung aufgenommen werden. Die Ausländerbehörde ist erst für die Verlängerung des Aufenthaltstitels zuständig. Während der Bearbeitung des Verlängerungsantrags kann die Fachkraft bzw. die Wissenschaftler*in mit einer Fiktionsbescheinigung problemlos weiter arbeiten. Entscheidend ist, dass sich die Kund*innen nach Einreise mit dem Antrag auf Verlängerung rechtzeitig bzw. bei einem geplanten Arbeitgeberwechsel schnellstmöglich an die Ausländerbehörde wenden.
Frage 6:
Wie lange beträgt die durchschnittliche Wartezeit pro Person vor der Tür des KVR?
Antwort:
Die durchschnittliche Wartezeit einer Person vor der Tür des Kreisverwaltungsreferates hängt maßgeblich davon ab, wann sich diese anstellt und kann daher nicht pauschal genannt werden.
Terminkund*innen werden 10-20 Minuten vor ihrem Termin ins Haus gelassen und haben vor dem Haus keine Wartezeit.„Notfallkund*innen“ ohne Termin werden derzeit aus Infektionsschutzgründen nur jeweils in 10er Gruppen in das Gebäude gelassen. Notfälle sind klar definiert, die Definition ist unter nachstehendem Link einsehbar: https://www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwaltung/Kreisverwaltungsreferat/Auslaenderwesen/Aktuelles.html
Frage 7:
Warum funktioniert das „Controlling zur systematischen Erfassung und Auswertung der geleisteten Arbeit“ nicht ausreichend um entsprechende Zahlen bekanntzugeben und entsprechende Planungssicherheit bei Betroffenen zu schaffen?
Antwort:
Die Fragestellung bezüglich der „Planungssicherheit bei den Betroffenen“ ist unklar.
Das Controlling der Ausländerbehörde erfasst die zur Steuerung der Behörde notwendigen mit angemessenem Aufwand ermittelbaren Zahlen (z.B. durch Datenbankauswertungen).
Doch auch eine Auswertung aller zur Verfügung stehenden Daten kann nur eine Annäherung an das zu erwartende Kundenaufkommen darstellen. Die Nachfrage nach Dienstleistungen der Ausländerbehörde ist zu einem Großteil geprägt durch nicht beeinflussbare gesellschaftliche, wirtschaftliche und gesetzgeberische Entwicklungen. Die Ausländerbehörde ist bemüht, jeden Antrag zeitnah zu bescheiden. Die Menge der monatlich zu bearbeitbaren Fälle ist durch die personellen und logistischen Kapazitäten begrenzt.
Frage 8:
Müssen Fachkräfte erst den Oberbürgermeister kontaktieren und Petitionen in den Landtag einbringen, bevor sie damit rechnen können, dass ihre Anträge bearbeitet werden?
Antwort:
Nein. Der Ausländerbehörde ist es immer ein Anliegen, mit den vorhandenen personellen Kapazitäten alle eingehenden Anträge so zeitnah wie möglich zu bearbeiten.
Frage 9:
Was hat der Kreisverwaltungsreferent bisher getan, um diese Missstände zu beheben?
Antwort:
Sämtliche Prozesse wurden im Rahmen des Praktikablen und organisatorisch Möglichen laufend auf Effizienz- und Effektivitätsgewinne hin geprüft. So wurden allein im Jahr 2020 mehr als 50 Einzelmaßnahmen festgestellt und zum allergrößten Teil auch umgesetzt. Zum Beispiel wurden 12 Online-Kontaktformulare für verschiedene Dienstleistungen geschaffen, so zum Beispiel um die Genehmigung für einen Arbeitgeberwechsel, eine Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken, die Blaue Karte EU oder eine Niederlassungserlaubnis zu beantragen:
Selbstredend erhöht sich die Produktivität, wenn sich eine Vorsprache erübrigt. Ebenso wurden die Terminzeiten pro Kund*in reduziert, ein neues Einarbeitungskonzept erarbeitet, die Abwicklung von Notfallvorsprachen komplett überarbeitet, neue Regelungen für den Einsatz von Notfalletiketten geschaffen, die Email-Sachbearbeitung reorganisiert, sowie bestimmte Dienstleistungen zentralisiert.Zur Verbesserung der Erreichbarkeit hat die Ausländerbehörde ihr Servicetelefon mit bis zu 10 Anwärter*innen aufgestockt, die jedoch nicht immer komplett – insbesondere während Kursphasen – anwesend sein können, und mittels eines technischen Ansage- und Auswahlsystems deutlich modernisiert. Bei hohem Anrufaufkommen können weitere Arbeitsplätze, welche technisch entsprechend aufgerüstet wurden, zugeschaltet werden. Allerdings fehlen diese Dienstkräfte dann in der Sachbearbeitung.
Den Sachbereich „Studenten, Internationale Fachkräfte und Werkverträge /Krankenbehandlungen“ habe ich aus einer sehr großen für allgemeine Aufenthalte zuständigen Unterabteilung ausgegliedert, um Entscheidungs- und Kommunikationswege sowie Reaktionszeiten zu verkürzen.
Seit Mitte März können die Mitarbeiter*innen des Servicetelefons nach kurzer Prüfung des Falles für Kund*innen, die dringend eine Dienstleistung der Ausländerbehörde benötigen, direkt einen Termin beim Notfallschalter buchen. Diese müssen sich dann nicht mehr am Notfallservicepoint anstellen. Durch die Terminvergabe für den Notfallschalter wird das Kundenaufkommen auch besser über den Tag verteilt – damit werden die Warteschlangen, die sich unnötigerweise vor Öffnung der Dienststelle vor dem Gebäude bilden, vermindert.
Primär während des Lockdowns zwischen März und Mai 2020 aufgelaufene Termine und Bearbeitungsrückstände werden kontinuierlich abgebaut. Dies ging und geht nur mit Hilfe des Einsatzes von Kolleg*innen aller Bereiche der Ausländerbehörde und der Leistung von Mehrarbeit. Viele Mitarbeiter*innen sind zur Bearbeitung von Arbeitspaketen auch am Samstag in die Dienststelle gekommen.
Frage 10:
Was gedenkt der Oberbürgermeister zu tun, um für Fachkräfte akzeptable Bedingungen zu schaffen?
Antwort:
Der Oberbürgermeister hat den Kreisverwaltungsreferenten in seinem Schreiben vom 16.2.2021 um Mitteilung gebeten, welche Maßnahmen er derzeit ergreife, um die Situation zu verbessern und mit welchen Maßnahmen er – unter Berücksichtigung der aktuellen haushalterischen Lage – künftig eine Verbesserung der Situation vor Ort erreichen wolle. Insoweit darf ich auf meine Antwort zu Frage 9 verweisen.
Frage 11:
Wie verantwortet der Oberbürgermeister die menschenunwürdige Behandlung der Münchnerinnen und Münchner, die für vorgeschriebene Dokumente stundenlang nachts in der Kälte Schlange stehen müssen?
Antwort:
Niemand ist „gezwungen stundenlang nachts in der Kälte Schlange“ zu stehen. Das war auch in 2020 nie der Fall. Nur 30% der Kund*innen, die täglich am Notfallschalter vorsprechen, sind auch Kund*innen mit einem dringenden, eilbedürftigen Anliegen. Grundsätzlich wird jeder Kunde, der einen Notfall vorträgt, am selben Tag bedient, ohne dass er sich hierfür „nachts anstellen müsste“.
Um Kenntnisnahme von den vorstehenden Ausführungen wird gebeten. Ich gehe davon aus, dass die Angelegenheit damit abgeschlossen ist.
Die Anlage zur Antwort kann abgerufen werden unter:
https://www.ris-muenchen.de/RII/RII/ris_antrag_dokumente.jsp?risid=6470962