Neue Ergebnisse einer Forschungsstudie der Hochschule München zeigen auf, welche Bedingungen und Voraussetzungen an eine Wohnungslosenunterbringung geknüpft sein müssen, um chronisch psychisch kranken Frauen dauerhaft eine Wohnperspektive zu ermöglichen. Die Studie wurde von der Arbeitsgemeinschaft Wohnungsnotfallhilfe München und Oberbayern in Auftrag gegeben.
Von links nach rechts: Jörn Scheuermann, Professorin Dr. Ursula Unterkofler, Bürgermeisterin Verena Dietl. Foto: LHM.
Bürgermeisterin Verena Dietl: „Mit dem Forschungsbericht haben wir eine wissenschaftliche Bestätigung dafür, dass eine dauerhafte Wohnunterbringung für chronisch psychisch erkrankte Frauen nur dann gelingt, wenn vor Ort alle nötigen Hilfsangebote für die vielfältigen Problemlagen dieser Frauen aus einer Hand vorgehalten werden. Mit den Lebensplätzen hat die Stadt München bereits eine Einrichtung geschaffen, die wohnungslosen Frauen mit seelischen Behinderungen eine gut betreute Heimat bietet. Jetzt gilt es, die durch die Studie aufgedeckten Versorgungslücken noch zu schließen und darauf hinzuwirken, dass alle Kostenträger*innen von Kommune, Bezirk und Freistaat Bayern gemeinsam Lösungen finden, um unbürokratische, barrierefreie Zugänge zu den nötigen Hilfsangeboten zu ermöglichen.“
Die Ergebnisse der Studie belegen, dass die Privatsphäre für psychisch erkrankte Frauen von wesentlicher Bedeutung ist, um ein Wohnangebot anzunehmen. Die Unterbringung in einem Einzelzimmer anstelle eines Mehrbettzimmers hat daher einen hohen Stellenwert, um Ruhe und Sicherheit zu erfahren. Oftmals haben die Frauen in gemischtgeschlechtlichen Häusern immer wieder Übergriffe oder gewalttätiges Verhalten von untergebrachten Männern erlebt, die dazu geführt haben, dass sie nur noch frauenspezifische Einrichtungen aufsuchen oder lieber im Freien verweilen. Ebenso hat die Studie gezeigt, dass bürokratische Hürden nicht selten der Grund dafür sind, keine Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen, obwohl die Frauen einen gesetzlichen Anspruch hätten. Allein die Vorgabe, einen schriftlichen Antrag einzureichen, hält sie davon ab, eine Nutzung des Angebots in Erwägung zu ziehen. Für die Frauen stellt der Umgang mit Ämtern und Behörden zudem eine sehr große Herausforderung dar. Häufig fühlen sie sich mit dem vorhandenen System überfordert. Sie erleben es daher als äußerst entlastend, wenn entsprechende Fachkräfte vor Ort sind, die sie bei diesen Angelegenheiten unterstützen.
Auch ist chronisch psychisch erkrankten Frauen aufgrund vielfach erlebter Diskriminierung ihre Anonymität sehr wichtig. So ist es oft bereits ein Problem, wenn die Einrichtung nach außen hin als Wohnungsloseneinrichtung erkennbar ist. Sie befürchten zum Beispiel beim Betreten der Einrichtung als obdach- bzw. wohnungsloser Mensch identifiziert und dadurch bewertet bzw. stigmatisiert zu werden. Eine nach außen unscheinbare Unterkunft, die keinen oder einen neutralen Namen trägt, ist an dieser Stelle für eine Nutzung sehr entscheidend.
Ein weiteres Ergebnis der Studie besagt, dass Wertschätzung und Respekt für diese Frauen von zentraler Bedeutung sind. Dazu gehört insbesondere das Gefühl, selbstbestimmt wohnen zu können und selbst zu entscheiden, Angebote zu nutzen. Chronisch psychisch erkrankte Frauen benötigen ausreichend Zeit, um Vertrauen und eine Beziehung zu den Fachkräften aufbauen zu können, die sie in ihren bürokratischen Angelegenheiten sowie in sozialen und medizinischen Belangen unterstützen können. Die Studie ist federführend von Professorin Dr. Unterkofler, Leiterin der Abteilung Empirische Sozialforschung und Evaluation an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Hochschule München, im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts mit Studierenden durchführt worden. Die Frauen sind dabei mit offenen Leitfadeninterviews befragt worden (insgesamt 16 In- terviews). Die Interviews haben in niedrigschwelligen Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe oder auf der Straße im Kontext des Streetwork stattgefunden. Dabei konnten die befragten Frauen das Setting des Interviews selbst mitbestimmen.
Professorin Dr. Unterkofler: „Die Studie hat vor allem gezeigt, dass bei der Unterbringung chronisch psychisch erkrankter Frauen eine multiprofessionelle Zusammenarbeit in der Einrichtung notwendig ist. Die Frauen sind aufgrund ihrer persönlichen Situation nicht in der Lage, sich jedes Angebot des fragmentierten Hilfesystems eigenständig zunutze zu machen. Sei es das Obdach in der Wohnungslosenhilfe selbst, die Versorgung in psychiatrischen Einrichtungen oder die medizinische Versorgung beim Hausarzt bzw. in der Pflege – hier ist ein ganzheitliches Angebot aller sozialer Hilfeleistungen unausweichlich.“
Über die Zusammenarbeit der Stadt München mit der Arbeitsgemeinschaft der Wohnungsnotfallhilfe München und Oberbayern hat sich eine funktionierende und sich ergänzende Gremienstruktur etabliert, die eine wichtige Austauschfunktion einnimmt und als Schnittstelle zwischen Stadtrat, Verwaltung und freier Wohlfahrtspflege fungiert.
Jörn Scheuermann, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der Wohnungsnotfallhilfe München und Oberbayern: „Zu Beginn der Pandemie ist sehr deutlich geworden, dass wir mit den chronisch psychisch erkrankten Frauen im Wohnungsnotfallhilfesystem immer deutlicher eine Zielgruppe in den Blick bekommen, die wir mit unseren bisher etablierten gemeinsamen Angeboten noch nicht optimal erreichen können. Die Fachkräfte betonen in der Studie, dass es wichtig wäre, die Kostenanteile der Hilfen nicht kleinteilig ausweisen zu müssen, sondern die Hilfe ganzheitlich zu behandeln. Nur dadurch könnte ein unbürokratischer Zugang für die Frauen gesichert werden, der nur eine Unterschrift nötig macht und dennoch ein Vorhalten der genannten Angebote bei selbstbestimmter Nutzung durch die Frauen realisieren könnte. Wir müssen als Gesellschaft dahin kommen, dass Barrierefreiheit bei der Realisierung von Rechtsansprüchen für psychisch erkrankte Menschen ebenso selbstverständlich wird, wie wir bei öffentlichen Gebäuden einen Fahrstuhl für Menschen mitdenken, die z.B. in ihrer Mobilität eingeschränkt sind.“
Der Forschungsbericht ist abzurufen auf den Webseiten der Wohnungshilfe Bayern unter www.wohnungslosenhilfe-bayern.de.