Psychologische Betreuung der Münchner Kriegsgeneration
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Rathaus Umschau 113 / 2022, veröffentlicht am 15.06.2022
Psychologische Betreuung der Münchner Kriegsgeneration
Antrag Stadtrats-Mitglieder Alexandra Gaßmann, Dr. Evelyne Menges und Rudolf Schabl (Fraktion CSU mit Freie Wähler) vom 8.3.2022
Antwort Gesundheitsreferentin Beatrix Zurek:
Sie beantragen, dass „der Münchner Kriegsgeneration psychologische Hilfe zur Verarbeitung ihrer eigenen, jetzt wieder aufkommenden, traumatischen Kriegserlebnisse durch das Sozialreferat angeboten wird. Der für alle nicht erwartete Krieg in der Ukraine, mit dem Einmarsch der russischen Armee, bringt bei vielen älteren Menschen, die den Zweiten Weltkrieg selbst noch als Kind erlebt haben, traumatische, furchtbare Erinnerungen hoch, die sie selbst schon seit langem als verarbeitet geglaubt haben. Diesen älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern ist ein gezieltes psychologisches Angebot zu machen.“
Ihr Einverständnis vorausgesetzt erlaube ich mir, Ihren Antrag als Brief zu beantworten und teile Ihnen auf dem Wege Folgendes mit:
Die Landeshauptstadt München verfügt über ein gut ausgebautes Netz mit spezifischen Angeboten sowohl für akut Traumatisierte als auch durch Traumata in der Vergangenheit belastete Menschen. Ein Tätigwerden des Oberbürgermeisters im Rahmen einer dringlichen Anordnung ist aus Sicht des Gesundheitsreferats (GSR) daher nicht angezeigt.
Im Folgenden werden die vorhandenen Angebote aufgezeigt.
Angebote für traumabelastete Menschen in München:
Das Trauma Hilfe Zentrum München e.V. (THZM) leistet mit seinen niederschwelligen Beratungs- und Stabilisierungsangeboten einen wesentlichen Beitrag zur Versorgung traumabelasteter Menschen in München. Bereits vor Ausbruch des Kriegs in der Ukraine hatte diese Einrichtung die Gruppe der älteren Menschen mit traumatisierenden Kindheitserfahrungen mit ihren spezifischen Bedürfnissen im Blick und ist in Fachkreisen als Ansprechpartnerin für diese Zielgruppe bekannt. Der Verein plant bereits eine Veranstaltung für Senior*innen, die der Münchner Kriegsgeneration angehören und sich durch die derzeitigen Geschehnisse akut belastet fühlen. Das THZM ist langjähriger Kooperationspartner des GSR und wird durch das GSR bezuschusst.
Ein weiter gefasstes Angebot, das in München für Senior*innen in Krisensituationen und belastenden Lebenslagen häufig die erste Anlaufstelle dar-stellt, ist die TelefonSeelsorge der Erzdiözese München und Freising sowie des Evangelischen Beratungszentrums München e.V. (ebz). Sie ist an sieben Tagen jeweils rund um die Uhr erreichbar. Das Angebot ist kostenfrei und auf Wunsch anonym und richtet sich an alle Menschen unabhängig von ihrer Glaubensgemeinschaft. Die Beratung erfolgt durch intensiv ausgebildete und geschulte Ehrenamtliche, die bei Bedarf an geeignete Einrichtungen, z.B. mit dem Schwerpunkt Trauma, weitervermitteln können.
Eine weitere wichtige Anlaufstelle der Erzdiözese München und Freising stellt die Münchner Insel dar. Diese zentral am Marienplatz gelegene Einrichtung versteht sich als psychologische und psychosoziale Fachstelle, die Menschen in akuten Konfliktsituationen und bei drängenden Lebensfragen Krisen-, Lebensberatung und Information anbietet und sie bei Bedarf an geeignete weiterführende Angebote vermittelt.
Kostenlose Hilfe bei Krisen aller Art bietet rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr auch der Krisendienst Psychiatrie Oberbayern. Fachkräfte verschiedener Berufsgruppen beraten und unterstützen bei psychischen Krisen und psychiatrischen Notfällen, so auch im Fall von akuten Belastungsreaktionen oder Traumafolgestörungen. Die Mitarbeitenden der Leitstelle beraten telefonisch, vermitteln zeitnah an weitere Dienste und bei Bedarf steht den Betroffenen auch ein mobiles Einsatzteam vor Ort zur Seite.
Der Verein „DIE ARCHE – Suizidprävention und Hilfe in Lebenskrisen e.V.“ bietet Menschen ebenfalls Hilfe und Unterstützung in Krisen. Hauptaufgabe der ARCHE ist die ambulante Suizidprävention und Krisenintervention. Die Einrichtung versteht sich jedoch auch als Ansprechpartnerin im Falle der Betroffenheit von seelischen Traumata. Die telefonischen oder persönlichen Beratungsgespräche sind kostenlos und auf Wunsch anonym.
Nicht zuletzt gibt es in München vier Gerontopsychiatrische Dienste (GpDi), die als Beratungseinrichtungen für ältere Menschen ab ca. 60 Jahren und ihre Angehörigen genutzt werden können. Psychiater*innen, Psycholog*innen und Sozialpädagog*innen beraten und unterstützen hier bei psychischen Erkrankungen oder seelischen Problemen.
Hausbesuche sind nach Vereinbarung möglich. Es besteht eine enge Zusammenarbeit mit Hausärzt*innen und Pflegediensten, (teil-)stationären Einrichtungen, den Alten- und Service-Zentren (ASZ) und der Bezirkssozialarbeit.
Sollte Beratung nicht ausreichend sein und eine behandlungsbedürftige Angst- oder Belastungsstörung bestehen, bieten mehrere psychiatrischeKliniken ein traumaspezifisches Angebot. Hierzu gehört beispielsweise die Psychotherapeutische Hochschulambulanz & Traumaambulanz des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Deren Angebot richtet sich an alle Betroffenen, die unter starken psychischen Belastungen leiden und deshalb in ihrer Lebensqualität stark eingeschränkt sind. Die Einrichtung hat sich u.a. auf die Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und weiterer Traumafolgestörungen spezialisiert.
Auch die Ambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie im Max-Planck-Institut ist für die Beratung, Diagnostik und Therapie von Patient*innen mit unterschiedlichen psychischen Problemen, zu denen auch Belastungskrisen zählen, zuständig. Die Ambulanz hält neben anderen Angeboten eine tägliche offene telefonische Sprechstunde für alle Münchner Bürger*innen vo r.
Ebenso bietet die Psychosomatische Ambulanz im Klinikum rechts der Isar Behandlung u.a. auch mit einem Schwerpunkt auf dem Gebiet der Traumafolgestörungen an.
Angebote der kommunalen Altenhilfe für Senior*innen in München:
Das Sozialreferat stellt im Rahmen seiner freiwilligen und gesetzlichen Leistungen umfangreiche psychosoziale Beratungsangebote zur Verfügung. Diese Leistungen, auch und im Besonderen für die Kriegsgenerationen, werden zum einen durch eigene Dienste zur Verfügung gestellt, wie z.B. die Bezirkssozialarbeit 60plus oder das städtische ASZ. Zum anderen gibt es umfangreiche und vielfältige Angebote der Trägerlandschaft. Dazu zählen die Angebote der ASZ der Wohlfahrtsverbände, Beratungsstellen für ältere Menschen und Angehörige, der Beratungsstelle für ältere Menschen und ihre Angehörigen der israelitischen Kultusgemeinde und anderer spezifischer Beratungsstellen sowie aufsuchende Angebote wie SAVE oder Präventive Hausbesuche und Betreuungsangebote in Seniorenwohnanlagen. In der Beschlussvorlage „Soziale Angebote und Maßnahmen gegen Einsamkeit in München“ (Nr. 20-26/V 04372) werden sie differenziert dargestellt und beschrieben.
Das Hauptaugenmerk aller genannten Angebote liegt dabei in der Information über Hilfsangebote und/oder der Weitervermittlung an die geeignete Stelle. Eine gezielte psychologische Betreuung für retraumatisierte ältere Menschen sowohl der deutschen Kriegsgeneration als auch der älteren Münchner*innen, die z.B. nach dem Bosnienkrieg nach Deutschland gekommen sind, liegt nicht in der Kompetenz und dem Angebotsspektrumdieser Dienste. Die weitergehenden Angebote zur psychologischen Unterstützung werden durch die sozialpsychiatrischen und gerontopsychiatrischen Dienste sowie weitere Beratungsdienste übernommen. Im Bedarfsfall werden diese Angebote von den ASZ und der Bezirkssozialarbeit vermittelt oder es erfolgt eine Kooperation im Einzelfall.
Aktueller Bedarf der Münchner Senior*innen mit Kriegs- und Flucht-
erfahrung
Sorgen und Ängste der älteren Menschen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine werden laut Angaben des Sozialreferats in den Einzelkontakten in den ASZ, den Beratungsstellen und den Kontakten der Bezirkssozialarbeit durchaus von den Betroffenen thematisiert und im Rahmen der oben beschriebenen Möglichkeiten bearbeitet. Konkrete Aussagen zum Bedarf oder belastbares Datenmaterial konnten seitens des Sozialreferats allerdings nicht zur Verfügung gestellt werden. Um einen eventuellen Bedarf an „psychologischer Hilfe“ der Münchner Senior*innen mit Kriegs- und Fluchterfahrung zu eruieren, erfolgte durch das GSR eine Abfrage bei Institutionen, die für ältere Menschen mit psychischen Belastungen zur Verfügung stehen, inwiefern vermehrte oder ver-änderte Anfragen aus dieser Personengruppe zu verzeichnen sind.
Hierzu berichtete der Krisendienst Psychiatrie Oberbayern, dass vor allem zu Beginn des Krieges in der Ukraine vereinzelt telefonischer Beratungsbedarf zu diesem Thema festgestellt wurde.
Von Seiten der Telefonseelsorge wurde rückgemeldet, dass es seit Beginn des Kriegs in der Ukraine eine Zunahme von Anrufen der „Münchner Kriegsgeneration“ gibt. Häufig handelt es sich um Senior*innen mit Fluchterfahrung, z.B. aus Schlesien. Auch transgenerationale Faktoren spielen eine Rolle: So rufen auch Klient*innen an, die Kriegserlebnisse von ihren Eltern oder Großeltern übermittelt bekamen.
Insgesamt hat die Zahl der Anrufe im weiteren Verlauf des Kriegs wieder stark abgenommen und ist weiterhin rückläufig. Die Anrufer*innen möchten sich durch das Gespräch entlasten und gehört werden. Diesem Bedürfnis kann durch das Angebot der Telefonseelsorge sehr gut Rechnung getragen werden. Es ergab sich bisher kein Bedarf an Weitervermittlung, weder in ein traumatherapeutisches Stabilisierungs- oder Behandlungsangebot noch in eine Selbsthilfegruppe.
In den vier Münchner Gerontopsychiatrischen Diensten konnte bisher kein Zuwachs an Klient*innen beobachtet werden. Krieg und Kriegserinnerungen seien bei bestehendem Klientel jedoch vermehrt Thema, worauf sichdie Dienste gut vorbereitet fühlten. Es wird derzeit kein Bedarf an zusätzlichen Konzepten oder personellen Kapazitäten gesehen; präventive bzw. psychoedukative Arbeit zum Thema Trauma sei bereits Bestandteil des regulären Angebots.
An das TraumaHilfeZentrum (THZM) wurden bisher ebenfalls keine Anfragen von Senior*innen aus der Kriegsgeneration herangetragen. Es handelt sich bei dieser Personengruppe nach Einschätzung der Fachkräfte in der Regel nicht um Erkrankte mit einem traumatherapeutischen Behandlungsbedarf, eher um ein Bedürfnis dieser Menschen, wahrgenommen und gehört zu werden. Im Falle des Auftretens von Symptomen einer Traumafolgestörung sieht sich das THZM mit seinen stabilisierenden Angeboten und bei Bedarf der Möglichkeit einer Weiterentwicklung in ein traumatherapeutisches Angebot zuständig und aufnahmebereit.
Das Selbsthilfezentrum München gibt an, mit seinen zahlreichen Initiativen für Senior*innen thematisch breit aufgestellt und unverändert stark nachgefragt zu sein. Das Zentrum erhält keine Anfragen, die durch den Krieg in der Ukraine ausgelöst wären und eigene Kriegserlebnisse thematisieren. Initiativen wie „Kriegsenkel e.V.“ oder „Kinder von gestern e.V. – Jugendzentrum für Senioren“ böten älteren Münchner Bürger*innen die Möglichkeit zum Austausch im Hinblick auf eigene Kriegserlebnisse und seien Angebote, an die potentiell Anfragende vermittelt werden könnten. Die Initiative Retla e.V. hat zudem mit dem in der Öffentlichkeit stark beworbenen Projekt „Telefon-Engel“ während der Corona-Krise ein Angebot ins Leben gerufen, bei dem freiwillige Helfer*innen mit Senior*innen „Gespräche gegen Einsamkeit“ führen und diesen bei Interesse Patenschaften anbieten. Dieses Angebot kann auch für Gespräche über Kriegserfahrungen genutzt werden.
Die Koordination für Psychiatrie und Suchthilfe im Gesundheitsreferat unterstützt die Bekanntmachung der genannten Angebote in den relevanten städtischen Referaten und in den Medien sowie die Vernetzung der Institutionen untereinander. Dies gewährleistet, dass Hilfesuchende bei Bedarf auch das passende Angebot finden.
Um Kenntnisnahme der vorstehenden Ausführungen wird gebeten. Ich gehe davon aus, dass die Angelegenheit damit abgeschlossen ist.