Den Zwangsarbeiterinnen in der Weißenseestraße 7 - 15 gedenken
Antrag Stadtrats-Mitglieder Marie Burneleit, Stefan Jagel, Thomas Lechner und Brigitte Wolf (DIE LINKE. / Die PARTEI Stadtratsfraktion) vom 26.8.2021
Antwort Kulturreferent Anton Biebl:
Zunächst bitte ich die verspätete Beantwortung zu Ihrem o.g. Antrag zu entschuldigen, da zur Beantwortung umfangreiche interne Abstimmungen zu beachten waren.
Nach § 60 Abs. 9 GeschO dürfen sich Anträge ehrenamtlicher Stadtratsmitglieder nur auf Gegenstände beziehen, für deren Erledigung der Stadtrat zuständig ist. Sie beantragen, dass die Verwaltung beauftragt wird, an alle Zwangsarbeiterinnen, die zwischen 1944 und 1945 in der Weißenseestraße 7-15 in einem Außenlager des KZ Dachau untergebracht waren und in den Agfa-Kamerawerken zur Arbeit gezwungen wurden, in Form einer Gedächtnis-Stele/-Tafel am heutigen Wohnhaus und den ehemaligen Baracken zu erinnern. Der Inhalt Ihres Antrages betrifft damit eine laufende Angelegenheit, deren Besorgung nach Art. 37 Abs. 1 GO und § 22 GeschO dem Oberbürgermeister obliegt. Eine beschlussmäßige Behandlung im Stadtrat ist daher rechtlich nicht möglich.
Der Stadtrat hat am 6.11.2002 mit Grundsatzbeschluss über den Umgang mit Wünschen nach Gedenktafeln und Denkmälern entschieden. Da die Anträge nach neuen Gedenktafeln und Denkmälern überhand genommen hatten, wurde diese Form des Gedenkens allein als nicht mehr sinnvoll erachtet. Als Ersatz für Gedenk- und Informationstafeln rief die Stadt die sogenannten Kulturgeschichtspfade ins Leben.
Jenseits der Kulturgeschichtspfade hat der Stadtrat 2002 entschieden, dass alle Anträge für Gedenktafeln und Denkmäler in der AG Gedenktafel, die sich aus Fachleuten aller einschlägigen Referate und je einer Vertretung der Stadtratsfraktionen zusammensetzt, behandelt werden.
Auf dem Gelände des ehemaligen Zwangsarbeiter*innenlagers in Neuaubing entsteht derzeit eine Dependance des NS-Dokumentationszentrums, die sich dezidiert mit dem Thema NS-Zwangsarbeit im ganzen Stadtgebiet beschäftigt. In diesem Zusammenhang wird auch ein Konzept des adäquaten dezentralen Erinnerns für alle ehemaligen Standorte der NS-Zwangsarbeit auf dem Stadtgebiet entwickelt. Deshalb hat die AG Gedenktafel entschieden, Anträge zur Errichtung von Gedenktafeln für einzelneZwangsarbeiter*innen-Unterkünfte in München nicht mehr zu behandeln, sondern sie an das NS-Dokumentationszentrum weiterzuleiten.
Zu Ihrem Antrag vom 26.8.2021 teile ich Ihnen Folgendes mit:
Es gab in der Vergangenheit, oft mit Unterstützung des Kulturreferats, bereits einige Maßnahmen, um der wichtigen Geschichte dieses Ortes sowie der dort inhaftierten Frauen zu gedenken. Dazu zählte etwa die temporäre Kunstinstallation „Kamera“ des Künstlers Alexander Steig im Jahr 2017 sowie die dazugehörige Publikation, die u.a. den erstmals im Deutschen veröffentlichten Erinnerungsbericht der ehemaligen Insassin Kiky Heinsius enthielt (2019). Im Jahr 2016 benannte die Stadt zudem den in unmittelbarer Nähe befindlichen Platz nach der ehemaligen Insassin des KZ-Außenlagers Ella Lingens.
Die Erinnerung an die heute noch sichtbaren, aber auch unsichtbaren Orte der NS-Zwangsarbeit – neben dem ehemaligen KZ-Außenlager an der Weißenseestraße existierten mindestens 400 weitere Massenunterkünfte – und insbesondere an die insgesamt etwa 150.000 KZ-Häft linge, Kriegs-
gefangene und (zivile) Zwangsarbeiter*innen, die im gesamten Stadtgebiet München während des Zweiten Weltkriegs ausgebeutet wurden, ist ein zentraler Teil der Konzeption für die sich im Entstehen befindende Dependance des NS-Dokumentationszentrums. Die Eröffnung der Dependance ist für das Jahr 2025 geplant. Die Geschichte des ehemaligen KZ-Außenlagers in der Weißenseestraße und seiner Insassinnen wird dabei auch entsprechend thematisiert werden.
Ausstellung und Vermittlungsangebote werden sich zudem inhaltlich und methodisch auf dem neuesten Stand der Forschung und Museumspädagogik befinden. Auch aktuelle gesellschaftliche Diskurse und Entwicklungen werden integriert. Dabei werden auch geschlechtsspezifische Aspekte der Verfolgung von Zwangsarbeiter*innen eine wichtige Rolle spielen. Der Großteil der in München zur Zwangsarbeit eingesetzten Menschen war weiblich. Um diese historische Dimension zu betonen, spricht das NS-Dokumentationszentrum seit einiger Zeit stets explizit von dem „Erinnerungsort Zwangsarbeiter*innenlager Neuaubing“.
Bereits vor der Eröffnung der Dependance in Neuaubing bietet das NS-Dokumentationszentrum viel zum Thema NS-Zwangsarbeit an:
-Das Thema Zwangsarbeit wird in der Dauerausstellung im Haupthaus am Max-Mannheimer-Platz behandelt.-2018 wurde die Publikation „Zwangsarbeit in München. Das Lager der Reichsbahn in Neuaubing“ veröffentlicht, eine umfangreiche Neuerscheinung, die sich mit Geschichte der NS-Zwangsarbeit im Allgemeinen sowie mit dem Reichsbahnlager in Neuaubing im Besonderen
beschäftigt. Ein wichtiger Teil waren dabei auch 25 neu recherchierte Biographien.
-Im Januar 2022 wurde das digitale Ausstellungsprojekt „Departure Neuaubing. Europäische Geschichten der Zwangsarbeit“ gelauncht. Unter den verschiedenen künstlerischen Beiträgen, die auf der Web-App versammelt sind, macht sich insbesondere das partizipative Projekt „Memory in Practice“ der Künstlerin Hadas Tapouchi auf die Spuren der mehr als 400 bekannten früheren Lagerunterkünfte (https://departure-neuaubing.nsdoku.de/projekte/memory-practice). Sie hat insgesamt 40 ehemalige Orte der Zwangsarbeit porträtiert, darunter auch den Standort an der Weißenseestraße. Ergänzt werden die künstlerischen Annäherungen mit historischen Informationen. Für die weiteren auf einer Stadtkarte verzeichneten Orte sind die User*innen aufgefordert, eigene Fotos upzuloaden.
-Im Februar 2022 wurde zudem das von der Münchner Comic-Künstlerin Barbara Yelin illustrierte Tagebuch des niederländischen Zwangsarbeiters Jan Bazuin veröffentlicht (C.H.Beck). Die Publikation, die auch parallel bei der Landeszentrale für politische Bildung erschienen ist, wurde deutschlandweit breit rezipiert.
-Auf der Grundlage des Tagebuchs hat das NS-Dokumentationszentrum gemeinsam mit dem renommierten Serious-Game Studio Paintbucket
zudem die Visual Novel „Forced Abroad. Tage eines Zwangsarbeiters“ entwickelt und diese ebenfalls im Januar 2022 veröffentlicht. Es handelt sich dabei um das erste Game zu diesem historischen Thema überhaupt.
Ich bitte Sie, von den vorstehenden Ausführungen Kenntnis zu nehmen, und hoffe, dass Ihr Antrag zufriedenstellend beantwortet ist und als erledigt gelten darf.