Die Versorgung von pflegebedürftigen Menschen ist eines der drängendsten sozialen Themen in den kommenden Jahrzehnten. Die Bundesregierung hat sich dem Thema in ihrem Koalitionsvertrag entsprechend gewidmet. Oberbürgermeister Dieter Reiter hat sich nun mit einem Schreiben an Gesundheitsminister Karl Lauterbach gewandt und grundlegende Reformen skizziert, die aus Sicht der Landeshauptstadt dringend notwendig sind:
Oberbürgermeister Dieter Reiter: „Die Versorgung pflegebedürftiger Menschen in Deutschland ist eine gesamtgesellschaftliche Zukunftsaufgabe. Die Gestaltungsmöglichkeiten für die Kommunen sind in diesem Feld allerdings erheblich eingeschränkt, vor allem wegen der bewussten Ökonomisierung, respektive der Schaffung eines Pflegemarktes und eines entsprechenden Wettbewerbs, der die öffentliche Hand zu Neutralität verpflichtet und somit eine gezielte Steuerung erschwert. Markt und Wettbewerb alleine genügen aber nicht, um wirklich gute Pflege vor Ort zur Verfügung zu stellen. Ein marktorientierter Wettbewerb in der Versorgungsstruktur für eine sehr vulnerable Gruppe sollte daher grundsätzlich auf den Prüfstand.“ Als größte kreisfreie Stadt in Deutschland hat sich die Landeshauptstadt München bewusst dazu entschlossen, die wenigen Spielräume aktiv und so weit wie möglich zu nutzen.
Sozialreferentin Dorothee Schiwy: „Ich würde mir wünschen, dass die neue Bundesregierung hier noch bestehende Hemmnisse weiter abbaut und den Kommunen verbindliche Mitgestaltungsmöglichkeiten gibt. Au-ßerdem brauchen wir möglichst schnell eine echte und deutliche Begren- zung der Eigenanteile in der vollstationären Langzeitpflege. In München liegen die Eigenanteile für eine pflegebedürftige Person schon heute bei durchschnittlich 2.800 Euro monatlich. Das führt dazu, dass in München inzwischen fast 40 Prozent der Bewohner*innen von vollstationären Pflegeeinrichtungen auf Sozialhilfe angewiesen sind. Das zentrale Versprechen der Sozialen Pflegeversicherung bei ihrer Einführung war es, die Menschen künftig unabhängig von staatlicher Hilfe zu machen. Dieses Ziel wird inzwischen klar verfehlt. Das muss sich dringend ändern.“
Mittel- bis langfristig sollte aus Sicht der Landeshauptstadt München ein Wechsel zu einer Pflegevollversicherung mit gedeckelter Eigenbeteiligung und einem – über staatliche Strukturen organisierten und steuerfinanzierten – Pflegesystem das Ziel sein. Die im Koalitionsvertrag bislang vorgesehene Ergänzung der Pflegeversicherung um eine freiwillige, paritätisch finanzierte Vollversicherung, ist aus Sicht der Landeshauptstadt München nicht der richtige Weg, da dies finanziell schlechter gestellte Menschen, die sich eine solche Zusatzversicherung nicht leisten können, erheblich benachteiligen würde.
Notwendig ist darüber hinaus die Schließung der Lohnlücke zwischen der Akut - und der Langzeitpflege, um zu verhindern, dass Personal aus der Langzeitpflege in die Kliniken abwandert. Schon vor der Pandemie gab es in der Langzeitpflege deutliche Defizite in der Betreuung und Versorgung hochbetagter, meist schwer kranker Menschen. Durch die Pandemie hat sich diese Situation nochmal verschärft. Auch der häuslichen Pflege sollte grundsätzlich eine erhöhte Aufmerksamkeit zukommen. Eine gesicherte ambulante Versorgung Pflegebedürftiger – ergänzt durch Tages -, Nacht- und Kurzzeitpflege – ist unverzichtbar. Nicht nur in Ballungsräumen, sondern auch im ländlichen Bereich gewinnt die Versorgung in Modellen der Nachbarschaftspflege an Bedeutung, da rein professionelle Versorgung auch aufgrund des Fachkräftemangels an ihre Grenzen gelangen wird. Dies sollte stärker initiiert, wissenschaftlich erprobt und entsprechend finanziert werden.