Wurde der Zielwert „15% Kanalisations-Abkopplungsrate“ erreicht?
Anfrage Stadtrats-Mitglieder Sonja Haider, Dirk Höpner, Nicola Holtmann und Tobias Ruff (Fraktion ÖDP/München-Liste) vom 7.12.2021
Antwort Baureferentin Rosemarie Hingerl:
Mit Schreiben vom 7.12.2021 haben Sie gemäß § 68 GeschO folgende Anfrage an Herrn Oberbürgermeister gestellt, die von der Münchner Stadtentwässerung (MSE) in Abstimmung mit dem Referat für Stadtplanung und Bauordnung und dem Referat für Klima- und Umweltschutz (RKU) beantwortet wird.
Zuerst bedanken wir uns für die gewährte Fristverlängerung.
In Ihrer Anfrage führen Sie Folgendes aus:
„Im April 2000 wurde ein Gesamtentwässerungsplan für München erstellt. Planungshorizont war das Jahr 2020. Im 20-Jahres-Ziel wurde für das Kanalisationsnetz im Misch- und modifizierten Mischsystem eine Abkopplungsrate der öffentlichen und privaten befestigten Flächen von 15% festgelegt. Entwicklungsflächen sollen zudem gesondert behandelt werden, in Neubaugebieten eine möglichst vollständige Versickerung realisiert werden. Mittlerweile haben sich die zugrundeliegenden Berechnungsdaten weiter verschärft. Die Einwohnerzahl Münchens ist nicht nur um die prognostizierten 140.000 Menschen gestiegen, sondern um 278.000, d. h. wir haben einen doppelt so hohen Zuwachs zu verbuchen wie geplant. Ebenso nehmen Stark- und Dauerregenereignisse aufgrund des Klimawandels zu.“
Um Ihre Fragen beantworten zu können, möchten wir eingangs erläutern, welche Ziele ein Gesamtentwässerungsplan (kurz GEP) verfolgt und wie dieser aufgestellt wird. Ein GEP erbringt den Nachweis einer geordneten, den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden Abwasserableitung und stellt für den kommunalen Stadtentwässerungsbetrieb die Grundlage für das vorgeschriebene Wasserrechtsverfahren bzw. die darin verankerten Umweltauflagen im Hinblick auf die Entlastungen in den Vorfluter dar. Kernstück des GEP sind dabei umfangreiche Berechnungen und komplexe Simulationen für einen Ist- und einen Prognosezustand auf Basis von teilweise auf Annahmen basierenden technischen Berechnungsparametern. So wurde die tatsächlich an den Kanal angeschlossene, abflusswirksame Fläche im abwassertechnischen Sinn zum Zeitpunkt der Erstellung des GEP E III 98 mit den damaligen technischen Möglichkeiten über verschiedene Ansätze und statistische Abflussbeiwerte empirisch ermittelt. Je nach Art und Beschaffenheit der Oberflächenversiegelung fließen beigleicher Flächengröße unterschiedliche Mengen Niederschlagswasser ab. Deshalb kann dieser Wert nicht aus einer realen Kartierung abgelesen werden und entspricht nicht dem üblichen Versiegelungsgrad, welcher sich rein auf die befestigte Fläche stützt.
Über die gesetzlichen Anforderungen hinaus hat sich die MSE für den Prognosezustand ein ehrgeiziges Umweltschutzziel gesetzt. Nicht nur aus Sicht des Gewässerschutzes ist die Wahrung eines möglichst naturnahen Wasserhaushaltes im städtischen Umfeld essenziell.
Um dieses Ziel zu erreichen, setzt sich die MSE seit vielen Jahren für die Abkopplung unverschmutzten Niederschlagswassers vom städtischen Kanal ein. Im Zuge der Erstellung des GEP haben wir als eigene Vorgabe ein mögliches Abkopplungspotential von 15% ermittelt.
Die MSE verfolgt dieses Ziel über verschiedene Maßnahmen:
-In der Münchner Entwässerungssatzung ist seit 1997 festgelegt, dass eine Einleitung von Niederschlagswasser in die kommunale Entwässerungseinrichtung nur dann zulässig ist, wenn keine ordnungsgemäße Versickerung oder anderweitige Beseitigung möglich ist.
-Bereits seit mehr als 30 Jahren wendet die MSE die sog. gesplittete Abwassergebühr an. Dabei wird das Schmutz- und Niederschlagswasser getrennt erhoben. Die Gebühr für das Niederschlagswasser bemisst sich anhand der an den Kanal angeschlossenen Fläche. Es ergibt sich somit eine finanzielle Anreizwirkung für Entsiegelungsmaßnahmen auch auf den privaten Grundstücken.
-Dazu stellen wir ausführliche Informationen (Printmedien und Internetauftritt) im Sinne einer Aufklärung der Bevölkerung und der Steigerung des Risikobewusstseins zur Verfügung.
-Auf die zunehmende Nachverdichtung reagieren wir zudem mit einer intensiveren und möglichst frühzeitigen Beratung und Sensibilisierung von Bauherrn, Planern und Bauausführenden im Baugenehmigungsprozess. -
Des Weiteren wird in den Stellungnahmen der MSE im Rahmen der
Bauleitplanung regelmäßig darauf hingewiesen, dass ausreichende und geeignete Flächen zur ortsnahen Behandlung des Niederschlagswassers auszuweisen sind.
-Darüber hinaus berät die MSE bei Straßenneu- bzw. -umbaumaßnahmen dahingehend, dass an erster Stelle immer die Möglichkeit einer Versickerung des anfallenden Niederschlagswassers geprüft wird.
Frage 1:
Wurde das Ziel 15% der befestigten Fläche von 2000 bis 2020 von der Kanalisation zu entkoppeln erreicht?
Frage 2:
Wie hoch ist die Entkopplungsrate aufgeteilt nach öffentlicher und privater Fläche?
Antwort:
Es ist festzustellen, dass sämtliche wasserrechtlichen Bescheidsauflagen im Zusammenhang mit dem GEP von der MSE eingehalten werden.
Des Weiteren sehen wir einen Rückgang der Einnahmen aus der Niederschlagswassergebühr von 2000 bis 2020 in Höhe von gut 12%. Das sehr ambitionierte Abkopplungsziel der MSE wurde also trotz des starken Wachstums und der intensiven Bautätigkeit in München fast erreicht und die Tendenz geht eindeutig in die richtige Richtung. Insgesamt wurden bereits 4.930.000 m² privat und öffentlich genutzte Grundstücke sowie 406.600 m² Straßenverkehrsflächen vom Kanal abgetrennt.
Frage 3:
Wie hoch ist die Entkopplungsrate je Stadtbezirk? Falls es diese Aufteilung nicht geben sollte, bitten wir um eine Aufteilung nach Innen- bzw. Außenbezirken und westlich bzw. östlich der Isar.
Antwort:
Eine gebietsbezogene Darstellung der Abkopplung liegt uns aufgrund der beschriebenen Rahmenbedingungen nicht vor.
Frage 4:
Wieviel Prozent der gesamten befestigten Stadtfläche sind derzeit von der Kanalisation entkoppelt? Auch hier wäre eine Aufteilung nach Stadtgebieten bzw. -regionen vorteilhaft.
Antwort:
Im Rahmen der Gesamtentwässerungsplanung wird die abflusswirksame Fläche, wie bereits beschrieben, durch verschiedene Näherungsmethoden ermittelt.
Frage 5:
Konnte der Beschluss umgesetzt werden, dass in Neubaugebieten vollständig versickert werden soll? Wenn nein, wo nicht und aus welchen Gründen?
Antwort:
Das Referat für Stadtplanung und Bauordnung teilt hierzu mit:„Die Versickerung von Niederschlagswasser ist grundsätzlich in der Entwässerungssatzung der LH München geregelt. Hier ist die Vorgabe enthalten, dass Niederschlagswasser grundsätzlich nicht in das städtische Kanalnetz einzuleiten, sondern ortsnah zu bewirtschaften, d. h. zu nutzen, zu verdunsten oder zu versickern ist. Die Entwässerungssatzung gilt stadtweit und auch für Neubaugebiete.
In Bebauungsplänen können ergänzend zu den Regelungen der Entwässerungssatzung Festsetzungen erfolgen, dies aber nur, sofern diese Anforderung städtebaulich oder naturschutzfachlich im Einzelfall begründet ist und ein bodenrechtlicher Bezug besteht (Beispiel: Festsetzung von größeren Versickerungsflächen, -gräben nach § 9 Abs. 1 Nr. 14 BauGB). Eine solche Festsetzung kommt daher im Regelfall nur in Betracht, wenn ausreichende (öffentliche) Freiflächen zur Verfügung stehen.
Grundsätzlich ist die Entwässerungssatzung ein geeignetes kommunales Rechtsinstrument, um eine Versickerung des Niederschlagswassers ortsnah stadtweit und für Neubaugebiete durchzusetzen, wobei der Vollzug der Entwässerungssatzung der MSE obliegt. Dieses Instrument stößt jedoch an seine Grenzen, wenn ein Bauvorhaben bereits genehmigt wurde und eine Bewirtschaftung des Niederschlagswassers aufgrund vollflächiger oder sehr umfangreicher Bebauung faktisch nicht mehr möglich ist. Die Verweigerung der Einleitung in die städtische Kanalisation auf Grund einer kommunalen Satzung würde im Widerspruch zur bereits nach Bundes- und Landesrecht erteilten Baugenehmigung stehen. Sowohl das Referat für Stadtplanung und Bauordnung als auch die Münchner Stadtentwässerung sind sich dieser Problematik bewusst und arbeiten in engem Austausch an einer Lösung, um künftig die Vorgaben der Entwässerungssatzung konsequenter umsetzen zu können.
Darüber hinaus wird derzeit die Möglichkeit von zusätzlichen Festsetzungen in Bebauungsplänen zum Niederschlagsmanagement in München vor dem Hintergrund der steigenden Bedeutung der Klimaanpassung neu diskutiert. Im Sinne des Schwammstadt-Prinzips soll Niederschlagswasser nicht nur schnellstmöglich im Untergrund versickern, sondern v. a. auch verdunsten oder gespeichert werden, um in Hitze- und Trockenperioden zur Kühlung oder Bewässerung verwendet werden zu können. Vegetation kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Das Referat für Stadtplanung und Bauordnung wurde beauftragt, das Thema dezentrales Regenwassermanagement im Sinne des Schwammstadt-Prinzips frühzeitig und verstärkt in Planungsprozessen zu berücksichtigen (siehe Sitzungsvorlagen-Nr. 20-26/V 02590).Im Rahmen der Fortschreibung der Klimaanpassungskonzeption der Landeshauptstadt München (Federführung RKU) werden derzeit Maßnahmen entwickelt, die darauf abzielen, die Umsetzung des Schwammstadt-Prinzips in der Planung zu stärken, ggf. auch über das Instrument Festsetzung im Bebauungsplan.
Ergänzend ist auszuführen, dass das Referat für Stadtplanung und Bauordnung im Sinne des Klimaschutzes und der Klimaanpassung bei der Aufstellung von Bebauungsplänen eine möglichst geringe Neuversiegelung anstrebt und vorrangig ehemals baulich genutzte Flächen wieder einer neuen baulichen Nutzung zuführt (‚Innenentwicklung vor Außenentwicklung‘). Flächensparende, kompakte Bebauungen und der Erhalt und die Schaffung von Grün- und Freiflächen sind bei allen Neubaugebieten vorrangiges Planungsziel. Dabei gilt es, möglichst viele unterbauungsfreie Grün- und Freiflächen zu ermöglichen, die u. a. als Retentionsflächen dienen können. Gerade auf städtischen Konversionsflächen (ehemalige Kasernenflächen) wurde eine Reduktion der Versiegelung und die Schaffung großzügiger neuer Grün- und Freiflächen erreicht.
Ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur Eindämmung der Versiegelung leistet im Rahmen der Bauanträge die Freiflächengestaltungssatzung. Sie hat das Ziel, die bisherige Qualität der Freiflächen beizubehalten und auch für die Zukunft eine qualitativ hochwertige Begrünung der Baugrundstücke sicherzustellen.“
Frage 6:
Wird bei Neubaugebieten eine Versickerungsquote ermittelt?
Antwort:
Das Referat für Stadtplanung und Bauordnung ermittelt für Neubaugebiete stets die städtebaulichen Kenndaten zu Neubaugebieten, beispielsweise die Grundflächenzahl (GRZ). Die GRZ gibt an, wieviel Quadratmeter einer Grundstücksfläche bebaut (versiegelt) sind. Aus der GRZ kann keine Versickerungsquote abgeleitet werden.
Frage 7:
Im Stadtklimatischen Gutachten des DWD von 2020 wurde die detaillierte Betrachtung von Starkniederschlagsereignissen im Stadtgebiet München empfohlen. Wurde oder wird dieses Gutachten in Auftrag gegeben?
Antwort:
Das Referat für Klima- und Umweltschutz teilt mit:„Im Zuge des fortschreitenden Klimawandels und der Fortschreibung der städtischen Klimaanpassungsstrategie sieht das Referat für Klima- und Umweltschutz die Thematisierung von veränderten Niederschlagsmustern und insbesondere Starkregen- und Dürreereignissen als sehr relevant an. Eine detaillierte Auswertung und Analyse würde die bisherige Datengrundlage der Landeshauptstadt München verbessern. Mit dem Deutschen Wetterdienst ist das Referat für Klima- und Umweltschutz dazu bereits im Austausch, ein konkretes Gutachten bzw. eine Weiterführung der bisherigen Kooperation wurde bisher aber noch nicht in Auftrag gegeben bzw. vereinbart.“
Frage 8:
Welche Folgeziele gibt es für den anschließenden Planungshorizont ab 2020?
Antwort:
Auch in anschließenden Planungshorizonten werden entsprechende Folgeziele erarbeitet. In dieser Hinsicht werden weiterhin oberste Ziele die Einhaltung der rechtlichen Anforderungen, insbesondere der Wasserrechte, und vor dem Hintergrund des Klimawandels die Erreichung eines möglichst naturnahen Wasserhaushaltes sein.
Das Referat für Klima- und Umweltschutz sowie das Referat für Stadtplanung und Bauordnung haben dieses Antwortschreiben mitgezeichnet.