Wie entwickelt sich die Kinderarmut in München?
Anfrage Stadtrats-Mitglieder Marie Burneleit, Stefan Jagel, Thomas Lechner und Brigitte Wolf (DIE LINKE. / Die PARTEI Stadtratsfraktion) vom 6.10.2023
Antwort Sozialreferentin Dorothee Schiwy:
In Ihrer Anfrage vom 6.10.2023 führen Sie Folgendes aus:
„Nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung, die Anfang dieses Jahres veröffentlicht wurde, gilt mehr als jedes fünfte Kind und jede*r vierte junge Erwachsene in Deutschland als armutsgefährdet. Die Daten zeigen, dass sich die Lage seitdem nicht gebessert hat. Alleinerziehende sowie Familien mit drei oder mehr Kindern sind besonders betroffen. In München sind 15 Prozent der Bevölkerung Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren (Stand 31.12.2020). Das sind 240.146 Minderjährige, die in 147.325 Familien leben. Dazu kommen in München 126.535 junge Erwachsene bis 25 Jahre. Inzwischen hat die Bundesregierung den Gesetzesentwurf zur Kindergrundsicherung beschlossen. Welche Auswirkungen hat die Kindergrundsicherung für München?“
Vor diesem Hintergrund bitten Sie den Oberbürgermeister, nachfolgende Fragen zu beantworten.
Zu Ihrer Anfrage vom 6.10.2023 nimmt das Sozialreferat im Auftrag des Herrn Oberbürgermeisters im Einzelnen wie folgt Stellung:
Frage 1:
Wie viele Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis unter 7, 7 bis unter 14 und 14 bis unter 18 lebten Ende des Jahres 2022 in Haushalten/Bedarfsgemeinschaften von Bezieherinnen und Beziehern von ALG II (bitte nach Stadtbezirken aufschlüsseln)?
Antwort:
Insgesamt lebten zum Stichtag 31.12.2022 laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) 25.845 Kinder unter 18 Jahren in Bedarfsgemeinschaften mir einem Leistungsbezug nach dem SGB II. Eine Differenzierung dieser Zahl nach Alter ist mit der von der BA zur Verfügung gestellten Statistik nur insofern möglich, als diese Kinder auch selbst Leistungen nach dem SGB II erhalten, dann allerdings nicht nach den von Ihnen gewünschten Altersgruppen. Ersatzweise wird daher auf die zur Verfügung stehenden Altersgruppen der BA zurückgegriffen. Demnach bezogen zum 31.12.2022 Leistungen:
- 3.754 Kinder in der Altersgruppe unter 3 Jahren
- 4.540 Kinder in der Altersgruppe 3 bis unter 6 Jahre
- 12.709 Kinder in der Altersgruppe 6 bis unter 15 Jahre
Eine Aufschlüsselung dieser Zahlen nach Münchner Stadtbezirk ist nicht verfügbar, da dieser im Fachverfahren der BA nicht erfasst wird.
Frage 2:
In welchem Verhältnis steht die Anzahl dieser Kinder und Jugendlichen zur Gesamtzahl der Kinder und Jugendlichen der jeweiligen o.g. Altersgruppe (bitte getrennt nach Stadtbezirken und sowohl absolute Zahlen als auch den prozentualen Anteil darstellen)?
Antwort:
Zum Stichtag 31.12.2022 waren 247.042 Kinder unter 18 Jahren in München mit Hauptwohnsitz gemeldet. Damit lebten 10.4% dieser Kinder in SGB II-Haushalten. Für die o.g. Zahlen der Kinder im Leistungsbezug ergeben sich folgende Anteile:
- 7,9% von 47.698 Kindern in der Altersgruppe unter 3 Jahren
- 7,8% von 58.439 Kindern in der Altersgruppe 3 bis unter 6 Jahre
- 12,2% von 103.809 Kindern in der Altersgruppe 6 bis unter 15 Jahre Zur Aufschlüsselung dieser Zahlen nach Stadtbezirken und anderen Altersgruppen vgl. Antwort zu Frage 1.
Frage 3:
Wie viele der vom ALG-II-Bezug abhängigen Kinder und Jugendlichen der jeweiligen Altersgruppen lebten zum Stichtag 31.12.2022 in alleinerziehen- den Haushalten (bitte nach Stadtbezirken aufschlüsseln)?
Antwort:
Die Zahl der Kinder, die zum Stichtag in alleinerziehenden Haushalten lebten, steht in der gewünschten Form in der BA-Statistik nicht zur Verfügung. Alternativ kann die Zahl der alleinerziehenden Bedarfsgemeinschaften nach Anzahl der Kinder mitgeteilt werden:
Zur Aufschlüsselung dieser Zahlen nach Stadtbezirken vgl. Antwort zu Frage 1.
Frage 4:
Wie viele Münchner Kinder und Jugendliche in den unter 1. erfragten Altersgruppen lebten Ende des Jahres 2022 in Familien, die Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB XII bezogen (bitte nach Stadtbezirken aufschlüsseln)?
Antwort:
Zum Stichtag 31.12.2022 lebten 247 Kinder unter 18 Jahren in Bedarfsgemeinschaften, die Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel SGB XII bezogen. Eine Aufschlüsselung dieser Zahlen nach Münchner Stadtbezirken ist standardmäßig nicht verfügbar und müsste über eine aufwändige Sonderauswertung erfolgen, die in der zur Beantwortung dieser Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht leistbar und angesichts der geringen Fallzahl nicht zielführend ist.
Frage 5:
Wie viele Münchner Kinder und Jugendliche in den unter 1. erfragten Altersgruppen lebten am 31.12.2022 in Haushalten, die Sozialleistungen zur „Aufstockung“ des elterlichen Einkommens aus Berufstätigkeit erhielten (bitte nach Stadtbezirken aufschlüsseln)?
Antwort:
Die Zahl der Kinder, die in sog. „Aufzahlerhaushalten“ leben, ist weder für das SGB II noch für das 3. Kapitel SGB XII ermittelbar. Mitgeteilt werden kann aber, dass zum Stichtag 31.12.2022 insgesamt 10.611 Bedarfsgemeinschaften im Leistungsbezug SGB II erfasst waren, bei denen ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit vorhanden war.
Frage 6:
Wie viele Familien erhielten zum Ende des Jahres 2022 in München einen Kinderzuschlag zur Vermeidung von ALG-II-Bezug (bitte bezirklich aufschlüsseln)?
Antwort:
Zuständiger Leistungsträger für den Kinderzuschlag ist die Familienkasse Bayern Süd mit Bearbeitungsstellen in Deggendorf und Passau. Nach der bundesweit verfügbaren Statistik der BA zum Kinderzuschlag haben im Dezember 2022 insgesamt 10.528 Kinder einen Kinderzuschlag erhalten. Zur Aufschlüsselung dieser Zahlen nach Stadtbezirken vgl. Antwort zu Frage 1.
Frage 7:
Wie viele der Kinder und Jugendlichen in den unter 1. erfragten Altersgruppen, die zum Ende des Jahres 2022 von staatlichen Transferleistungen abhängig waren, lebten nach Kenntnis der Verwaltung in Familien mit Migrationshintergrund (bitte nach Stadtbezirken aufschlüsseln)?
Antwort:
Aussagen über den Migrationshintergrund der betroffenen Familien sind mit den verfügbaren Daten nicht möglich, da dieser in keinem Fachverfahren als Merkmal erfasst ist. Alternativ kann die Zahl der Kinder mit ausländischer Staatsangehörigkeit unter den in der Antwort zu Frage 1 genannten Kindern im Leistungsbezug mitgeteilt werden:
Frage 8:
Wie viele Kinder und Jugendliche in den unter 1. erfragten Altersgruppen bezogen Ende des Jahres 2022 Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz? Wie viele von ihnen waren unbegleitete minderjährige Geflüchtete?
Antwort:
Zum Stichtag 31.12.2022 befanden sich 1.170 Kinder unter 18 Jahren im Leistungsbezug nach dem AsylbLG. Die Zahl der darin enthaltenen unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten kann nur über einen äußerst aufwändigen manuellen Abgleich der Personendaten erfolgen, welcher in der zur Beantwortung dieser Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht leistbar ist. Zudem müsste im Vorfeld geklärt sein, ob ein solcher Abgleich datenschutzrechtlich zulässig ist.
Frage 9:
Wie hat sich mit Stichtag 31. Dezember 2022 die Zahl der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien, die auf Transferleistungen angewiesen sind, im Vergleich zum Vorjahresmonat entwickelt (bitte nach Stadtbezirken aufschlüsseln)?
Antwort:
Die vorgenannten Zahlen zum Leistungsbezug haben sich im Vergleich zum 31.12.2021 wie folgt verändert:
Zur Aufschlüsselung dieser Zahlen nach Stadtbezirken vgl. Antwort zu Frage 1.
Frage 10:
Liegen der Verwaltung gesicherte Erkenntnisse zur Auswirkung der Corona-Pandemie auf die Entwicklung der Kinder- und Familienarmut in unserer Stadt vor? Welche Schlüsse zieht die Verwaltung aus den Erkenntnissen des Münchner Armutsberichts bezogen auf die Bekämpfung von Kinderarmut?
Antwort:
Eine Entwicklung der Kinder- und Familienarmut lässt sich aus dem Anstieg der Kinder im Leistungsbezug nach dem SGB II belegen. In den Jahren 2017 bis 2019 war ein Rückgang der Kinder und Jugendlichen im SGB II-Bezug zu verzeichnen, anschließend ein Anstieg. Im Vergleich Dezember 2022 zu Dezember 2019 ist somit ein Anstieg um 9,2% zu beobachten (vgl. auch Antwort zu Frage 9).
Zur Entwicklung der verdeckten Armut, also der Menschen, die ihren Anspruch auf Grundsicherungs- beziehungsweise Sozialhilfeleistungen aus Scham, Unkenntnis oder anderen Gründen nicht einlösen, kann für diese Altersgruppe keine gesicherte Aussage getroffen werden.
Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie waren und sind sowohl im
emotionalen als auch körperlichen Wohlbefinden besonders gravierend für junge Menschen, die in der Beschlussvorlage „Unsere Zukunft darf nicht zurückgelassen werden – Dokumentation der Stimmen von jungen Menschen, die durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie nicht abgehängt werden dürfen (Hearing)“, Sitzungsvorlage Nr. 20-26/V 04480 am 30.11.2021 ausgeführt wurden.
Zum Beispiel bestätigt die repräsentative Studie „Kinder in Deutschland 0--3 2022“ (KiD 0--3) des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) dienegativen Effekte durch Corona. Bei 78% der Säuglinge und Kleinkinder in Deutschland ist der Gesundheitszustand „sehr gut“. Kinder, die in einem armutsbelasteten Familienumfeld aufwachsen, ist der Gesundheitszustand im Vergleich nur bei 64 Prozent „sehr gut“.
21 Prozent der Kinder, deren Familien von Armut betroffen sind, sind überdies nicht altersgerecht entwickelt. Negative Effekte der Corona-Pandemie stellen Kinderärztinnen und -ärzte vor allem bei der sozialen und affektiven Entwicklung von Kleinkindern fest.
Kinder sind von Armut betroffen, weil ihre Eltern von Armut betroffen sind. Deshalb ist es wichtig, gezielt deren Situation in den Blick zu nehmen. Eine besonders von Armut betroffene Zielgruppe sind die Alleinerziehenden. Die enorme Fallzahlsteigerung im SGB II Bezug ist aus Antwort zu Frage 9 zu entnehmen.
Dem Sozialreferat/Stadtjugendamt ist es daher ein besonders Anliegen die spezifischen Angebote für die Alleinerziehenden zu verbessern und hat bereits, neben den schon länger bestehenden speziellen Beratungsstellen für Alleinerziehende (siaf e.V. und Verband alleinerziehender Mütter und Väter – VAMV e.V.) sowie diversen anderen Unterstützungsangeboten für Familien, welche sich immer auch an Alleinerziehende bzw. Ein-Eltern Familien richten, seit 2022 das spezielle Unterstützungsangebot Akutunterstützung Alleinerziehende in Krisensituationen „Aktu4You“ eingerichtet. Dieses niedrigschwellige, aufsuchende Unterstützungsangebot berät, begleitet und vermittelt Alleinerziehende in Krisensituationen.
Des Weiteren hat der Stadtrat ab 2023 die Einrichtung einer speziellen Koordinator*innenstelle für den Fachbereich Alleinerziehende im Stadtjugendamt beschlossen. Eine Stellenausschreibung bzw. -besetzung konnte bisher noch nicht erfolgen, ist aber so bald als möglich geplant, damit die so wichtige Aufgabe der fachlichen Betreuung und Koordinierung des Fachbereiches Alleinerziehende und aller dazugehörigen Unterstützungsangebote baldmöglichst fachlich angemessen umgesetzt werden kann.
Frage 11:
Welche Maßnahmen zur Bekämpfung der Kinderarmut und ihrer Folgen plant die Verwaltung 2024 fortzuführen bzw. neu zu ergreifen und wie sind diese im Haushalt 2024 finanziell abgesichert?
Antwort:
Das Sozialreferat ist bestrebt, die Quantität und Qualität der vorhandenen Unterstützungsleistungen und Angebote der Jugendhilfe trotz Fachkräftemangel, Fallzahlsteigerungen und Verdichtung der Problemlagen wie Inflation, Steigerung der Energiekosten etc., die insbesondere armutsbetroffene Familien betreffen, abzusichern.
Mit Beschluss des Sozialausschusses vom 16.3.2023 konnten beispielsweise die Einkommensgrenzen für freiwillige Leistungen nach Haushaltstypen angepasst werden, womit mehr Menschen die Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen können.
Welche Maßnahmen für das Jahr 2024 über den bekannten Eckdatenbeschluss hinaus noch finanziert werden können, ist noch nicht absehbar.
Frage 12:
Welche Auswirkungen auf die Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut in München hat aus Sicht der Verwaltung die Einführung der Kindergrundsicherung?
Antwort:
Aus Sicht des Sozialreferats wird mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf die eigentliche Zielsetzung der Kindergrundsicherung, nämlich
- bessere Chancen für Kinder und Jugendliche zu schaffen,
- mehr Familien und ihre Kinder mit Unterstützungsbedarf zu erreichen,
- Kinderarmut wirksam zu bekämpfen,
- einen vereinfachten Zugang zu schaffen,
- Leistungen aus einer Hand anzubieten und
- die Verfahren zu entbürokratisieren,
in fast allen Aspekten deutlich verfehlt. Insbesondere ergeben sich für viele Kinder und Jugendliche keinerlei finanzielle Verbesserungen.
Das neue Kindergrundsicherungsgesetz sieht zwar neben dem Kindergarantiebetrag (entspricht dem bisherigen Kindergeld) einen Kinderzusatzbetrag vor, der jedoch dem bisherigen Regelsatz entspricht und mit dem Kindergarantiebetrag verrechnet, also nicht wirklich zusätzlich gewährt wird. Die einzige erkennbare Verbesserung ist, dass das Einkommen des Kindes nicht mehr wie bisher in voller Höhe angerechnet wird.