Wie ist es in München um die Versorgung Jugendlicher und Erwachsener mit ADHS bestellt?
Anfrage Stadtrats-Mitglieder Professor Dr. Jörg Hoffmann, Gabriele Neff, Richard Progl und Fritz Roth (FDP BAYERNPARTEI Stadtratsfraktion) vom 1.2.2023
Antwort Gesundheitsreferentin Beatrix Zurek:
Ihrer Anfrage liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:
„In Gesprächen mit Betroffenen wurde deutlich, dass in München eine Versorgung als mit Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) diagnostizierten Jugendlicher und Erwachsener gar nicht oder nur unter sehr widrigen Bedingungen möglich ist. Die Betroffenen, die sich Hilfe holen wollen, stoßen oft an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, wohl auch deswegen, weil es bei den behandelnden Ärzten und Therapeuten einen Aufnahmestopp zu geben scheint.“
Herr Oberbürgermeister Reiter hat mir Ihre Anfrage zur Beantwortung zugeleitet. Die einzelnen Punkte Ihrer Anfrage kann ich wie folgt beantworten:
Frage 1:
Gibt es in Münchner Kliniken bzw. bei niedergelassenen Psychiatern und Psychologen einen Aufnahmestopp für Jugendliche und/oder Erwachsene, bei denen ADHS diagnostiziert wurde? Wenn ja, warum?
Antwort:
Es besteht ein grundsätzlicher Versorgungsengpass in der Diagnostik und Behandlung psychischer Störungen, der sich durch die deutliche Zunahme psychischer Belastungen und Symptome während der Corona-Pandemie noch verschärft hat. Entsprechend wird dem Gesundheitsreferat von verschiedenen Seiten von zunehmenden Versorgungsengpässen für psychisch erkrankte Menschen in München berichtet. Die Folge ist, dass Praxen zum Teil keine weiteren Patient*innen mehr aufnehmen können. Dies gilt auch für die Diagnose und Therapie von ADHS im niedergelassenen Bereich, wie dem Gesundheitsreferat von einem Vertreter des Kompetenznetzwerks ADHS München/Oberbayern bestätigt wurde.
Die Diagnostik und Behandlung der ADHS ohne koexistierende Störungen sollte in der Regel ambulant durchgeführt werden. Der gesetzliche Sicherstellungsauftrag der ambulanten medizinischen Versorgung liegt bei der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB). Die KVB weist darauf hin,dass seit April 2018 die psychotherapeutische Sprechstunde vor dem Beginn von probatorischen Sitzungen oder einer psychotherapeutischen Akutbehandlung für Patient*innen verpflichtend sei. Im Rahmen der Terminservicestelle werden Termine für ein Erstgespräch – die Psychotherapeutische Sprechstunde – vermittelt. In dieser Sprechstunde findet eine „orientierende diagnostische Abklärung“ und, sofern erforderlich, eine „differenzialdiagnostische Abklärung“ statt. Termine für eine psychotherapeutische Sprechstunde müssen von allen niedergelassenen Psychotherapeut*innen angeboten werden unabhängig davon, ob sie auch Behandlungsplätze anbieten können. Somit bleiben Patient*innen nach der ersten Aussage dar-über, dass es sich um eine behandlungsbedürftige Erkrankung handelt, oft ohne weiteres Behandlungsangebot.
Eine Reihe von Münchner Kliniken verfügt über Fachabteilungen, die Patient*innen mit besonders schwer ausgeprägter Symptomatik der ADHS diagnostizieren und behandeln können. Hierunter sind z.B. die Standorte der München Klinik Schwabing (Fachabteilung Kinder- und Jugendmedizin) und Harlaching (Fachabteilung Kinder- und Jugendmedizin sowie Psychosomatische Medizin und Psychotherapie), das Klinikum Dritter Orden München-Nymphenburg (Fachabteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie) und das kbo-Heckscher-Klinikum München (Fachabteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie) sowie eine Reihe von psychiatrischen und psychotherapeutischen Tageskliniken zu nennen.
Informationen über einen expliziten Aufnahmestopp für Kinder und Jugendliche bzw. Erwachsene mit ADHS liegen dem Gesundheitsreferat nicht vor.
Frage 2:
Wieviel Menschen in München sind von ADHS betroffen? Wieviel Psychiater und Psychologen in München befassen sich mit der Behandlung von Betroffenen?
Antwort:
ADHS ist eine der häufigsten psychischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Das Bundesgesundheitsministerium schätzt, dass etwa 2 bis 6 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter krankhaften Störungen der Aufmerksamkeit und an motorischer Unruhe leiden. Geht man davon aus, dass die Diagnose einer ADHS vor dem Alter von drei Jahren nicht gestellt werden soll, müssten demnach in München von den 192.953 Kindern und Jugendlichen (Hauptwohnsitzbevölkerung in München zum 31.12.2021) im Alter von 3 bis unter 18 Jahren rund 3.900 bis 11.600 be-troffen sein. Oftmals bleiben die Symptome bis in das Erwachsenenalter bestehen. Für Erwachsene wird davon ausgegangen, dass im Durchschnitt in Deutschland 3,1% der Erwachsenen betroffen sind. Es wird dem-
nach geschätzt, dass in München rund 40.950 der über 18-Jährigen eine ADHS-Symptomatik zeigen.
Eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) erfordert eine differenzierte Untersuchung durch Expert*innen auf dem Gebiet. ADHS kann in ambulanten, teilstationären und stationären Versorgungseinrichtungen diagnostiziert werden. Die Diagnostik und Behandlung der ADHS im Kindes- und Jugendalter sollte in der Regel ambulant durchgeführt werden. Eine stationäre oder teilstationäre Therapie (z.B. in Kliniken) kann u.U. nach nicht erfolgreicher ambulanter Therapie erwogen werden oder bei einer besonders schwer ausgeprägten ADHS-Symptomatik mit koexistierenden Störungen. Unterschiedliche Berufsgruppen können eine ADHS-Diagnostik vornehmen, z.B. bei Kindern und Jugendlichen Fachärzt*innen für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen, oder durch Psychologische Psychotherapeut*innen mit Zusatzqualifikation für Kinder und Jugendliche. Bei Erwachsenen sollte die diagnostische Abklärung durch Fachärzt*innen für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärzt*innen für Neurologie, Fachärzt*innen für psychosomatische Medizin oder durch ärztliche oder Psychologische Psychotherapeut*innen vorgenommen werden (vgl. S3-Leitlinie der AWMF).
Da die Berufsgruppe derjenigen, die bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ADHS diagnostizieren oder eine Therapie für Personen mit ADHS anbieten können, so breit gefächert und ihr Aufgabenspektrum so vielfältig ist, kann von Seiten des Gesundheitsreferats keine Aussage darüber gemacht werden, wie viele davon sich mit der Behandlung von Betroffenen befassen.
Frage 3:
Sind dem Gesundheitsreferat Fälle bekannt, in denen Betroffene von mehreren Stellen abgewiesen wurden?
Antwort:
Das Kompetenznetz ADHS München/Oberbayern berichtet von Betroffenen, die im niedergelassenen Bereich mehrfach abgewiesen wurden. Die Anzahl der Anfragen für eine Terminvergabe im niedergelassenen Bereich wird generell nicht dokumentiert. Informationen über mehrfache Abweisungen von Betroffenen mit ADHS-Symptomatik an Münchner Kliniken liegen dem Gesundheitsreferat nicht vor.
Frage 4:
An wie vielen Stellen ist die ADHS-Diagnostik in München möglich? Wie viele Experten sind mit der Diagnostik betraut und wie viele Diagnosen müssen diese im Schnitt pro Jahr erstellen? Fehlen Kräfte für die Diagnos- tik?
Antwort:
ADHS kann in ambulanten, teilstationären und stationären Versorgungseinrichtungen von unterschiedlichen Berufsgruppen diagnostiziert werden (s. Frage 2). Die Anzahl der Expert*innen, die mit der ADHS-Diagnostik betraut sind, und die durchschnittliche Anzahl der Diagnosen pro Jahr, werden nicht für die verschiedenen Sektoren an einer Stelle zusammengeführt.
Frage 5:
Wie lange müssen Betroffene in München im Schnitt auf eine Diagnose warten? Wieviel kostet es die Betroffenen, wenn sie sich entscheiden, privat für die Diagnostik zu zahlen?
Antwort:
Die durchschnittliche Wartezeit bis zur Terminvergabe für die Diagnostik bzw. bis zur Erstellung des Befundes wird nicht dokumentiert und unterscheidet sich von Praxis zu Praxis bzw. Klinik. Die Kosten für die Diagnostik können sich laut Kompetenznetz ADHS München/Oberbayern, wenn privat abgerechnet wird, in Abhängigkeit von der Anzahl der erforderlichen Sitzungen auf über 1.000 Euro belaufen.