Einsatz von KI zur Optimierung von Ampelschaltungen?
Anfrage Stadtrats-Mitglieder Professor Dr. Jörg Hoffmann, Gabriele Neff, Richard Progl und Fritz Roth (FDP BAYERNPARTEI Stadtratsfraktion) vom 20.8.2024
Antwort Mobilitätsreferent Georg Dunkel:
Zunächst möchten wir um Entschuldigung bitten, dass sich unsere Rückmeldung leider deutlich verzögert hat.
In Ihrer Anfrage vom 20.8.2024 legen Sie folgenden Sachverhalt zu Grunde:
„Auf eine Anfrage der BAYERNPARTEI Stadtratsfraktion vom Januar 2020 zum Thema Grüne Wellen erhielten wir vom (damals) zuständigen Kreisverwaltungsreferat die Auskunft, auf dem Gebiet der Landeshauptstadt München gäbe es 85 Streckenabschnitte mit Grünen Wellen und 636 der 1132 Lichtsignalanlagen (LSA) wären Bestandteil mindestens einer Grünen Welle. Die Programmierungen würden kontinuierlich „gepflegt und fortentwickelt“. In den letzten Jahren hat sich im Bereich der Künstlichen Intelligenz enorm viel getan, es ergeben sich neue Möglichkeiten in der Verkehrsplanung. Nutzt die Stadt München dies auch zur Optimierung der Grünen Wellen?“
Herr Oberbürgermeister Reiter hat mir Ihre Anfrage zur Beantwortung zugeleitet. Die darin aufgeworfenen Fragen beantworte ich wie folgt:
Frage 1:
Wie ist der aktuelle Stand der LSA in München? Wie viele Streckenabschnitte sind zu Grünen Wellen koordiniert? Wie viele LSA sind in Grüne Wellen einbezogen, wie viele der aktiven LSA sind noch nicht aufgerüstet, so dass sie „intelligent“, d.h. auf die momentanen Verkehrsmengen reagieren können?
Antwort:
Das Mobilitätsreferat als zuständige Straßenverkehrsbehörde ist beauftragt, Grüne Wellen einzurichten und zu optimieren. Hierbei handelt es sich um ein Geschäft der laufenden Verwaltung. 636 der 1.147 aktiven Münchener Lichtsignalanlagen (LSA) sind Bestandteil mindestens einer Grünen Welle – eine LSA kann aufgrund der Netzstruktur auch in mehrere Grüne Wellen eingebunden sein. Es gibt derzeit insgesamt 85 zu Grünen Wellen koordinierte Streckenabschnitte.Inzwischen wurden alle 85 Grüne Wellen überarbeitet und optimiert. Dabei wurden Signalprogrammänderungen eingepflegt, Änderungen der Verkehrsmengen und -zeiten wurden angepasst. Dies stellt einen laufenden Prozess dar. Auch Hinweisen der Verkehrsteilnehmer*innen wird konsequent nachgegangen, um die Funktion der Grünen Wellen zu prüfen und bei Bedarf zu optimieren.
Jede Grüne Welle wird von vielen, sich dauerhaft oder temporär bestimmender Parameter beeinflusst. Eine aus Sicht der Autofahrenden optimale Grüne Welle ist im Regelfall nicht realisierbar, da sonst die berechtigten Interessen anderer Verkehrsarten nicht zum Zuge kämen. Insbesondere die Beschleunigung des ÖPNV geht den Belangen der Grünen Welle vor, um die effizienteste motorisierte Transportform zu fördern, seine Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit zu erhöhen und die Reisezeiten unserer Busse und Trambahnen zu verkürzen. Die sich ergebenden Grünen Wellen stellen daher stets einen Kompromiss dar und sind aufgrund der gegebenen Kreuzungsabstände in der Regel nur in einer Fahrtrichtung möglich.
1.076 der 1.147 derzeit aktiven Münchener LSA sind verkehrsabhängig – „intelligent“ – gesteuert (also rund 94%). Dies beinhaltet auch alle LSA mit ÖPNV-Beschleunigung (849 LSA, also rund 74%), die eine komplexere „Intelligenzstufe“ aufweisen. Nur ein sehr kleiner verbleibender Rest verfügt „nur“ über Festzeitsteuerungen (was für den konkreten Einsatzzweck jedoch meist völlig ausreichend ist) und wird – bei entsprechender Notwendigkeit – im Zuge des altersbedingten Steuergeräteaustauschs zu einer verkehrsabhängig gesteuerten LSA hochgerüstet.
Nur bei Festzeitsteuerungen wiederholt sich ein Signalablauf in jedem Umlauf sekundengenau. Für die Planung Grüner Wellen wären somit Festzeitprogramme ideal, sie entsprechen jedoch zumeist nicht mehr den aktuellen Erfordernissen.
Frage 2:
Wird KI in der Verkehrssteuerung in München bereits eingesetzt? Gibt es (geplante oder bereits laufende) Modellversuche? Wenn ja, wo? Wenn nein, warum nicht? Wo sieht das Mobilitätsreferat besondere Chancen für den Einsatz von KI, wo liegen Schwierigkeiten und Herausforderungen?
Antwort:
Aktuell gibt es noch keinen KI-Einsatz in der Verkehrssteuerung im Regelbetrieb, er wurde aber bereits in Projekten erprobt. Zu beachten sind die technischen Voraussetzungen, die vorhandenen Datengrundlagen und dieVorgaben zur kritischen Infrastruktur, welchen die Lichtsignalanlagen in München unterliegen.
In München werden seit Anfang der 1990er Jahre hohe Standards an die Verkehrssteuerung gestellt und beim ÖPNV, Fuß-/Radverkehr und dem motorisierten Individualverkehr auch erfüllt. Der Einsatz von KI in der Verkehrssteuerung dürfte daher eher punktuelle Verbesserungen bringen.
In diesem Rahmen wären verschiedene Anwendungsszenarien in der Verkehrssteuerung denkbar:
- KI unterstütze Analyse und Optimierung bestehender Signalprogramme.
- KI gestützte Verkehrsanalysen und darauf basierende Entwicklung digitaler Verkehrsstrategien, wie etwa Routenempfehlungen, Verkehrsinformationen, Parkleitstrategien, etc.
All diese Ansätze von KI-Anwendungen setzen allerdings eine möglichst umfassende Datengrundlage über den fließenden Verkehr voraus. Dies bedeutet in erster Linie den Einsatz von Echtzeitverkehrsdaten, kombiniert mit möglichst allen verkehrsrelevanten Informationen wie Zählschleifendaten, Baustellen, Parkraum, Wetter, Verkehrsmeldungen, Emissionswerte, etc., um ein vollständiges Verständnis über den aktuellen Verkehr zu erlangen. Diese Daten sind eine notwendige Grundvoraussetzung und dienen als Entscheidungsgrundlage für dynamische Verkehrssteuerungsansätze und als Input für eine mögliche KI-Steuerung, Optimierung oder Validierung.
Eine „proof of concept“ Lösung zur Anwendung von Echtzeitverkehrsdaten wurde bereits im TEMPUS Projekt (siehe Sitzungsvorlage Nr. 20-26/V 01980) erprobt. Eine Umsetzung in einen Regelbetrieb wurde bereits Anfang 2020 im Rahmen der ISCH Maßnahmen (Integriertes Smart City Handlungskonzept) angestrebt. Aufgrund der beginnenden Corona Pandemie konnte eine Finanzierung über diesen Weg allerdings nicht mehr realisiert werden. Im März 2022 wurde das Vorhaben daher als Busines Requirement bei der IT eingesteuert. Ein Start dieses Projektes konnte bisher, aufgrund höher priorisierter IT-Vorhaben nicht realisiert werden. Für eine mögliche Umsetzung eines Realszenarios einer KI gesteuerten Signalsteuerung müssen außerdem folgende Punkte beachtet werden:
- Die Lichtsignalanlagen der LHM unterliegen den Kriterien der kritischen Infrastruktur. Das heißt, ein Fremdzugriff auf die Signalsteuerung ist nicht zulässig. Hier müsste im Zweifelsfall geklärt werden, inwieweit eine „externe“ bzw. selbständig agierende KI einen Fremdzugriff darstellt.
- Alle Eingriffe in die Signalsteuerung müssen gerichtlich nachvollziehbar und erklärbar sein.
- Alle gesetzlich vorgegeben Mindestzeiten und Zwischenzeiten müssen weiterhin eingehalten werden. Ein „schnelleres“ Umschalten zwischen Neben- und Hauptrichtung, um noch ein paar Fahrzeuge „mehr“ durchzulassen ist somit ohnehin nicht möglich.
Nicht zuletzt liegt eine zusätzliche Herausforderung der Signalsteuerung im vorherrschenden Verkehrsaufkommen. Eine Verbesserung des Verkehrsflusses und damit weniger Stau und Stop and Go Verkehr setzt zwingend ein deutlich reduziertes Verkehrsaufkommen voraus. Dies gilt auch für die Schaltung von Grünen Wellen. Egal ob von KI berechnet oder manuell optimiert, funktionieren diese nur unter bestimmten geometrischen, sowie physikalischen Gegebenheiten und nur bis zu einer gewissen Verkehrsauslastung.
Das Mobilitätsreferat sieht dennoch ein gewisses Potential dieser Technologie. So wurde im TEMPUS Projekt bereits eine Musterkreuzung temporär mit KI-unterstützter, kamerabasierter Objekterkennung ausgerüstet. Diese Anwendung soll beispielsweise für eine bedarfsgerechte Grünzeitverlängerung an einzelnen Knotenpunkten weiterverfolgt werden. Auch die Möglichkeit einer KI-gestützten Optimierung von Signalprogrammen ist denkbar und eine mögliche Anwendung wird aktuell untersucht.
Weiterhin hat sich das Mobilitätsreferat in der Vergangenheit über diverse KI-Anwendungen von unterschiedlichen Anbietern informiert und wird das auch in Zukunft tun. Alle Technologien werden neutral bewertet und auf Anwendbarkeit überprüft. Dies beinhaltet u.a. Effizienz, Kosten-Nutzen Verhältnis, Umsetzbarkeit, Einhaltung aller gesetzlichen Vorschriften und die Einordnung in den sozialökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und zeitlichen Kontext.
Frage 3:
Wo mussten aufgrund der Folgen des sog. „Radentscheids“ bisher Grüne Wellen zurückgenommen werden, weil z.B. Fahrspuren für den MIV weggenommen wurden?
Antwort:
Radentscheidsmaßnahmen, die z.B. als Konsequenz den Entfall von mIV-Fahrspuren haben, haben keinerlei Auswirkungen in den entsprechenden bestehenden mIV-Grüne Wellen. Die Lichtsignalanlagen an solchen Strecken bleiben weiterhin für den mIV-Verkehr miteinander koordiniert.Über die Grünen Wellen für den motorisierten Individualverkehr (mIV) hinaus wurden in der Schelling-, der Kapuziner-, der Adalbert-, der Karl- und der Gabelsbergerstraße bereits fünf Grüne Wellen für Rad Fahrende umgesetzt. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Radfahrenden sind diese Grünen Wellen noch schwieriger zu planen als die des mIV. Es hat sich gezeigt, dass die Grüne Welle für Radfahrende insgesamt eine deutlich komfortablere und „kontinuierlichere“ Fahrt dieser Verkehrsart ermöglicht, sie die ÖPNV-Beschleunigung nicht beeinträchtigt und somit durchaus ihre Berechtigung im Verkehrsraum besitzt. Eine gleichzeitige mIV- und Rad-Grüne Welle ist nicht möglich, da eine Koordinierung für den Radverkehr bei gleichen Knotenpunktabstände eine viel niedrigere Progressionsgeschwindigkeit benötigt.
Bei der Auswahl von Streckenzügen für die Umsetzung von Grünen Wellen für den Radverkehr, werden immer die konkreten örtlichen Gegebenheiten (geeigneter Knotenpunktabstand, Signalprogrammumlaufzeit, Anteil an durch den ÖPNV beeinflusste LSA, etc.) eingehend berücksichtigt. Die notwendigen Prüfungen hierzu erfolgen entsprechend einer Gewichtung der erzielbaren Effekte für Radfahrende (v.a. Anzahl der Radfahrenden im betrachteten Streckenzug). Grüne Wellen für Radfahrende sind in Streckenzügen, die bereits mit konkurrierenden Steuerungszielen beaufschlagt sind (z.B. Hauptverkehrsstraßen mit Grüner Welle für den Individualverkehr.), derzeit nicht umsetzbar.
Frage 4:
Die „Lastabhängige Programmauswahl“ (LAPW) war eine wichtige Maßnahme der vom Stadtrat im Oktober 2019 beschlossenen Fortschreibung des Luftreinhalteplans. Die LAPW sollte an bis zu 650 Ampeln umgesetzt werden. „An der Aufnahme des Projekts im LRP kann ermessen werden, wie signifikant der Beitrag angepasster Grüner Wellen für die Luftreinhaltung ist“, teilte uns das KVR 2020 mit.
Wie steht das Mobilitätsreferat zu dieser Aussage? An wie vielen der geplanten 650 Ampeln ist LAPW aktuell umgesetzt? Wie geht die Umsetzung voran?
Antwort:
Um die Wahl der Signalprogramme variabler zu machen und vor allem ihren Einsatz besser an die jeweilige Verkehrssituation anpassen zu können, hat das Mobilitätsreferat ein neues Steuerungssystem entwickelt, das regelbasiert Verkehrssituationen erkennt und die passendsten Signalprogramme schaltet. Es handelt sich um die „Lastabhängige Programmauswahl“, kurz LAPW.Alle 650 angekündigten LSA sind momentan in LAPW eingebunden. LAPW nutzt die Detektoren der verkehrsabhängig gesteuerten LSA, um festzustellen, welches Signalprogramm der erkannten Verkehrssituation am besten entspricht. Für die Grüne Welle bedeutet das, dass sie gezielter die Bedürfnisse des Verkehrs erfüllen kann und ihre verkehrserleichternde und schadstoffvermindernde Wirkung gezielter erfüllen kann.
LAPW bildet unter Betrachtung der Entwicklungshistorie Grüner Wellen von einfachen Festzeitsteuerungen, über verkehrsabhängige Steuerung und darüber hinaus die verkehrsabhängige Steuerung mit ÖPNV-Beschleunigung, gewissermaßen eine vierte Stufe der Grünen Welle – sozusagen die „Grüne Welle 4.0“.
Typische Anwendungen sind z.B. früher oder später als gewöhnlich einsetzender Berufsverkehr, Koordinierung der Grünen Welle in die Richtung mit dem aktuell höheren Verkehrsaufkommen, automatische Anpassung an Ferienverkehrslagen oder Veranstaltungsverkehre, wegen eines Unfalls oder einer Baustelle verlagerte Verkehre, plötzlich einsetzende Verkehrsströme, wie z.B. durch Gewitter bedingter frühzeitig einsetzender Freitzeit-Rückreiseverkehr vom Umland in die Stadt.