Nachdem Oberbürgermeister Dieter Reiter ein Zwischenbericht des Revisionsamtes vorliegt, der sich mit Kostenerstattungsansprüchen der Landeshauptstadt München gegen andere öffentliche Träger für die Unterbringung, Versorgung und Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge befasst, hat das Sozialreferat eine Stellungnahme und Bewertung abgegeben, die dem Oberbürgermeister ebenfalls vorliegt.
Um zu verhindern, dass hier nennenswerte Erstattungsbeträge verfristen oder verjähren, hat er das Sozialreferat gebeten, sämtliche notwendigen Vorkehrungen zu treffen, um offene Forderungen in diesem Bereich möglichst umfassend zu realisieren.
Hierzu gehört auch der Auftrag, ein belastbares Einnahmencontrolling aufzubauen und Rückstände in der Geltendmachung von Ansprüchen zeitnah abzubauen. Der Oberbürgermeister hat weiterhin das Sozialreferat gebeten, in einem Bericht in sechs Monaten gemeinsam mit dem Revisionsamt und der Stadtkämmerei abschließend zu berichten.
Die Landeshauptstadt München und sein Stadtjugendamt waren neben einzelnen anderen Kommunen in den vergangenen Monaten und Jahren hinsichtlich der Zahl Inobhut zu nehmender unbegleiteter Minderjähriger im bundesweiten Vergleich weit überproportional belastet. Daher hat der Oberbürgermeister zudem den Auftrag erteilt, dass sich das Sozialreferat an die Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig mit der Bitte um eine grundsätzliche Lösung der Thematik wendet. Das Schreiben an die Bundesministerin ist nachfolgend im Wortlaut abgedruckt:
„Das Stadtjugendamt München hat in Bezug auf die Unterbringung, Ver- sorgung und Begleitung unbegleiteter Minderjähriger (uM) in den letzten Jahren Herausragendes geleistet. So wurden im Jahr 2013 rund 550 uM in Obhut genommen, 2014 steigerte sich die Zahl auf 2.610. In 2015 wur- den über 5.100 uM in Obhut genommen und das bei über 10.300 jungen ankommenden bzw. aufgegriffenen Flüchtlingen, deren Alter das Stadtju- gendamt einzuschätzen hatte und von denen schließlich etwa die Hälfte in die Zuständigkeit der Jugendhilfe fielen. Allein in den ersten beiden Sep- temberwochen, in denen knapp 75.000 Flüchtlinge am Münchner Haupt- bahnhof ankamen, nahm das Stadtjugendamt München hunderte uM in Obhut. München darf daher als die Hauptankommenskommune für unbe- gleitete Minderjährige in Deutschland bezeichnet werden.
Diese jungen Menschen wurden nach den Jugendhilfestandards der Heimaufsicht (Regierung von Oberbayern) untergebracht und pädagogisch betreut. Ihnen wurden Sprachkurse ab dem ersten Tag ihres Aufenthalts in Deutschland angeboten. Daneben wurden ihnen tagesstrukturierende Maßnahmen unter dem großartigen Einsatz der Jugendverbände sowie unzähliger Ehrenamtlicher eröffnet.
Dieses engmaschige Versorgungssystem für junge unbegleitete Flücht- linge verursacht erhebliche Kosten. Die Landeshauptstadt München hat für die tausenden jungen Menschen, die in und außerhalb Münchens in der Zuständigkeit des Stadtjugendamtes München untergebracht wurden, viele Millionen Euro verauslagt, um rechtzeitig deren Unterkunft, pädago- gische Betreuung, medizinische Versorgung sowie die Grundbedarfe wie Kleidung, Ernährung, Mobilität und Taschengeld sicherzustellen. Diese immensen Kosten muss sich das Stadtjugendamt München auf- grund der zwischen 31.10.2012 und 31.10.2015 geltenden Rechtslage von 23 überörtlichen Kostenträgern erstatten lassen. Die Erstattungen erfolgen im Wege individueller und entsprechend arbeitsintensiver Abrechnungen je Einzelfall.
Die bis Ende Oktober 2015 geltende Rechtslage sah vor, dass zwar nicht die uM solidarisch über das Bundesgebiet verteilt werden konnten, wohl aber die bei ihrer Versorgung anfallenden Kosten. Erst im Nachhinein, wenn dem erstattungsberechtigten Jugendamt Rechnungen und exakte Fallverläufe vorliegen, können diese Kosten gegenüber dem jeweils zu- ständigen überörtlichen Kostenträger abgerechnet werden. Dabei sind je- doch strenge Ausschluss- und Verjährungsfristen zu beachten. Klärungsbedarf besteht meiner Auffassung nach bei der Regelung des § 111 SGB X. Diese sieht für die Geltendmachung von Ansprüchen bei den überörtlichen Trägern eine einjährige Ausschlussfrist vor. Wegen des erneut massiven Anstiegs der Flüchtlingszahlen im Sommer 2015 sagen und se- hen sich viele Kommunen in Deutschland nicht in der Lage noch parallel alle Erstattungsansprüche, die in 2014 entstanden und von Verfristung be- droht sind, bei den überörtlichen Trägern geltend zu machen. Es kann jedoch nicht sein, dass die Jugendämter in Deutschland wegen des Vorrangs einer fachgerechten Unterbringung, Betreuung und Versor- gung Gefahr laufen, Erstattungsansprüche durch den Ablauf von Fristen zu verlieren.
Zusätzliche Verschärfung erfährt die Fristenproblematik durch die aktuelle Situation beim Bundesverwaltungsamt (BVA). Bekanntlich wird die Frist des § 111 SGB X erst bei Geltendmachung gegenüber dem zuständigen überörtlichen Kostenträger gewahrt. Dieser steht jedoch bei Fallbeginn noch gar nicht fest, sondern muss erst nach Meldung an das BVA durch
eben dieses bestimmt werden. Erst danach ist dem Jugendamt überhaupt bekannt, an wen es sich wegen der Erstattung halten muss. Damit hängt die fristgerechte Geltendmachung der Ansprüche von der rechtzeitigen Rückmeldung des BVA ab.
Dadurch, dass sich aufgrund der aktuellen Flüchtlingssituation deutschland- weit sehr viele Kommunen derzeit an das BVA wenden, kommt das BVA bei der Benennung des überörtlichen Trägers nicht mehr nach. Das Stadtju- gendamt München muss etliche Wochen auf die Bestimmung des überört- lichen Trägers im jeweiligen Einzelfall warten. Hinzu kommt, dass sich das BVA trotz dringender Bitten weigert, Fälle, die zu verfristen drohen, bevor- zugt zu bearbeiten. Hierbei handelt es nicht um ein singuläres Problem der Landeshauptstadt München. Vielmehr sind alle Kommunen, die uM aufge- nommen haben, davon betroffen.
Vor diesem Hintergrund bitte ich nachdrücklich um Folgendes: Es bedarf Ihrerseits der unbedingten Klarstellung, dass die Jahresfrist des § 111 SGB X auf die alleinige, hoheitliche Inobhutnahme des § 42 SGB VIII keine Anwendung findet, da es sich hier nicht um eine Leistung der Ju- gendhilfe gem. § 2 Abs. 2 SGB VIII, sondern um eine sog. andere Aufgabe der Jugendhilfe gem. § 2 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII handelt. Auch der Gesetzgeber hat den Handlungsbedarf erkannt und ein neues System der Kostentragung eingeführt. Am 01.11.2015 ist das Gesetz zu Verbesserung der Unterbringung, Betreuung und Versorgung ausländi- scher Kinder und Jugendlicher (BGBl. I, 1802) in Kraft getreten, das eine bundesweite Verteilung unbegleiteter Minderjähriger vorsieht und daher als spürbare Entlastung für Hauptankommenskommunen wie München, Rosenheim oder Passau wahrgenommen wird. Die Kosten sind nunmehr lediglich mit einem überörtlichen Träger, in unserem Fall dem Bezirk Ober- bayern, abzurechnen.
Abschließend sei angemerkt, dass viele der derzeitigen Herausforderun- gen rund um das Thema Flüchtlinge nur deshalb gemeistert werden, weil hindernde Standards entsprechend effizient angepasst werden, etwa im Betrieb von Gemeinschaftunterkünften oder im öffentlichen Baurecht. Was in der unmittelbaren Unterbringung und Versorgung von Menschen mög- lich ist, muss doch erst recht in der anschließenden finanziellen Abwick- lung der Sachverhalte machbar sein.
Ich bedanke mich für Ihr Verständnis und Ihre Bemühungen zur Verbesse- rung der von mir soeben geschilderten Situation.“