Fragen zum Versammlungsrecht
Anfrage Stadträte Richard Progl und Mario Schmidbauer (Fraktion Bayernpartei) vom 6.10.2016
Antwort Kreisverwaltungsreferent Dr. Thomas Böhle:
Herr Oberbürgermeister Reiter hat mir Ihre Anfrage vom 6.10.2016 zur Beantwortung überlassen.
Inhaltlich teilten Sie Folgendes mit:
„In München haben in den letzten Monaten mehrere Versammlungen stattgefunden, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckten bzw. sich mit demselben Zweck und Inhalt viele Male wiederholt haben. Teilweise wurden gleichartige Versammlungen mit unterschiedlichen Auflagen belegt.“
Ihre gestellten Fragen (1. – 7.) beantworten wir wie folgt:
Frage 1:
Im Versammlungsrecht wird unterschieden zwischen Einzel- und Dauerversammlungen. Ab wann gilt eine Versammlung als „Dauerversammlung“ und welche Kriterien müssen hierfür erfüllt sein?
Antwort:
Im Bayerischen Versammlungsgesetz gibt es keine Unterscheidung zwischen einer Einzel- oder Dauerversammlung. Grundsätzlich ist es Ausdruck des verfassungsmäßig garantierten Selbstbestimmungsrechts der Veranstalterin bzw. des Veranstalters, dass sie bzw. er frei über Zeit, Dauer, Ort sowie über Form und Inhalt der Versammlung verfügen kann. Insofern gibt es keine gesetzlich definierte Höchstdauer für Versammlungen. Ihre verfassungsimmanente Grenze kann die Versammlungsfreiheit im Falle einer Dauerversammlung dann finden, wenn durch die lange Zeitdauer ungerechtfertigt in zumindest gleichrangige Grundrechte Dritter nachhaltig eingegriffen wird.
Frage 2:
Welche Regelungen gibt es zum Aufbau von Pavillons, Überdachungen, Bettenlagern etc. und wie werden diese Regelungen ggf. vom Münchner Kreisverwaltungsreferat ausgelegt?
Antwort:
Im Bayerischen Versammlungsgesetz gibt es keine Vorschrift, die das Einbringen von Gegenständen in die Versammlung explizit regelt. Allerdings besteht in Literatur und Rechtsprechung weitgehend Einigkeit darüber, dass Gegenstände oder Hilfsmittel unter die Privilegierung der Versammlungsfreiheit in Bezug auf die Erlaubnisfreiheit fallen, wenn es sich dabei um notwendige Bestandteile der Versammlung handelt. Notwendige Bestandteile sind solche, ohne die eine gemeinsame Meinungsbildung und Meinungsäußerung nicht möglich ist oder die inhaltlich in hinreichendem Zusammenhang zur Durchführung der Versammlung stehen und einen spezifischen Bezug zum Versammlungsthema aufweisen. Insofern schützt die Versammlungsfreiheit auch „infrastrukturelle“ Ergänzungen der Versammlung in Form von Informationsständen, Sitzgelegenheiten, Matratzen oder auch Betten, sofern sie unmittelbar oder mittelbar versammlungsspezifisch eingesetzt werden.
Ob bestimmte Gegenstände, die von der Veranstalterin bzw. dem Veranstalter der Versammlung zur Durchführung der Versammlung als notwendig erachtet werden, tatsächlich funktional-spezifisch versammlungsbezogen sind und einen Bezug zur gewählten Form der Versammlung haben, ist von der Behörde nach einem objektiven Maßstab zu beurteilen. Grundlage für diese Beurteilung ist das Vorbringen der Veranstalterinnen und Veranstalter. Sie legen gegenüber der Versammlungsbehörde dar, welche Gegenstände sie zur Durchführung der Versammlung in der geplanten Form benötigen. In jedem Fall erfolgen bei der Aufstellung, beispielsweise von Pavillons, beschränkende Verfügungen hinsichtlich eines sicherheitsrechtlich unbedenklichen Gebrauchs, z. B. bezüglich der Statik oder des Brandschutzes, so dass sich keine konkreten Gefahren für die öffentliche Sicherheit ergeben.
Die Versammlungsbehörde des Kreisverwaltungsreferates erlässt regelmäßig bei sog. Dauerversammlungen folgende Auflagen, um einer Verfestigung der Versammlung entgegenzuwirken:
„Die Größe der Pavillons wird auf je neun Quadratmeter festgelegt. Außerdem wird in Anbetracht der Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf der Versammlungsfläche (tagsüber und nachts) die Zahl der Pavillons auf (...) beschränkt. Die Pavillons dürfen nicht im bzw. auf dem Straßen- und Gehwegbelag verankert oder verschraubt werden. Ferner sind die Pavillons bei guten Witterungsbedingungen nach allen Seiten offen zu halten. Sollte bei Nässe und starkem Wind eine Durchführung der Versammlung ohne teilweises Verhängen des Pavillons nicht mehr möglich sein, so ist das Anbringen von Seitenwänden sowie das Anbringen einer zusätzlichen Plane auf der Dachkonstruktion des Pavillons für die Dauer dieser Witterung erlaubt.Gegenstände, die den Eindruck häuslichen Charakters oder des Campierens vermitteln, dürfen nicht eingebracht werden. In Folge dürfen u.a. Zelte, Caravans und sonstige zum Wohnen und Campieren genutzte Gegenstände auf der jeweiligen Aufstellungsfläche nicht verwendet bzw. auf die Aufstellungsfläche nicht eingebracht werden. Jeglicher Eindruck des Campierens ist zu vermeiden.
Das Errichten einer Einfriedung der Versammlung, z.B. durch eine entsprechende Verkettung von Transparenten, Pavillons oder durch ein Anbringen von Leinen, Seilen bzw. Absperrbändern an den Kundgebungsmitteln, ist untersagt. Ebenso dürfen insbesondere Paletten, Stühle, Seitenwände, Stellwände und Infotische nicht zum Errichten einer Umfriedung verwendet werden.“
Frage 3:
Dürfen Versammlungen geplanterweise Übernachten auf öffentlichem Grund beinhalten? Wann greifen hier die Regelungen über wildes Campieren?
Antwort:
Wie bereits unter Frage 1 ausgeführt, unterliegt die individuelle Ausgestaltung einer Versammlung grundsätzlich der Typenfreiheit und damit dem Selbstbestimmungsrecht der Veranstalterin bzw. des Veranstalters.
Den Versammlungsteilnehmerinnen und -teilnehmern, die über einen längeren Zeitraum, auch nachts, am Versammlungsort verbleiben, muss es grundsätzlich möglich sein, sich auszuruhen, um eine effektive Kundgabe ihres Anliegens zu gewährleisten. Dies schließt auch das Schlafen in den errichteten Pavillons ein. In diesem Sinne muss jedoch gewährleistet sein, dass die Versammlung für sich genommen stets „ansprechbar“ ist, was ausschließt, dass alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer gleichzeitig schlafen. Dies hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Urteil vom 22.9.2015 zur Infrastruktur bei Dauerversammlungen im „Fall Würzburg“ unterstrichen und dabei neue Maßstäbe gesetzt. Dabei bestimmen das Thema der Versammlung sowie die Anzahl an Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Grenze dessen, was als erforderliches Hilfsmittel zum witterungsbedingten Ausruhen als versammlungsimmanent anerkannt werden muss.
Die Abgrenzung einer Dauerversammlung zu einer Veranstaltung oder einem Zeltlager gewinnt dann an Kontur, wenn die individuelle Lebensführung die kollektive Meinungskundgabe überwiegt. Dies gilt besonders dann, wenn der Kundgabezweck zunehmend in den Hintergrund tritt. Sobald die Meinungskundgabe nur noch Beiwerk ist und hauptsächlich eine alternative Lebenseinstellung gelebt wird, ist diese Grenze deutlich überschritten und das „Camp“ unterliegt nicht mehr dem Schutz der Versammlungsfreiheit.
In der Praxis bedeutet dies für die zuständige Versammlungsbehörde, dass sie bereits vor Versammlungsbeginn mit der Veranstalterin bzw. dem Veranstalter im Rahmen eines Kooperationsgespräches in einen Dialog tritt, in dem die Veranstalterin bzw. der Veranstalter exakt beschreibt, welche und wie viele Hilfsmittel verwendet werden sollen und worin deren Versammlungsimmanenz gesehen wird. Dies ermöglicht der Versammlungsbehörde die Bewertung, ob ein begehrtes Hilfsmittel tatsächlich einen inhaltlichen oder strukturellen Bezug zum Versammlungsthema hat oder ob es lediglich dazu dienen soll, über die unabdingbare Notwendigkeit hinaus bequemere Rahmenbedingungen für ein dauerhaftes Verweilen zu schaffen.
Frage 4:
Werden bzw. müssen Versammlungen nachts bewacht und geschützt werden? Falls ja, wer trägt die Kosten hierfür?
Antwort:
Das Bayerische Versammlungsgesetz enthält keine Bestimmungen darüber, dass Versammlungen nachts bewacht oder geschützt werden müssten. Allerdings gehört es zu den Pflichten der Versammlungsleitung, während der Versammlung für Ordnung zu sorgen. Zur Erfüllung ihrer Aufgaben kann sie sich der Hilfe einer angemessenen Anzahl volljähriger Ordner bedienen.
Darüber hinaus ist es Aufgabe der Polizei, während der Versammlung eine ordnungsgemäße Durchführung der Versammlung sowie den Schutz aller Beteiligter zu gewährleisten. Dies erfolgt ausschließlich im polizeilichen Ermessen und bestimmt sich nach der aktuellen, einzelfallbezogenen Gefährdungslage. Der grundgesetzliche Status der Versammlungsfreiheit als Abwehr- und Leistungsrecht schließt es grundsätzlich aus, dass die Veranstalterin bzw. der Veranstalter für die Kosten der öffentlich-rechtlichen Maßnahmen in Anspruch genommen wird. Konkret hat sich dieser Rechtsgedanke im Art. 26 des Bayerischen Versammlungsgesetzes niedergeschlagen, in welchem geregelt ist, dass Amtshandlungen nach dem Bayerischen Versammlungsgesetz grundsätzlich kostenfrei sind.
Frage 5:
Welche Regelungen existieren zu Sauberkeit und Hygiene von Dauerversammlungen?
Antwort:
Das Bayerische Versammlungsgesetz gibt nur mittelbar eine Antwort auf diese Frage. Nach Art. 15 Abs. 1 des Bayerischen Versammlungsgesetzes kann die Behörde eine Versammlung dann beschränken oder verbieten, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung unmittelbar gefährdet ist. Wie bereits unter Frage 3 ausgeführt, wird die Versammlungsbehörde nach Möglichkeit bereits im Vorfeld der Versammlung entsprechende Weichenstellungen (z. B. Information über allgemeine Hygienebestimmungen hinsichtlich der Lagerung von Lebensmitteln, Klärung der Toilettensituation etc.) vornehmen. Stellt sich mit zunehmendem zeitlichen Verlauf der Versammlung heraus, dass es im Zusammenhang mit der Dauerversammlung zu hygienischen Problemstellungen kommt, werden die Versammlungsbehörden tätig. Dies kann je nach Grad der Problemstellungen kooperativ erfolgen oder aber förmlich durch eine entsprechende Auflage. Hierzu bedient sich die Versammlungsbehörde der Fachexpertisen städtischer Dienststellen, wie beispielsweise des Referats für Gesundheit und Umwelt und/oder der Lebensmittelüberwachung.
Frage 6:
Nicht entsorgter Müll und offen gelagerte Lebensmittel ziehen Ratten, Vögel und Ungeziefer an. Gibt es (seuchen- und/oder lebensmittelrechtliche) Vorschriften zur Lagerung von Lebensmitteln bei Dauerversammlungen?
Antwort:
Hier gilt sinngemäß das zu Frage 5 Formulierte. Darüber hinaus werden die Versammlungsteilnehmerinnen und -teilnehmer im versammlungsrechtlichen Bescheid verpflichtet, die als notwendige Bestandteile anerkannten Hilfsmittel bei Nichtgebrauch stets ordentlich zu verwahren und den Eindruck des Campierens zu vermeiden. Weiterhin muss die Veranstalterin bzw. der Veranstalter grundsätzlich nach Beendigung der Versammlung Verunreinigungen, die über das übliche Maß hinausgehen, beseitigen. Andernfalls können diese Verunreinigungen von der Landeshauptstadt München als Trägerin der Straßenbaulast auf Kosten der Veranstalterin bzw. des Veranstalters beseitigt werden.
Frage 7:
Wenn Gewerbetreibenden durch Versammlungen massive Geschäftseinbußen entstehen, gibt es Möglichkeiten der Entschädigung? Wenn ja, welche?
Antwort:
Nein, es gibt keine Möglichkeit der Entschädigung der Gewerbetreibenden für eventuell eingetretene wirtschaftliche Einbußen. Es ist den Gewerbetreibenden grundsätzlich zuzumuten, wegen des hohen Werts der Versammlungsfreiheit für unser Demokratie- und Wertverständnis gewisse Einschränkungen durch Versammlungen hinzunehmen. Manifestieren sich allerdings diese Einschränkungen und sind sie aufgrund lang anhaltender und grober Beeinträchtigungen durch Versammlungen als nicht mehr sozialadäquat anzusehen, liegt es im pflichtgemäßen Ermessen der Versammlungsbehörde, die widerstreitenden Positionen der Grundrechtsträger in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.