Ausbau des barrierefreien Zugangs zu Arztpraxen und Gesundheitseinrichtungen
Anfrage Stadtrats-Mitglieder Anja Berger, Anna Hanusch, Jutta Koller, Thomas Niederbühl, Angelika Pilz-Strasser und Oswald Utz (Fraktion Die Grünen – rosa liste) vom 28.2.2019
Antwort Stephanie Jacobs, Referentin für Gesundheit und Umwelt:
Ihrer Anfrage liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:
„Laut Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag geht hervor, dass der Großteil der rund 100.000 Arztpraxen in Deutschland nicht ohne Bewältigung von Stufen und Treppen zu erreichen ist. Demnach verfügt lediglich jede dritte Praxis über mindestens ein Merkmal der Barrierefreiheit. Derartige Merkmale sind beispielsweise ein barrierefreier Zugang, barrierefreie Räumlichkeiten oder auch ein Leitsystem für Menschen mit Sehbehinderung. Bei der Münchner Gesundheitskonferenz des Gesundheitsbeirats im November 2018 ‚Gesundheit im Alter fördern – Strategien und Herausforderungen in der Kommune‘ wurde die fehlende Barrierefreiheit auch für München benannt. Für einen barrierefreien Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zu sorgen ist in Anbetracht der Behindertenrechtskonvention grundsätzlich verpflichtend. Tatsächlich findet dies nur im Fall des Praxisneubaus oder der Nutzungsänderung bestehender Gebäudeflächen Anwendung. Diese Regelung wird jedoch nicht bei bestehenden Arzt- oder Zahnarztpraxen berücksichtigt. Die Thematik der Barrierefreiheit in Arztpraxen beginnt allerdings nicht erst mit der Praxisplanung und der technischen Umsetzung. Bereits bei der Objekt- und Standortwahl neuer Praxisräume sollte die Barrierefreiheit mit zu den grundlegenden Entscheidungskriterien zählen“.
Herr Oberbürgermeister Reiter hat mir Ihre Anfrage zur Beantwortung zugeleitet. Zunächst möchte ich mich für die gewährte Fristverlängerung bedanken. Die aufgeworfenen Fragen zu oben dargestelltem Sachverhalt beantworte ich wie folgt:
Frage 1:
Liegen der Verwaltung zur beschriebenen Problematik spezifische Zahlen für München vor? Falls nein: Ist es beabsichtigt, diese zu erheben?
Antwort:
Dem Referat für Gesundheit und Umwelt (RGU) liegen zur beschriebenen Problematik keine spezifischen Zahlen für München vor.Die Online-Datenbank der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern (KVB) ermöglicht die Suche nach ärztlichen Praxen mit dem Merkmal „rollstuhlgerecht“. Die Daten basieren auf Selbstauskünften der Ärztinnen und Ärzte. Eine weitere gesonderte Erhebung ist seitens der KVB derzeit nicht geplant.
Frage 2:
Können bestehende Arztpraxen und Gesundheitseinrichtungen, die mit überschaubarem Aufwand umgebaut werden können, zu einem barrierefreien Umbau verpflichtet werden?
Antwort:
Barrierefrei sind nach Art. 2 Abs. 10 Bayerische Bauordnung (BayBO) „bauliche Anlagen, soweit sie für Menschen mit Behinderung in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind“. Art. 48 BayBO regelt die Verpflichtung zur Barrierefreiheit für öffentlich zugängliche Gebäude. Darunter fallen nach Art. 48 Abs. 2 Nr. 4 BayBO auch Einrichtungen des Gesundheitswesens. Diese Verpflichtung besteht, wie in der o. g. schriftlichen Anfrage ausgeführt, primär für Neubauten und Nutzungsänderungen. Bei bestehenden öffentlich zugänglichen baulichen Anlagen verfügen die Bauaufsichtsbehörden über eine Eingriffsbefugnis für die Beseitigung von Zugangshindernissen und die Nachrüstung der Barrierefreiheit, soweit dies technisch möglich und wirtschaftlich zumutbar ist (vgl. Art. 48 Abs. 4 S. 2 und Art. 54 Abs. 5 BayBO).1
Die Lokalbaukommission merkt an, „dass eine behördliche Zugriffsmöglichkeit im Bestand nur bei baulichen Änderungen und Nutzungsänderungen oder zur Abwehr von erheblicher Gefahr für Leben und Gesundheit besteht (Art. 54 Abs. 4 BayBO).
Ansonsten genießen bauliche Anlagen Bestandsschutz und die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Anforderungen kann nur in dem Maße gefordert werden, wie sie zum Zeitpunkt der Genehmigung rechtskräftig waren. Alle Maßnahmen darüber hinaus können lediglich beraten und freiwillig umgesetzt werden.“
Darüber hinaus bieten das Sozialgesetzbuch V (SGB V) und die Richtlinie des gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) über die Bedarfsplanung sowie die Maßstäbe zur Feststellung von Überversorgung und Unterversorgung in der vertragsärztlichen Versorgung (Bedarfsplanung-Richtlinie, BPL-RL) Anreize für eine barrierefreie Gestaltung von ärztlichen Praxen. So regelt § 103 Abs. 4 Satz 4 SGB V, dass der Zulassungsausschuss beimehreren Bewerberinnen und Bewerbern auf die Nachfolge einer vertragsärztlichen Praxis die Nachfolgerin oder den Nachfolger nach pflichtgemäßen Ermessen auszuwählen habe. Als Kriterien, die bei der Auswahl berücksichtigt werden müssen, werden unter § 103 Abs. 4 Satz 5 SGB V Nr. 8 SGB V die „Belange von Menschen mit Behinderung beim Zugang zur Versorgung“ genannt. § 26 Abs. 4 Nr. 3 BPL-RL legt fest, dass der Zulassungsausschuss bei mehreren Bewerberinnen und Bewerbern auf eine neue vertragsärztliche Praxis nach „Versorgungsgesichtspunkten“ zu entscheiden habe. Die Barrierefreiheit wird als möglicher Versorgungsgesichtspunkt konkret genannt.
Frage 3:
Lässt sich aus der Behindertenrechtskonvention für Bund/Land bzw. Kommune eine Verpflichtung ableiten, Maßnahmen für eine „Grundversorgung“ an Arztpraxen und Gesundheitseinrichtungen mit barrierefreiem Zugang zu ergreifen?
Antwort:
Die Bundesrepublik Deutschland ist als Vertragsstaat der UN-BRK verpflichtet. Die UN-BRK ist seit der Ratifikation am 26.3.2009 für Deutschland verbindlich.
Ein unmittelbares subjektives Recht und eine damit korrespondierende staatliche Verpflichtung zur Gewährleistung barrierefreier Arztpraxen und Gesundheitseinrichtungen lässt sich aus der UN-BRK (Art. 3 f, Art. 9, Art. 25 UN-BRK) mangels ausreichender Bestimmtheit dieser Normen grundsätzlich nicht ableiten, da diese Normen Zielformulierungen beinhalten, ohne jedoch die Art der Zielerreichung konkret festzulegen. Sie sind jedoch im Rahmen der menschenrechtskonformen Auslegung in die Rechts- und Entscheidungsfindung der zuständigen Behörden und Gerichte bei der Auslegung von Bundes- und Landesrecht, insbesondere im Rahmen der Ermessensausübung, einzubeziehen.
Zum Teil wurden die Verpflichtungen aus der UN-BRK zudem bereits durch Bundes- bzw. Landesgesetze umgesetzt. Weitere Schritte der Umsetzung sind in den Aktionsplänen von Bund,2 Ländern3 und Kommunen4 vorgesehen. Die Bundesregierung hat sich in ihrem Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK zu einem Programm für barrierefreie Arztpraxen bekannt, das einen behindertengerechten Zugang zu den Einrichtungen der ambulanten Krankenversorgung gewährleisten soll5. Hierfür hat der Gemeinsame Bundesausschuss im Rahmen der BPL-RL festgelegt, dass die Barrierefreiheit als regionale Besonderheit anzusehen ist, mit der Folge,dass im Bedarfsplan von bundesweiten Vorgaben abgewichen werden
kann. Ferner wurde in § 4 Abs. 1 Satz 3 BPL-RL festgelegt, dass zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung behinderter Menschen vor allem im Hinblick auf Neuzulassungen die Barrierefreiheit besonders zu beachten ist. Dabei haben die Krankenkassen und ihre Verbände die Verpflichtung, die Zugänglichkeit zur vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung in den Gesamtverträgen mit den Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen zu regeln (§ 72 SGB V).
Zuständig für die ärztliche Versorgung in Bayern ist die KVB. Sie stellt als Selbstverwaltungsorgan der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte in Bayern zusammen mit den Krankenkassen den Bedarfsplan für Bayern auf, der stetig fortgeschrieben wird. In Bayern wurde die Barrierefreiheit für Einrichtungen des Gesundheitswesens zudem in Art. 48 Abs. 2 BayBO verankert (siehe Frage 2).
Frage 4:
Gibt es Förderprogramme (Bund-Land-/Stadt), um die Anzahl barrierefreier Arztpraxen und Gesundheitseinrichtungen zu erhöhen? Falls ja, welche?
Antwort:
Dem RGU sind aktuell keine Förderprogramme „barrierefreie ärztliche Praxis“ im Sinne eines Zuschusses für Ärztinnen und Ärzte bekannt. Entsprechend dem Link: www.arzt-wirtschaft.de/wie-den-umbau-finanzieren/ gibt es bis dato lediglich die Möglichkeit, zinsgünstige Kredite für den Bau einer barrierefreien ärztlichen Praxis in Anspruch zu nehmen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) stellt Ärztinnen und Ärzten unter dem Link www.kbv.de/html/barrierefreiheit.php die Broschüre „Barrieren abbauen“ mit Ideen und Vorschläge für die Gestaltung einer barrierefreien ärztlichen Praxis zur Verfügung.
Im Rahmen des ersten Aktionsplans zur Umsetzung der UN-BRK in München wurde die Initiierung bedarfsgerechter ambulanter gynäkologischer Versorgungsstrukturen für mobilitätsbehinderte Frauen als Maßnahme für München formuliert. Mit Beschluss des Stadtrats vom 24.10.2018 wurde das RGU beauftragt, sich für die Realisierung einer gynäkologischen Spezialpraxis für Frauen und Mädchen mit Mobilitätseinschränkungen in München einzusetzen.6 Die Einrichtung einer gynäkologischen Sprechstunde soll durch niedergelassene Gynäkologinnen und Gynäkologen in den Räumlichkeiten der München Klinik, Klinik Schwabing, im Rahmen eines Pilotprojektes erfolgen. Vorgesehen ist eine zunächst dreijährige Laufzeit des Projektes von 2019 bis 2021, die sich aus einer sechsmonatigen Vorbe-reitungsphase (Organisation der administrativen Prozesse, Öffentlichkeits- und Aufklärungsarbeit etc.) und einer 30-monatigen Sprechstundenphase zusammensetzt.
Das RGU koordiniert die Umsetzung, bezuschusst in der Pilotphase aber auch die Personalkosten für eine Pflegekraft während der Sprechstunden, die Sach- und Raumkosten, die wissenschaftliche Projektbegleitung, die Öffentlichkeitsarbeit sowie die Anschaffung eines gynäkologischen Untersuchungsstuhls. Nach Ende der Pilotphase wird das RGU dem Stadtrat über die Erfahrungen berichten, und es werden Handlungsempfehlungen zum weiteren Vorgehen ausgesprochen.
Das Programm „Bayern barrierefrei“ der Bayerischen Staatsregierung zielt allgemein auf den Abbau von Barrieren.7 Bayern soll bis 2023 im öffentlichen Raum und im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) barrierefrei werden. Grundsätzliches Ziel der Staatsregierung ist aber auch die umfassende Barrierefreiheit aller bayerischen Krankenhäuser. Bereiche, die öffentlich zugänglich sind bzw. unmittelbar der Patientenversorgung dienen, sind nach Auskunft der Bayerischen Staatsregierung in aller Regel schon barrierefrei angelegt. Nun sollen weitere Angebote verbessert werden, z.B. Informationshilfen für seh- und hörbehinderte Menschen sowie die Klinik-Websites. Zudem strebt das Bayerische Gesundheitsministerium ein Siegel für barrierefreie Arztpraxen an. So soll ein Anreiz geschaffen werden, mehr Praxen barrierefrei zu gestalten.8
Um Kenntnisnahme von den vorstehenden Ausführungen wird gebeten. Ich gehe davon aus, dass die Angelegenheit damit abgeschlossen ist.
1 Laut Standardkommentar gilt die Verpflichtung zudem für die Instandhaltung, vgl. Simon/Busse-Würfel: Bayerische Bauordnung, 131. EL Okt. 2018, Art. 38, Rn. 35.
2 “Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft“, Nationaler Aktionsplan 2.0 der Bundesregierung zur UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), im Folgenden NAP 2.0, S. 64 ff., insbesondere S. 67 ff. 3 Vgl. für Bayern: Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Soziale, Familie und Integration, Schwerpunkte der bayerischen Politik für Menschen mit Behinderung im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention, Aktionsplan.
4 Vgl. für München: https://www.muenchen-wird-inklusiv.de/aktionsplan. 5 Vgl. NAP, 2.0, S. 75.
6 Vgl. Sitzungsvorlage Nr. 14-20/V 12080 vom 24.10.2018.
7 Vgl. Internetauftritt Bayerische Staatsregierung: Bayern barrierefrei. AHA! Fakten: https://www.barri-erefrei.bayern.de/fakten/programm/index.php [abgerufen am 26.4.2019]. 8 Vgl. Internetauftritt Bayerische Staatsregierung: Bayern barrierefrei. Zeichen setzen: Das Signet: https://www.barrierefrei.bayern.de/beispiele/zeichen_setzen/index.php (abgerufen am 26.4.2019).