Handlungsweise bei vermissten unbegleiteten minderjährigen Flücht- lingen?
Anfrage Stadtrats-Mitglieder Dr. Wolfgang Heubisch, Dr. Michael Mattar, Gabriele Neff, Thomas Ranft und Wolfgang Zeilnhofer (Fraktion Freiheitsrechte, Transparenz und Bürgerbeteiligung (FDP – HUT – Piraten)) vom 27.6.2016
Antwort Sozialreferentin Dorothee Schiwy:
In Ihrer Anfrage vom 27.06.2016 führen Sie Folgendes aus:
„Anfang des Jahres 2016 veröffentlichte Europol, dass mindestens 10.000unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Europa verschwunden seien. In München wurden im Zeitraum vom 01.01.2015 bis 31.01.2016 ins- gesamt 792 UMF als vermisst gemeldet. Der Bundesfachverband für un- begleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) weist darauf hin, dass hierbei nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein Teil der Minderjährigen Opfer von Menschenhandel wird und in Ausbeutungssituationen gelandet ist. In München leben ca. 4.300 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (umF), die in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht wurden. Auf unsere Anfrage vom 16.02.2016 antwortete die Verwaltung, dass zwischen 01.01.2015 und 30.06.2016 250 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die in München angekommen sind, als vermisst gemeldet wurden. Zwischen 01.07.2015 und 31.02.2016 waren es 542.“
Zu Ihrer Anfrage vom 27.06.2016 nimmt das Sozialreferat im Auftrag des Herrn Oberbürgermeisters im Einzelnen wie folgt Stellung:
Frage 1:
Wer ist für die Erstattung der Anzeige verantwortlich (Stadtjugendamt, Freier Träger etc.) und in welchem Zeitraum hat die Meldung zu erfolgen? Gibt es hierzu eine einheitliche Regelung?
Antwort:
Gemäß der Handlungsanleitung des Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration aus 2015 werden unbegleitete Minderjährige 48 Stunden nach ihrer Abgängigkeit der örtlichen Polizeiinspektion als vermisst gemeldet.
Rechtlich ist für die Vermisstenanzeige der/die gesetzliche Vertreter/in verantwortlich. Dies ist während der vorläufigen Inobhutnahme gem. § 42a SGB VIII und auch während der Inobhutnahme gem. § 42 SGB VIII dasörtlich zuständige Jugendamt. Nach der erfolgten Vormundsbestellung liegt die Verantwortung beim bestellten Vormund.
Üblicherweise wird die Meldepflicht auf die Betreuerinnen/Betreuer der Jugendhilfeeinrichtungen mit einem genau festgelegten Verfahren zur Vorgehensweise delegiert. In dem Verfahren ist auch die Pflicht zur Informationsübermittlung an den gesetzlichen Vertreter und die fallverantwortlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Stadtjugendamt München fest verankert. Beide Stellen erhalten demnach zum Zeitpunkt der Vermisstenmeldung Kenntnis von der Abgängigkeit.
Frage 2:
Erhält der Träger der Jugendhilfe eine Rückmeldung, sobald bekannt wird, dass der umF an einem neuen Wohnort (außerhalb Münchens) gemeldet wurde?
Antwort:
Die Polizeidienststelle, die von dem vermissten Jugendlichen und der Vermissung Kenntnis erlangt, informiert den gesetzlichen Vertreter bzw. die Stelle, welche die Vermisstenmeldung abgegeben hat.
Die Polizei ist nicht dafür zuständig, den vermissten Jugendlichen nach München zurück zu bringen. In der Folge wird der junge Mensch an seinem Aufenthaltsort vom dort zuständigen Jugendamt in der Jugendhilfe untergebracht.
Nach Absprache zwischen den beteiligten Jugendämtern und nach Abwägung pädagogischer Gesichtspunkte wird der junge Mensch unter Beteiligung des gesetzlichen Vertreters durch die Jugendhilfe nach München zurückgeführt oder in der Kommune seines aktuellen Aufenthalts längerfristig untergebracht.
Frage 3:
Sind der Verwaltung Fälle bekannt, in denen sich o.g. Jugendliche, die aus der jeweiligen Einrichtung verschwunden sind, trotzdem in München auf- halten?
Antwort:
Dass junge Menschen, die in ihrer Jugendhilfeeinrichtung abgängig sind und vermisst gemeldet werden müssen, kurze Zeit später bei Freunden oder Verwandten in München auftauchen, kommt vor. In der Regel handelt es sich dabei um Abgängigkeiten, die aus jugendtypischen Konflikten mit zum Beispiel Betreuerinnen/Betreuern oder Regelverstößen in den Jugendhilfeeinrichtungen resultieren. Alternativ begründet sich die Abgängigkeit gelegentlich durch die fehlende Kenntnis bei den Jugendlichen undden Verwandten, dass der Aufenthalt bei Privatpersonen im Vorfeld mit den Betreuerinnen/Betreuern der Jugendhilfeeinrichtungen abgesprochen werden muss.
Nach Absprache mit dem gesetzlichen Vertreter werden die Jugendlichen nach der pädagogisch notwendigen Konfliktklärung in die Jugendhilfeeinrichtung zurückgebracht oder vorübergehend zum Aufenthalt bei den Privatpersonen beurlaubt.
Gelegentlich kommt es vor, dass sich abgängige Jugendliche bei ihren Betreuerinnen/Betreuern telefonisch oder über soziale Medien melden und mitteilen, dass sie zu Verwandten weitergereist wären. Die Glaubwürdigkeit der Aussage wird überprüft und der gesetzliche Vertreter entscheidet im Rahmen seiner Aufsichtspflicht über die weiteren Maßnahmen.
Frage 4:
Hat die Verwaltung Kenntnis, ob sich o.g. Jugendliche, die aus anderen Gemeinden verschwunden sind, in München aufhalten und zeitweise der Prostitution nachgehen?
Antwort:
Aktuell sind dem Stadtjugendamt München solche Fälle nicht bekannt. In sehr seltenen Fällen erhält das Stadtjugendamt München aus dem sozialen Umfeld eines/einer Jugendlichen die Kenntnis von dem Verdacht, dass ein junger Mensch direkt nach seiner/ihrer Einreise in die Prostitution gezwungen wurde oder unter dem Vorwand, in Deutschland eine Ausbildung machen zu können, nach Deutschland gelockt wurde.
Sollten das Stadtjugendamt München oder die Sozialbürgerhäuser Kenntnis von einem solchen Verdacht bekommen, wird den Hinweisen sofort nachgegangen. Dem jungen Menschen wird umgehend Beratung und
Schutz angeboten und er/sie wird in Obhut genommen, notfalls auch unter Einschaltung der Polizei oder des Familiengerichts. In allen dem Stadtjugendamt München bekannten Fällen werden die Beratungsstellen „MIMIKRY“ (bei jungen Frauen) und analog dazu „MARIKAS“ (bei jungen Männern) zur Unterstützung miteinbezogen. Bei dem Verdacht der sexuellen Ausbeutung aufgrund von Menschenhandel werden die Träger Jadwiga und Solwodi miteinbezogen sowie die Fachstelle IMMA e.V. „Wüstenrose“ wenn der Verdacht der Zwangsverheiratung vorliegt.
Frage 5:
Gibt es eine Strategie der Verwaltung oder kennt die Verwaltung Strategien anderer Kommunen, wie Jugendliche vor dem Verschwinden und mögli- cherweise vor einem Leben auf der Straße bewahrt werden können?Antwort:
Die Jugendhilfe ist sich der Themen sexuelle Gewalt, sexuelle Ausbeutung und Prostitution als Gefahrenquelle für junge Menschen, vor allem in prekären Lebenslagen, sehr bewusst. Aus diesem Grund werden diese Themen in den pädagogischen Konzepten der Jugendhilfeeinrichtungen und der pädagogischen Arbeit mit den jungen Menschen sowohl in der Ankommenssituation in München als auch in der Einzelfallhilfe während der Inobhutnahme und der anschließenden Hilfen zur Erziehung berücksichtigt. Darüber hinaus spielen diese Themen auch in der offenen Kinder- und Jugendarbeit sowie zum Beispiel bei Streetwork eine große Rolle.
Alle Beobachtungen im Einzelfall werden unter den verschiedenen Fachkräften ausgetauscht, fachlich bewertet und münden in koordinierte pädagogische Angebote.
Diese Vorgehensweise entspricht den üblichen fachlichen Standards und wird auch in anderen Kommunen, welche die Jugendhilfe für unbegleitete Minderjährige ernst nehmen, entsprechend umgesetzt.