Wirklich unvermeidlich? Fragen zum tödlich verlaufenden Sturz eines Blinden an der U-Bahnstation Josefsplatz
Anfrage Stadträte Richard Quaas, Johann Sauerer, Sebastian Schall und Manuel Pretzl (CSU-Fraktion) vom 9.1.2018
Antwort Bürgermeister Josef Schmid, Leiter des Referats für Arbeit und Wirtschaft:
In Ihrer Anfrage vom 9.1.2018 führten Sie als Begründung aus:
„Am 3. Januar meldete der Polizeibericht, dass der am 30. Dezember 2017 um 13.10 Uhr an der U-Bahnstation Josefsplatz ins U-Bahngleisbett gestürzte 41jährige Blinde Münchner seinen schweren Verletzungen erlegen sei, die ihm der einfahrende U-Bahnzug zugefügt hatte. Dieser schlimme Unfall reiht sich leider in eine Reihe ähnlicher Vorkommnisse bei U- und S-Bahn wie z.B. der Tod einer 63jährigen amerikanischen Touristin an der U-Bahn-Station Sendlinger Tor (https://www.tz.de/muenchen/stadt/altstadt-lehel-ort43327/frau-u-bahn-erfasst-toedlicher-unfall-sendlinger-5000140.html).
Bekanntlich ist es seit langem ein Anliegen der CSU, durch technische Maßnahmen derartige U-Bahntodesfälle weitestgehend zu verhindern. (Siehe auch unsere Anträge: Menschenleben retten – für eine elektronische Gleisbettüberwachung bei der Münchner U-Bahn, 08-14/A 02945 und Mehr Sicherheit auf U-Bahnsteigen durch konstruktive Maßnahmen; Fahrerlose U-Bahn – endlich eine Chance für die Nacht-U-Bahn, 08-14/A 00462)
Bedauerlicherweise hat der 2012 von der MVG/SWM begonnene Test mit drei verschiedenen Systemen zur elektronischen Gleisbettüberwachung (Laserscanner, Radar, Kameraüberwachung) nach fünf Jahren zu dem sehr unbefriedigenden Ergebnis geführt, dass keines dieser Systeme weiterverfolgt werden solle.
Die schlimmen Todesfälle bei der U-Bahn aber bleiben. Jede Maßnahme, die geeignet ist, Menschenleben zu retten, muss auf der Agenda der Stadt München bleiben.“
Zu den im Einzelnen gestellten Fragen kann ich Ihnen Folgendes mitteilen:
Frage 1:
Welche Normen muss aktuell ein Blindenleitstreifen entlang der Bahnsteigkante erfüllen, damit er über einen Blindenstock gut erkennbar ist?
Antwort der SWM/MVG:
Bodenindikatoren entlang von Bahnsteigkanten sollen gemäß der seit 2011 eingeführten DIN 32984 in einem Abstand von 60 cm als 30 cm breiter Leitstreifen mit trapezförmigem Querschnitt (breite Täler, schmale Rippen) ausgeführt werden. Mindest- und Höchstmaße für Rippenbreite, Talbreite und Rippenhöhe, getrennt für Innen- und Außenbereiche wurden in der DIN 32984 so gewählt, dass sie zum einen mit einem Blindenstock gut zu ertasten und zum anderen von Rollstuhlfahrern noch gut zu befahren sind.
Allerdings sind auch die Festlegungen in der aktuellen Fassung der DIN bei den Behindertenverbänden und Betroffenen nicht unumstritten. Bei den Empfehlungen zur Führung der Leitlinie in einem Abstand von 60 cm entlang der Bahnsteigkante wird oft bemängelt, dass der Blinde dadurch explizit dazu angehalten ist, sich sehr nahe an der Bahnsteigkante entlang zu bewegen. Die TSI PRM (EU-Verordnung über die Interoperabilität des Eisenbahnsystems bezüglich der Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderung, eingeführt im November 2014) lässt neben der in der DIN 32984 verankerten Festlegung zu Bodenindikatoren im Bereich von Bahnsteigen auch folgende Variante zu: Neben einer visuellen, kontrastreichen Markierung des Gefahrenbereiches nahe der Bahnsteigkante wird als Anzeige der Gehrichtung der Leitstreifen auf der sicheren Seite des Bahnsteiges verlegt. Die mit der TSI PRM aufgezeigte Variante zur Führung blinder und stark seheingeschränkter Personen am Bahnsteig scheint wohl die bislang sicherste Methode, Gleisstürze zu vermeiden. Es ist davon auszugehen, dass diese Alternative zur Verlegung von Bodenindikatoren an Bahnsteigen bei einer weiteren Novellierung der DIN 32984 Berücksichtigung finden wird.
Anfang April fand auf Einladung des bayerischen Blinden- uns Sehbehindertenbundes ein Termin mit dem Betriebsleiter sowie weiteren Vertretern der Stadtwerke München, der Regierung von Oberbayern, dem Behindertenbeirat der LH München und der bayerischen Behindertenbeauftragten statt. Mit dem Ziel, die Sicherheit an U-Bahnsteigen weiter zu verbessern, wurden bei diesem Termin die Themenfelder Bahnsteigtüren und Nachrüstung von Bodenindikatoren besprochen. Zur Nachrüstung von DIN-konformen Bodenindikatoren haben die Stadtwerke München einen Testbetrieb in Aussicht gestellt. Ähnlich dem Vorgehen, wie bei der partiellen Bahnsteigerhöhung, sollen an zwei ausgewählten U-Bahnhöfen auf den bestehenden Bodenbelag Bodenindikatoren entsprechend der oben beschriebenen Variante im Rahmen der heute gültigen DIN 32984 aufgebracht werden. Ein entsprechender Terminplan für diesen Testbetrieb (bei dem auch die Technische Aufsichtsbehörde eingebunden werden muss) wurde seitensder Stadtwerke bereits ausgearbeitet; hierzu stehen wir mit dem BBSB im Gesprächskontakt. Eine Stadtratsvorlage im RAW-Ausschuss zur Durchführung dieses Testbetriebes ist für diesen Herbst geplant.
Frage 2:
Gibt es in München U-Bahnsteige, die noch nicht über einen normgerechten Blindenleitstreifen verfügen?
Antwort der SWM/MVG:
Wie vorab dargestellt, wurden die Blindenleitstreifen entlang der Bahnsteigkante immer gemäß dem Stand der Technik ausgeführt, der zum Ausbauzeitpunkt des U-Bahnhofes üblich war. U-Bahnhöfe, die bis in die frühen 90er Jahre entstanden sind, wurden ursprünglich ohne jegliche Form von Bodenindikatoren/Leitstreifen erstellt. Hier wurden seitens der Stadtwerke München in Abstimmung mit dem Blindenbund taktil erfassbare Rillenbänder durch Einfräsen in den bestehenden Bodenbelag nachgerüstet. Bahnhöfe, die ab Mitte der 90er Jahre bis etwa 2006 entstanden sind, verfügen über Bodenindikatoren entsprechend der ersten Fassung der DIN 32984. U-Bahnhöfe, die danach entstanden oder nachgerüstet wurden, verfügen bereits neben dem bis dahin üblichen mit einem Rillen- bzw. Sinusprofil ausgeführten Leitstreifen entlang der Bahnsteigkante über Aufmerksamkeitsfelder und Abzweigungen zur Anzeige der Bahnsteigzugänge. Über Bodenindikatoren entlang des Bahnsteiges gemäß der aktuell gültigen Fassung der DIN 32984 verfügt lediglich der U-Bahnhof Kieferngarten. Er ist der einzige Bahnhof, der nach 2011 im Bereich der Bahnsteige entsprechend umfangreich saniert wurde, so dass eine Nachrüstung der Bodenindikatoren zur Herstellung der Barrierefreiheit nach aktueller Norm angezeigt war.
Frage 3:
Verfügt die U-Bahnstation Josefsplatz über einen normgerechten Blindenleitstreifen?
Antwort der SWM/MVG:
Der U-Bahnhof Josefsplatz gehört zu den 57 U-Bahnhöfen, die ursprünglich ohne Leitstreifen/Bodenindikatoren entlang der Bahnsteigkante ausgeführt wurden und bei denen ein taktil erfassbares Rillenband in Abstimmung mit dem Blindenbund bis 1996 nachgerüstet wurde.
Frage 4:
Gibt es Kameraaufzeichnungen bei der U-Bahnstation Josefsplatz, die den Sturz des MVG-Fahrgastes zumindest teilweise dokumentieren?
Antwort der SWM/MVG:
Ja.
Frage 5:
Gibt es von früheren Stürzen ins U-Bahngleisbett noch Aufzeichnungen?
Antwort der SWM/MVG:
Ja.
Frage 6:
Spricht etwas dagegen, diese Aufzeichnungen einschlägig tätigen Münchner Hochschuleinrichtungen zur Verfügung zu stellen mit der Zielsetzung, Stürze ins Gleisbett durch Kamerabildverarbeitung sicher zu detektieren und damit wertvolle Sekunden zu gewinnen, um U-Bahnfahrer zu warnen und im Idealfall den Zusammenstoß zu verhindern?
Antwort der SWM/MVG:
Videoaufzeichnungen aus den U-Bahnhöfen dürfen die SWM leider aufgrund der geltenden datenschutzrechtlichen Vorgaben nicht an Dritte übermitteln. Davon ausgenommen ist lediglich die Übermittlung an Polizei und Justiz, wenn jeweils konkrete Ermittlungen zu einem Sachverhalt aufgenommen werden. Gerne unterstützen wir Münchner Hochschuleinrichtungen bei einschlägigen Forschungsvorhaben in anderer geeigneter Form.
Frage 7:
Wurden bei den o. e. Pilotversuchen 2012 bis 2016 am Rotkreuzplatz und an der Studentenstadt externe Fachleute insbesondere aus dem Hochschulbereich oder Technischen Überwachungsvereinen mit der Bewertung des Versuchdesigns und der Versuchsergebnisse beauftragt?
Antwort der SWM/MVG:
Bei den Versuchen an den Bahnhöfen Rotkreuzplatz und Studentenstadt wurde die Analyse der Detektionsanalyse zusätzlich zur MVG durch die beteiligten Firmen selbst durchgeführt. Hierbei waren z.B. die TU Dresden Verkehrstechnik sowie die Fa. Thales mit eigenen Systemspezialisten beteiligt.
Frage 8:
In welcher Weise können die internen Versuchsberichte der o. e. Pilotversuche der interessierten Öffentlichkeit wie z.B. Blindenorganisationen zur Verfügung gestellt werden?
Antwort der SWM/MVG:
Der Bericht wurde bereits im Juni 2017 in öffentlicher Sitzung im RAW-Ausschuss behandelt. Unter folgendem Link ist die Sitzungsvorlage veröffentlicht:
https://www-ris-muenchen.de/RII/RII/ris_vorlagen_dokumente.jsp?risid=4444889.
Der Behindertenbeirat teilte in seiner Stellungnahme vom 3.4.2018 Folgendes mit:
„Der Behindertenbeirat hat sich dafür ausgesprochen, die Bodenindikatoren an allen Bahnsteigen umgehend nachzubessern und perspektivisch das Bahnsteigtürsystem einzuführen. Die SWM/MVG fertigt derzeit eine Machbarkeitsstudie zur Einführung von Bahnsteigtürsystemen bei der Münchner U-Bahn an. Die Ergebnisse werden dem Stadtrat vorgestellt (Sitzungsvorlage Nr. 14-20/V 08708). Der Facharbeitskreis (FAK) schlägt daher vor, umgehend einen Projektbeirat ‚Bahnsteigtüren für die Münchner U-Bahn‘ einzurichten, der mit dem Design und der Begleitung der Machbarkeitsstudie befasst wird. Die Machbarkeitsstudie sollte auf jeden Fall vollumfänglich im Internet, z.B. Stadtrats-RIS, veröffentlicht werden. Diesem Projektbeirat sollten Vertreter des Stadtrats, technische Fachleute (z.B. von TU, HM, TÜV), aber auch Vertreter des Behindertenbeirats – FAK Mobilität und von Blindenorganisationen angehören.
Der FAK ist abschließend der Auffassung, dass bei hoch frequentierten U-Bahnsystemen der ungehinderte Zugang ins Gleisbett sicherheitstechnisch genauso anachronistisch ist, wie es Personenaufzüge ohne Aufzugsschachttüren wären.“
Bezüglich der Forderung des Behindertenbeirats, zur Begleitung der Machbarkeitsstudie zu den Bahnsteigtüren einen Projektbeirat einzurichten, teilte die MVG mit, dass die Beteiligung und Information über den bereits bestehenden monatlichen Austausch zwischen der MVG-Beauftragten für mobilitätseingeschränkte Fahrgäste, Frau Sauer, und dem Facharbeitskreis Mobilität erfolgen kann. Ein besonderer Projektbeirat sei dann nicht mehr erforderlich. Dieser Vorgehensweise hat der Behindertenbeirat per Mail am 16.8.2018 zugestimmt.
Ich hoffe, dass ich Ihre Fragen hiermit zufriedenstellend beantworten konnte. Weiterhin sind Bahnsteigtüren ein wichtiges und richtiges Mittel, um schwere Unfälle zu verhindern, so dass ich sie als politisches Ziel beibehalten werde.