Abgabepflicht von Jugendlichen in der Vollzeitpflege überdenken?
Anfrage Stadträte Marian Offman und Richard Quaas (CSU-Fraktion) vom 3.1.2019
Antwort Sozialreferentin Dorothee Schiwy:
In Ihrer Anfrage vom 3.1.2019 führen Sie Folgendes aus:
„Das Jugendamt zahlt an Pflegeeltern und Pflegeeinrichtungen gemäß SGB VIII für die Vollzeitpflege für Kinder und Jugendliche einen Pauschalbetrag für den Sachaufwand und die Erziehungskosten. Nach den §§ 33/39 SGB VIII bewegt sich die Zahlung in Abhängigkeit des Alters von monatlich etwa 650 Euro bis 900 Euro. Für Kinder wird weniger bezahlt, als für Jugendliche.
In der stationären Jugendhilfe befinden sich in München derzeit etwa 1.000 Kinder und Jugendliche.
Nach § 94 (6) SGB VIII müssen Kinder und Jugendliche 75% von Verdiensten aus Nebenjobs an das Jugendamt weiterleiten. Dieses verletzt möglicherweise im Vergleich zu Kindern und Jugendlichen, welche nicht auf die stationäre Jugendhilfe und Pflegeeltern angewiesen sind, den Gleichheitsgrundsatz.
Diese Zwangsabgabe wird von vielen als völlig inakzeptabel und hinsichtlich von Erziehungszielen als kontraproduktiv und außerdem diskriminierend bewertet.
Allerdings wird im Gesetz ausgeführt: ‚Es kann ein geringerer Kostenbeitrag erhoben oder gänzlich von der Erhebung eines Kostenbeitrags abgesehen werden, wenn das Einkommen aus einer Tätigkeit stammt, die dem Zweck der Leistung dient. Dies gilt insbesondere, wenn es sich um eine Tätigkeit im sozialen oder kulturellen Bereich handelt, bei der nicht die Erwerbstätigkeit, sondern das soziale und kulturelle Engagement im Vordergrund stehen.‘
Deshalb stellt sich für die Landeshauptstadt die grundsätzliche Frage, inwieweit das Jugendamt einen geringeren Kostenbeitrag erhebt oder dar- auf verzichtet.“
Zu Ihrer Anfrage vom 3.1.2019 nimmt das Sozialreferat im Auftrag des Herrn Oberbürgermeisters im Einzelnen wie folgt Stellung:
Vorab möchten wir mitteilen, dass sich die monatlichen Pflegegelder für Vollzeitpflege zwischen 905 Euro und 1.143 Euro bewegen. Besteht ein erhöhter Erziehungs- oder Betreuungsbedarf des jungen Menschen, so beträgt das Pflegegeld bis zu 2.043 Euro monatlich.Vorbemerkung:
In Ihrer Anfrage beziehen Sie sich ausdrücklich auf Verdienste aus Nebenjobs.
Für über die Landeshauptstadt stationär untergebrachte junge Menschen (sowohl in Einrichtungen der Jugendhilfe als auch in Vollzeitpflege) wurde die Regelung getroffen, dass Einkommen aus Neben- oder Ferienjobs in der Regel nicht als Kostenbeitrag eingesetzt werden muss, sondern den jungen Menschen verbleibt.
Voraussetzung hierfür ist, dass es sich um eine Tätigkeit handelt, die neben einer regulären Berufs- oder Schulausbildung ausgeübt wird.
Dadurch wird honoriert, dass sich der junge Mensch über seine grundsätzliche Verpflichtung, eine Ausbildung zu absolvieren, hinaus engagiert und zum Beispiel neben der Schul- oder Berufsausbildung am Wochenende stundenweise einer Erwerbstätigkeit nachgeht.
Bei dieser zusätzlichen Tätigkeit muss es sich nicht um eine Tätigkeit im sozialen oder kulturellen Bereich handeln (z.B. Zeitungsaustragen).
Handelt es sich bei der Haupttätigkeit um eine Tätigkeit im sozialen oder kulturellen Bereich wie z.B. ehrenamtliche Tätigkeiten oder eine Tätigkeit im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes oder des freiwilligen sozialen Jahres, so sind die Aufwandsentschädigungen in der Regel ebenfalls nicht als Kostenbeitrag einzusetzen.
Einkommen aus der regulären Berufsausbildung oder einer regulären Erwerbstätigkeit sind hingegen gemäß § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII grundsätzlich zu 75% als Kostenbeitrag einzusetzen, soweit kein Ausnahmetatbestand nach Satz 2 der Vorschrift vorliegt. Liegt kein solcher Ausnahmetatbestand vor und stellt die Forderung auch keine besondere Härte im Sinne des § 92 Abs. 5 SGB VIII dar, kann von der Heranziehung aus diesen Einkommen nicht abgesehen werden.
Frage 1:
Wie viele Kinder und Jugendliche sind in München derzeit in der Vollzeitpflege bei Pflegeeltern und in städtischen Einrichtungen und Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege? Wie hoch ist der Anteil von minderjährigen Geflüchteten?
Antwort:
Derzeit werden 539 Kinder und Jugendliche in Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII betreut. Hiervon sind 11 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Hinzu kommen 51 junge Erwachsene in Vollzeitpflege nach § 41 i.V.m. § 33 SGB VIII (davon 6 unbegleitete Flüchtlinge).In städtischen Einrichtungen und Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege werden derzeit 1.307 Kinder und Jugendliche im Rahmen von stationären Jugendhilfemaßnahmen betreut (davon 222 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge).
1.287 junge Erwachsene erhalten derzeit stationäre Jugendhilfeleistungen (davon 782 unbegleitete Flüchtlinge).
Eine Unterscheidung der Fälle nach städtischen Einrichtungen und Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege ist nicht möglich.
Frage 2:
Wie hoch ist die Anzahl der Vorgänge in 2017/18, bei denen Kinder und Jugendliche in der Vollzeitpflege 75% von Einkünften an das Jugendamt zahlen mussten?
Antwort:
Hierüber liegen keine Zahlen vor.
Frage 3:
Bei welcher Zahl von Vorgängen in 2017/2018 wurde analog § 94 (6) SGB VIII der Kostenbeitrag reduziert oder nicht erhoben. Gibt es Fälle, bei denen es juristisch Verzicht oder Reduzierung nicht möglich ist?
Antwort:
Es liegen keine Zahlen vor, in wie vielen Fällen ein Kostenbeitrag reduziert oder nicht erhoben wurde.
Wie in der Vorbemerkung dargestellt ist das Einkommen aus der Haupttätigkeit grundsätzlich zu 75% als Kostenbeitrag einzusetzen. Einkommen aus Ferien- und Nebenjobs bleiben hingegen in der Regel anrechnungsfrei.
Frage 4:
Gibt es Vorgänge, bei welchen der Kostenbeitrag mangels Kenntnis nicht entrichtet wurde?
Antwort:
Die jungen Menschen und ihre gesetzlichen Vertreter werden über ihre Kostenbeitragspflicht aufgeklärt. Dies geschieht sowohl im Rahmen des Hilfeplanverfahrens als auch durch ein entsprechendes Anschreiben der Wirtschaftlichen Jugendhilfe. Fälle, in denen mangels Kenntnis des jungen Menschen der Kostenbeitrag nicht entrichtet wurde, sind nicht bekannt.
Frage 5:
Sollten vom Jugendamt Kostenbeiträge erhoben worden sein, besteht die Bereitschaft – so keine gravierenden gesetzlichen Einwendungen – grund- sätzlich auf die Erhebung zu verzichten?
Antwort:
Wie eingangs ausgeführt, besteht für über die Landeshauptstadt München stationär untergebrachte junge Menschen die Regelung, dass Einkommen aus Neben- oder Ferienjobs in der Regel nicht als Kostenbeitrag eingesetzt werden muss, sondern den jungen Menschen verbleibt. Gleiches gilt für Einkommen aus einer Tätigkeit im sozialen oder kulturellen Bereich.
Einkommen aus der regulären Berufsausbildung oder einer regulären Erwerbstätigkeit sind hingegen grundsätzlich zu 75% als Kostenbeitrag einzusetzen. Um hier ebenfalls von der Forderung eines Kostenbeitrags absehen zu können, wäre eine Gesetzesänderung erforderlich (vgl. hierzu auch Antwort zu Frage 6.)
Frage 6:
Besteht seitens der Stadtspitze Bereitschaft, in den Städtetagen auf eine Streichung des § 94 Abs. 6 hinzuwirken?
Antwort:
Auf eine generelle Streichung der Kostenbeitragspflicht junger Menschen in stationären Jugendhilfeeinrichtungen oder Pflegefamilien sollte u.E. nicht hingewirkt werden. Dem jungen Menschen, dessen gesamter Lebensunterhalt von der Jugendhilfe getragen wird, ein u.U. hohes Einkommen komplett zur freien Verfügung zu belassen, würde wiederum eine Ungleichbehandlung mit jungen Menschen außerhalb der Jugendhilfe, die ihr Einkommen in der Regel zumindest teilweise für ihren Lebensunterhalt einsetzen müssen, darstellen.
Bereits für 2018 war jedoch eine Änderung des § 94 Abs. 6 SGB VIII geplant, die eine Reduzierung des Kostenbeitrags auf 50% und bestimmte Freibeträge (monatlich 150 Euro aus Ausbildungsvergütungen, Ferienjobs, Praktika oder ehrenamtlichen Tätigkeiten) vorsah. Die geplante Gesetzesänderung war von uns sehr begrüßt worden, wurde aber letztendlich bislang leider nicht umgesetzt. Eine Änderung der Heranziehungsvorschriften ist nach unserer Kenntnis nun für 2020 geplant.