In einem offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz und Klara Geywitz, Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, bittet Oberbürgermeister Dieter Reiter diese, sich für eine Änderung der Regelungen über die gesetzlichen Vorkaufsrechte in Erhaltungssatzungsgebieten einzusetzen: „Der Münchner Stadtrat hat mich mit Beschluss vom 15.12.2021 beauftragt, Sie um eine schnelle Änderung von Regelungen über die gesetzlichen Vorkaufsrechte in Erhaltungssatzungsgebieten (sog. ‚Milieuschutzsatzungsgebieten‘) im Baugesetzbuch zu bitten. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 09.11.2021 (Az.: 4 C 1.20) hat diesbezüglich bundesweit für Aufsehen und Besorgnis gesorgt. Es führt im Ergebnis dazu, dass die Ausübung dieser Vorkaufsrechte bundesweit und insbesondere in den großen Anwenderstädten (neben München u. a. Berlin, Hamburg, Köln, Leipzig, Frankfurt a. M.) mit wenigen Ausnahmen kaum mehr möglich sein wird. Dies hat erhebliche Folgen für die angestammte Wohnbevölkerung in diesen Gebieten.
1. Hintergrund
Seit 1987 wurden von der Landeshauptstadt München zahlreiche Erhaltungssatzungen erlassen, von denen derzeit 36 bestehen. In deren Umgriff leben ca. 335.600 Münchner*innen in 192.000 Wohnungen. Ziel dieser Satzungen ist es, die angestammte Wohnbevölkerung im Gebiet zu erhalten und Verdrängungseffekten durch den anhaltenden Druck auf dem Münchner Wohnungsmarkt entgegenzuwirken. Die fortwährende Verdrängung führt mittelfristig zu einseitigen Bevölkerungsstrukturen in den Stadtvierteln, die den sozialen Zusammenhalt in der Stadt gefährden. Dies zieht unerwünschte Folgelasten nach sich.
Es stehen zwei rechtliche Instrumente zur Umsetzung der genannten Satzungsziele zur Verfügung: (i) ein Genehmigungsvorbehalt, der Modernisierungsbeschränkungen und Aufteilungsverbote bei baulichen Änderungen bzw. Nutzungsänderungen vorsieht, sowie (ii) das gesetzliche Vorkaufsrecht anlässlich des Verkaufs eines Grundstücks. Als deutlich effektiveres, da unmittelbar wirkendes Instrument hat sich das Vorkaufsrecht erwiesen. Der bezweckte Erhalt der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung ist in den Gebieten maßgeblich dadurch gefährdet, dass die Wohnungen aufgrund ihrer Lage das gesteigerte Interesse finanzkräftiger Mieter*innen finden und dadurch ein Verdrängungsprozess einkommensschwächerer Mieter*innen stattfindet. Die damit einhergehende Veränderung der Bevölkerungsstruktur lässt sich entscheidend dadurch verhindern, dass die Miethöhe begrenzt wird und/oder der Kreis der berechtigten Mieter*innen an die Einkommensverhältnisse gekoppelt wird. Die Münchner Vorkaufsrechtspraxis sah bis zur o.g. Entscheidung des BVerwG – ausdrücklich legitimiert durch die lokale, verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung – seit Mitte 2018 die Möglichkeit zur Entgegennahme von Verpflichtungserklärungen der Käufer*innen mit entsprechenden Bindungen zur Abwendung der Ausübung des Vorkaufsrechts vor. Dies ermöglichte stellenweise im Erhaltungssatzungsgebiet verdrängten Mieter*innen, im Vorkaufsobjekt Wohnraum zu angemessenen Bedingungen zu erhalten bzw. zu finden und nicht vollständig aus dem Gebiet verdrängt zu werden. Zudem werden Bestandsmieter*innen im Objekt, die unterhalb bestimmter Einkommensgrenzen liegen, durch eine Begrenzung der Mietzinsanpassung geschützt.
Von Mitte 2018 bis heute konnten durch Abgabe von Verpflichtungserklärungen der Käufer*innen und durch Vorkaufsrechtsausübungen insgesamt 1.345 Wohneinheiten insbesondere durch Mietpreis- und Belegungsbindungen geschützt werden.
2. Urteil des BVerwG vom 9.11.2021
In der o.g. Entscheidung des BVerwG ging es im Kern um die Auslegung des Wortlauts eines Tatbestands, der unter bestimmten Bedingungen die Ausübung des gesetzlichen Vorkaufsrechts ausschließen kann (sog. Ausschlusstatbestand). Die bisher herrschende Ansicht in Rechtsprechung und Literatur hatte diesen nicht als Hindernis für die Ausübung des Vorkaufsrechts in Erhaltungssatzungsgebieten angesehen. Begründet wurde dies u. a. mit einer gesetzgeberischen Konzeption des Vorkaufsrechts in Erhaltungssatzungsgebieten, die im Normtext nur unvollkommen zum Ausdruck gekommen und insoweit korrekturbedürftig sei. Dem ist das BVerwG nun entgegentreten und lehnt diese Interpretation ab:
„Eine solche [redaktionelle Anmerkung: berichtigende Interpretation des Gesetzeswortlauts] vor dem Hintergrund neuer Entwicklungen und drängender Probleme auf dem Wohnungsmarkt zu schaffen, ist Sache des Gesetzgebers.“
Die in dem Urteil zum Ausdruck gekommene Rechtsmeinung hat zur
Folge, dass der Ausschlusstatbestand künftig in der weit überwiegenden Zahl der Fälle der Ausübung des Vorkaufsrechts in Erhaltungssatzungsgebieten (und der Entgegennahme von Verpflichtungserklärungen der Käufer*innen mit entsprechenden Bindungen) entgegensteht. Das BVerwG gesteht selbst ein, dass dies zu einer Einengung des Vorkaufsrechts führt.
3. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf
Die o.g. Entscheidung des BVerwG löst daher aus Sicht der Landeshauptstadt München dringenden gesetzgeberischen Handlungsbedarf aus. Soweit mir bekannt, sind auch die anderen Anwenderstädte dieser Auffassung. Die Mieter*innen in den Erhaltungssatzungsgebieten sind durch die mittlerweile bekannt gewordenen Auswirkungen der Entscheidung erheblich verunsichert.
Die 138. Bauministerkonferenz in Erfurt hat am 19.11.2021 mit breiter Mehrheit beschlossen, eine Gesetzesänderung zügig in die Wege zu leiten und das Instrument des Vorkaufsrechts in Erhaltungssatzungsgebieten „schnellstmöglich nachhaltig zu sichern und rechtssicher zu machen“. Es gibt hierzu auch einen Gesetzesantrag des Landes Berlin vom 23.11.2021, der nach meiner Kenntnis in Kürze im Bundesrat beraten werden soll. Der Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien sieht ebenfalls die Prüfung eines gesetzgeberischen Handlungsbedarfs aus dieser Entscheidung vor. Ich bitte Sie, sich persönlich dafür einzusetzen, dass die notwendigen gesetzlichen Änderungen im Baugesetzbuch so zeitnah wie möglich vorgenommen werden und auf die erheblich nachteiligen Auswirkungen der Entscheidung des BVerwG für die Vorkaufsrechtspraxis hinzuweisen. Die Änderungen sollten angesichts der Dringlichkeit aus meiner Sicht nicht von weiteren möglichen Änderungen an anderen Stellen im Baugesetzbuch abhängig gemacht werden, um den Prozess nicht zu verzögern. Ziel dieser Änderung der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen sollte sein, dass die Anwenderstädte künftig bei in Erhaltungssatzungsgebieten liegenden Grundstücken vollumfänglich von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch machen können, wenn eine nicht erhaltungssatzungskonforme Nutzung durch den bzw. die Käufer*in und damit eine Verdrängung der angestammten Wohnbevölkerung zu befürchten ist. Zudem sollte eine Klarstellung im Baugesetzbuch vorgenommen werden, dass der bzw. die Käufer*in die Ausübung des Vorkaufsrechts in Erhaltungssatzungsgebieten nur abwenden kann, wenn er bzw. sie Bindungen (z. B. in Form von Unterlassungspflichten) eingeht, die die Wahrung der Ziele und Zwecke der Erhaltungssatzung auch für die Zukunft sicherstellen. Diese sollte auch beinhalten, dass diese Bindungen sich ausschließlich durch das Ziel der Erhaltungssatzung definieren und nicht durch die Instrumente des Genehmigungsvorbehalts (Modernisierungsbeschränkung, Aufteilungsverbot) inhaltlich limitiert werden.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, eine gesetzgeberische Reaktion auf die Entscheidung des BVerwG vom 09.11.2021 ist für die Kommunen eminent wichtig und dringlich. Für einen Meinungsaustausch und Abstimmungen stehe ich selbstverständlich gerne zur Verfügung.“